Urteil des SozG Berlin vom 15.03.2017

SozG Berlin: besondere härte, amt, wohnung, nebentätigkeit, notlage, ausbildung, familie, härtefall, leistungsausschluss, universität

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Gericht:
SG Berlin 18.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 18 AS 9082/06 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 5 S 1 SGB 2, § 7 Abs 5 S
2 SGB 2, § 51 Abs 2 BAföG
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für
Studenten - besonderer Härtefall - Nebentätigkeit -
darlehensweise Übergangsfinanzierung - Abtretung der
Leistungen nach dem BAföG
Leitsatz
1) Der Zweck des § 7 Abs 5 SGB 2, eine versteckte Ausbildungsförderung im Wege der
Grundsicherung für Arbeitsuchende zu verhindern, erfordert nicht, einem Studenten eine
darlehensweise Übergangsfinanzierung bis zur voraussichtlichen Bewilligung der BAföG-
Leistungen zu verweigern. Den öffentlichen Interessen kann dadurch hinreichend Rechnung
getragen werden, dass der Antragsteller verpflichtet wird, seine ihm möglicherweise in dem
Zeitraum der darlehensweisen Gewährung zustehenden Ansprüche auf Leistungen nach dem
BAfÖG an den Antragsgegner abzutreten.
2) Die Vorenthaltung des für die Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlichen
Arbeitslosengeldes II begründet jedenfalls dann eine besondere Härte im Sinne von § 7 Abs 5
S 2 SGB 2, wenn mit einer kurzfristigen Entscheidung durch das BAföG-Amt wegen der
notwendigen Ermittlungen des Aufenthaltsortes und der wirtschaftlichen Verhältnisse des
leiblichen Vaters des Antragstellers nicht gerechnet werden kann und Vorauszahlungen auf
die zu erwartenden BAföG-Leistungen (§ 51 Abs 2 BAföG) zur Deckung des Bedarfes des
Antragstellers nicht ausreichen.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller
für die Zeit vom 6. Oktober 2006 bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf
Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz darlehensweise Leistungen
zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe unter der Voraussetzung zu
gewähren, dass der Antragsteller dem Antragsgegner in dieser Höhe einen ihm für den
Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zur Entscheidung über seinen Antrag auf Leistungen
nach Bundesausbildungsförderungsgesetz möglicherweise zustehenden Anspruch auf
Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz unwiderruflich abtritt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu
erstatten.
Gründe
I.
Der am 28. April 1987 geborene Antragsteller ist zu 100 % schwerbehindert und ständig
auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Bis einschließlich September 2006 stand
er im laufenden Leistungsbezug. Im August 2006 zog der Antragsteller auf der
Grundlage einer Kostenübernahmeerklärung des Antragsgegners in eine 70,98 qm
große, behindertengerechte Wohnung mit einer Kaltmiete von 356,32 Euro und einer
Gesamtmiete von 557,42 Euro, in der er von seinem ebenfalls dort lebenden Stiefvater
betreut wird. Der Rest der Familie des Antragstellers wohnt in einer Wohnung auf
derselben Etage.
Mit Schreiben vom 10. August 2006 ließ die Freie Universität Berlin den Antragsteller
zum Wintersemester 2006/2007 zum 1. Fachsemester im Studiengang
Politikwissenschaft zu. Mit Bescheid vom 7. September 2006 hob der Antragsgegner die
Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
mit Wirkung vom 1. Oktober 2006 auf, weil durch die Aufnahme des Studiums ein
Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eingetreten sei. Hiergegen legte der
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Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eingetreten sei. Hiergegen legte der
Antragsteller Widerspruch ein, den er damit begründete, dass seinem Antrag auf
Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) noch nicht
stattgegeben worden und er deshalb mittellos sei. Mit Bescheid vom 11. Oktober 2006
wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück, weil das Studium eine im Rahmen des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes grundsätzlich förderungsfähige Ausbildung sei.
Ein besonderer Härtefall, der eine darlehensweise Gewährung von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts rechtfertige, liege nicht vor. Klage gegen den
Widerspruchsbescheid hat der Antragsgegner noch nicht erhoben.
Im einstweiligen Anordnungsverfahren trägt der Antragsteller ergänzend vor, dass er
den Antrag auf Leistungen nach dem BAföG am 19. September 2006 gestellt habe. Am
24. Oktober 2006 habe ihm das BAföG-Amt mitgeteilt, dass sich die Entscheidung über
den Antrag um Monate verzögern könne, weil sein nicht mehr in Deutschland lebender
leiblicher Vater derzeit nicht auffindbar sei.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 1. Oktober 2006 fortlaufend zu
gewähren.
Der Antragsgegner beantragt die Zurückweisung des Antrags. Gründe für eine
Versagung von BAföG-Leistungen seien nicht ersichtlich. Der Antragsteller sei gehalten,
sich vom BAföG-Amt Vorschüsse gewähren zu lassen.
II.
Der nach § 86b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang begründet. Nach § 86 a Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur
Regelung eines vorläufigen Zustands zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu muss der Antragsteller gemäß
§ 86 b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung (ZPO) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund
glaubhaft machen.
Für die Zeit vor der Stellung des Antrags bei Gericht am 6. Oktober 2006 hat der
Antragsteller einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Bei Leistungen, die für in
der – auch kürzeren –Vergangenheit liegende Zeiträume begehrt werden, fehlt es
grundsätzlich an einer gegenwärtigen wesentlichen Notlage. Dass vorliegend etwas
anderes gelten müsste, ist vom Antragsteller nicht vorgetragen und auch sonst nicht
ersichtlich.
Für die Zeit ab der Stellung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der
Antragsteller hingegen einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Bei Abwägung der
Interessen des Antragstellers mit den öffentlichen Interessen ist es dem Antragsteller
nicht zuzumuten, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der Antragsteller ist
aktuell hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II. Er hat zur Zeit weder ein
Einkommen noch Vermögen, aus dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
Leistungen nach dem BAföG erhält der Antragsteller bislang ebenfalls noch nicht.
Dem Antragsteller steht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kein
Anordnungsanspruch auf die Fortzahlung des Arbeitslosengelds II als endgültige
Zuwendung zu. Der ursprünglich bestehende Anspruch des Antragstellers auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist durch die Aufnahme seines Studiums
mit Beginn des Wintersemesters 2006/07 gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II erloschen. Bei
dem (Erst-) Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin handelt es
sich um eine nach dem BAföG grundsätzlich förderungsfähige Ausbildung.
Es ist aber nicht auszuschließen, dass der Antragsteller jedenfalls bis zur Entscheidung
über seinen BAföG-Antrag einen Anspruch auf eine darlehensweise Weitergewährung der
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hat. Denn es liegen gewichtige
Anhaltspunkte dafür vor, dass bei dem Antragsteller die Voraussetzungen eines
besonderen Härtefalls im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II gegeben sind.
Ein besonderer Härtefall liegt vor, wenn die Folgen eines Anspruchsausschlusses über
das Maß hinausgehen, das regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum
Lebensunterhalt für eine Ausbildung verbunden und vom Gesetzgeber in Kauf
genommen worden ist (vgl. die Rechtsprechung des BVerwG zu § 26 Satz 2 BSHG: Urteil
vom 4. Oktober 1993 – 5 C 16.91-, BVerwGE 94, 224, siehe hierzu auch SG Berlin,
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vom 4. Oktober 1993 – 5 C 16.91-, BVerwGE 94, 224, siehe hierzu auch SG Berlin,
Beschluss vom 23. Januar 2006 –S 104 AS 72/06 ER -). Dass derartige übermäßige, auch
nach dem Gesetzeszweck nicht mehr hinnehmbare Folgen eintreten, ist vorliegend nicht
auszuschließen.
Der Antragsteller befindet sich in einer aktuellen wirtschaftlichen Notlage. Die Leistung
des Arbeitslosengelds II wurde eingestellt und Zahlungen nach dem BAföG noch nicht
aufgenommen. Zwar ist nach Aktenlage kein Grund erkennbar, aus dem dem
Antragsteller die Gewährung von BAföG-Leistungen grundsätzlich verwehrt werden
könnte. Die Rückfrage des Gerichts beim BAföG-Amt hat aber bestätigt, dass das
BAföG-Amt über den Antrag des Antragstellers noch nicht entschieden hat und mit einer
kurzfristigen Entscheidung wegen der notwendigen Ermittlungen des Aufenthaltsortes
und der wirtschaftlichen Verhältnisse des leiblichen Vaters des Antragstellers nicht
gerechnet werden kann.
Die wirtschaftliche Notlage kann nicht dadurch beseitigt werden, dass der Antragsteller
beim BAföG-Amt Vorauszahlungen auf die zu erwartenden BAföG-Leistungen beantragt.
Nach § 51 Abs. 2 BAföG können Vorauszahlungen nur bis zu einer Höhe von 360,- Euro
monatlich gewährt werden. Dieser Höchstbetrag reicht zur Deckung des Bedarfs des
Antragstellers aber offensichtlich nicht aus. Bereits für die Miete seiner
behindertengerechten Wohnung muss der Antragsteller einen erheblich darüber
hinausgehenden Betrag von 557,42 Euro aufbringen. Der Antragsteller kann seinen
Bedarf aber auch nicht bzw. jedenfalls nicht kurzfristig senken. Er ist auf eine
rollstuhlgerechte Wohnung angewiesen. Es ist auch anzunehmen, dass der Antragsteller
jedenfalls bei einigen der Verrichtungen des täglichen Lebens der Unterstützung bedarf
und die Wohnung daher in der Nähe seiner Familie liegen sollte oder eine Unterstützung
durch andere gewährleistet sein müsste. Aus diesem Grund hat offenbar auch der
Antragsgegner die Übernahme der Kosten für die derzeit vom Antragsteller bewohnte
Wohnung bewilligt.
Der Antragsteller hat auch kein Einkommen und keine Rücklagen, aus dem bzw. aus
denen er den im Falle von Vorauszahlungen auf die BAföG-Leistungen verbleibenden
Betrag von rund 500,- bis 550,- Euro monatlich bis zur Entscheidung über seinen BAföG-
Antrag bestreiten könnte. Eine Unterstützung durch seine Familie ist gleichfalls
ausgeschlossen, weil diese allein von Leistungen nach dem SGB II lebt. Ob die
wirtschaftliche Notlage durch Aufnahme des Studiums eine besondere Härte im Sinne
von § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II darstellt, hängt damit maßgeblich davon ab, ob es dem
Antragsteller möglich und zumutbar ist, sich den verbleibenden Betrag durch
Nebentätigkeiten hinzuzuverdienen. Denn ohne einen Nebenverdienst wäre der
Antragsteller gezwungen, das Studium zunächst aufzugeben, um so die
Voraussetzungen für eine Gewährung von Arbeitslosengeld II wieder herzustellen. Diese
Konsequenz würde den Antragsteller besonders hart treffen. Die von ihm angestrebte
Ausbildung würde sich damit ohne sachlichen Grund verzögern. Im Übrigen wäre es nicht
sichergestellt, dass der Antragsteller überhaupt noch einmal den von ihm gewünschten
Studienplatz an der FU Berlin erhalten würde. Schließlich erfordert es der gesetzliche
Zweck des § 7 Abs. 5 SGB II, eine versteckte Ausbildungsförderung im Wege der
Grundsicherung für Arbeitssuchende zu verhindern, nicht, einem Studenten eine
darlehensweise Übergangsfinanzierung bis zur voraussichtlichen Bewilligung von BAföG-
Leistungen zu verweigern.
Auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer, einen Hinzuverdienst von rund 500,- Euro
sicherstellenden Nebentätigkeit kommt es damit für das Vorliegen eines besonderen
Härtefalls entscheidend an. Diese Frage kann im Eilverfahren nicht mit hinreichender
Sicherheit aufgeklärt werden. Zwar hat der Antragsgegner den Antragsteller offenbar als
erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II eingestuft. Daraus lässt sich aber nicht
sicher schließen, dass der Antragsteller in Anbetracht seiner Behinderung in der Lage ist,
neben dem Studium eine Erwerbstätigkeit auszuüben, die ihm einen derart hohen
Verdienst sicherstellt. Zweifelhaft ist weiter, ob es dem Antragsteller möglich wäre, eine
für ihn körperlich zu bewältigende und gleichzeitig ein ausreichendes Einkommen
sicherstellende Nebentätigkeit kurzfristig zu finden.
Über den Antrag ist folglich anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 20. Dezember 2005 – L 10 B 1263/05 AS ER -, zitiert nach
JURIS). Danach ist dem Antragsteller eine darlehensweise Weitergewährung des
Arbeitslosengelds II zu bewilligen. Sollte sich im Hauptsacheverfahren ergeben, dass der
Antragsteller zu einer Nebentätigkeit in diesem Umfang nicht in der Lage ist, würde ihn
eine Verweigerung der Leistungen zum jetzigen Zeitpunkt besonders schwer treffen.
Denn der Antragsteller wäre zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts gezwungen, das
Studium mit den oben geschilderten Folgen abzubrechen. Demgegenüber wiegt die
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Studium mit den oben geschilderten Folgen abzubrechen. Demgegenüber wiegt die
Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen durch eine mögliche ungerechtfertigte
Fortzahlung des Arbeitslosengelds II weniger schwer. Durch die nur darlehensweise
Gewährung ist der Antragsteller zur Rückzahlung der Leistungen verpflichtet. Den
öffentlichen Interessen kann im Übrigen weiter dadurch hinreichend Rechnung getragen
werden, dass der Antragsteller verpflichtet wird, seine, ihm möglicherweise in dem
Zeitraum der darlehensweisen Gewährung zustehenden Ansprüche auf Leistungen nach
dem BAföG an den Antragsgegner abzutreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Zwar fällt das Unterliegen
des Antragstellers für die 5 Tage vor der Antragstellung bei Gericht nicht ins Gewicht. Da
der Antragsteller aber auch mit seinem Begehren auf eine endgültige Leistung des
Arbeitslosengelds II nicht durchdringt, ist eine auf die Hälfte begrenzte Kostenerstattung
sachgerecht.
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