Urteil des SozG Berlin vom 07.11.2008
SozG Berlin: verrechnung, verwaltungsakt, heizung, rückzahlung, link, rückgriff, betriebskosten, abrechnung, stiefsohn, wohnung
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Gericht:
SG Berlin 123.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 123 AS 15344/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 1 S 4 SGB 2, § 48 SGB
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Arbeitslosengeld II; Minderung der Unterkunftskosten;
Anrechnung einer Betriebskostenerstattung; Zeitpunkt des
Zuflusses
Leitsatz
§ 22 Abs 1 S 4 SGB 2 schließt einen Rückgriff auf § 48 Abs 1 SGB 10 insoweit aus, als nach
dem eindeutigen Gesetzeswortlaut eine Verrechnung der Rückzahlung oder Gutschrift mit
den Kosten der Unterkunft erst ab dem Folgemonat ihres Zuflusses vorgesehen ist, eine
Verrechnung im Zuflussmonat ist nicht zulässig.
Tenor
Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 29. März 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07. Juni 2007 wird aufgehoben.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts aufgrund der Anrechung eines Heiz- und
Betriebskostenguthabens.
Der Kläger steht beim Beklagten seit Februar 2006 im Bezug von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Bis zum Juli 2006 bewohnte er seine
Wohnung gemeinsam mit seiner Ehefrau, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezog, und
seinem Stiefsohn, der ebenfalls SGB II-Leistungen vom Beklagten erhielt. Nach Auszug
des Stiefsohns wurde die Wohnung, in der eine zentrale Warmwasserbereitung erfolgt,
durch die Eheleute ab August 2006 allein bewohnt.
Mit dem Bewilligungsbescheid vom 29. Juni 2006 gewährte der Beklagte dem Kläger
Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit 01.08.2006 bis 31.01.2007 in Höhe von 545,19 €
monatlich, wobei er als Regelleistung 311 € und als Kosten für Unterkunft und Heizung
(KdU) den Betrag von 234,19 € zugrunde legte.
Durch Schreiben vom 24. November 2006 rechnete die Vermieterin gegenüber dem
Kläger und seiner Ehefrau über die Betriebskosten für das Jahr 2005 ab. Die Abrechnung
ergab ein Guthaben in Höhe von insgesamt 200,85 €, welches sich aus einem
Überschuss für kalte Betriebskosten von 120,69 € und für Heizung/Warmwasser von
80,16 € zusammensetzte. Die Vermieterin teilte den Eheleuten zugleich mit, dass
aufgrund der Abrechnung ihnen 200,85 € erstattet würden, sodass die am 01.01.2007
fällige Miete sich abweichend von 469,58 € auf 268,73 € mindere.
Mit seinem Schreiben vom 29. Januar 2007 übersandte der Kläger dem Beklagten nach
Aufforderung eine Ablichtung der Betriebskostenabrechnung für 2005. Daraufhin hörte
der Beklagte ihn mit Schreiben vom 05. März 2007 zu einer Überzahlung in Höhe von
100,42 € im Januar 2007 aufgrund des anteiligen Guthabens aus der
Betriebskostenabrechnung an. Durch den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom
29. März 2007 hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von
Arbeitslosengeld II (Alg II) für Januar 2007 teilweise auf und forderte den Kläger zur
Erstattung von 100,42 € auf. Als Grund nannte er die Anrechnung des anteiligen
Guthabens aus der Betriebskostenabrechnung und stützte die Entscheidung u. a. auf §
48 Abs. 1 S. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zugleich verfasste der Beklagte
am 29. März 2007 ein ebenfalls als „Aufhebungs- und Erstattungsbescheid“
bezeichnetes Schreiben und setze sich darin ausführlich mit den vom Kläger im Rahmen
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bezeichnetes Schreiben und setze sich darin ausführlich mit den vom Kläger im Rahmen
der Anhörung geltend gemachten Einwendungen auseinander. Das Schreiben endete
mit einer Rechtsbehelfsbelehrung.
Den Widerspruch des Klägers gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07. Juni 2007 als unbegründet zurück. Zur
Begründung gab er an, die Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) im Januar 2007
hätten sich aufgrund des Betriebskostenguthabens für den Kläger auf 128,50 €
reduziert. Mit dem Bewilligungsbescheid vom 29.06.2006 seien ihm 234,19 € als KdU
gewährt und somit sei eine Überzahlung eingetreten, da die Veränderungen der
Mietzahlung im Januar 2007 nicht habe berücksichtigt werden können. Dabei habe der
Kläger ohne weiteres erkennen können, dass er im Falle der Verminderung der
Mietzahlungen nicht in gleich bleibender Höhe Leistungen für KdU beziehen könne.
Daher sei die Leistungsbewilligung für die Vergangenheit aufzuheben.
Der Kläger hat am 09. Juli 2007 Klage erhoben und wendet sich gegen die Aufhebungs-
und Erstattungsentscheidung. Zur Klagebegründung trägt er im Wesentlichen vor:
Das Betriebskostenguthaben aus dem Jahr 2005 dürfe bei ihm nicht angerechnet
werden, da er im Jahr 2005 keine SGB II-Leistungen bezogen und die Vorauszahlungen
gänzlich aus eigenen Mitteln geleistet habe. Allein sein Stiefsohn, der nicht mehr Mitglied
der Bedarfsgemeinschaft sei, habe im Jahr 2005 Leistungen vom Beklagten erhalten.
Der Kläger beantragt,
den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 29. März 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07. Juni 2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen im angegriffenen Widerspruchsbescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte
und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Kammer betrachtet die beiden Schreiben vom 29. März 2007 als einheitlichen
Bescheid, so dass entsprechend nur über die Aufhebung eines einzigen Bescheids
entschieden wurde. Während das eine Schreiben den Verfügungssatz enthält und die
Rechtsgrundlagen benennt, enthält das andere Schreiben als Ergänzung dazu die
Gründe für die getroffene Entscheidung. Da auch das zweite Schreiben als „Aufhebungs-
und Erstattungsbescheid“ überschrieben ist und eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält
und somit zumindest der Form nach einen Verwaltungsakt darstellt, muss es als
Bestandteil des einheitlichen Bescheids verstanden werden.
Die zulässige Klage ist begründet. Der angegriffene Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Nach § 40 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt mit
Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll gem. § 48 Abs. 1 S. 2
Nr. 4 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben
werden, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt
in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt
ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise
weggefallen ist.
Die Voraussetzungen für die Aufhebung nach § 48 Abs. 1 SGB X lagen hier nicht vor, weil
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse bezogen auf den Leistungsanspruch im
Januar 2007 nicht vorliegt. Eine solche wesentliche Änderung kann insbesondere nicht im
Hinblick auf das Betriebskostenguthaben aus § 22 Abs. 1 S. 4 SGB II abgeleitet werden.
Danach mindern Rückzahlungen und Guthaben, die den Kosten für Unterkunft und
Heizung zuzuordnen sind, die nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift
entstehenden Aufwendungen; Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für
Haushaltsenergie beziehen, bleiben insoweit außer Betracht. Damit sieht das Gesetz
eine Verrechnung der Rückzahlung oder Gutschrift mit den KdU ab dem Folgemonat
ihres Zuflusses vor (Berlit in: LPK-SGB II, 2. Aufl., § 22 Rn. 52; Lang/Link in:
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ihres Zuflusses vor (Berlit in: LPK-SGB II, 2. Aufl., § 22 Rn. 52; Lang/Link in:
Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, 2. Aufl., § 22 Rn. 61c). Eine Verrechnung im
Zuflussmonat ist demnach nicht zulässig.
Hier erfolgte die Verrechnung des Guthabens und damit die Gutschrift i. S. d. § 22 Abs. 1
S. 4 SGB II im Januar 2007. Folglich trat die Minderung der KdU erst im Februar 2007 ein,
weil er dem Zuflussmonat folgte. Die in § 48 Abs. 1 SGB X vorausgesetzte Änderung der
Verhältnisse fand damit nicht schon im Januar 2007, sondern im Februar 2007 statt. Die
teilweise Aufhebung der Bewilligung für Januar 2007 ist somit rechtswidrig.
Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass aufgrund der seitens des Vermieters
vorgenommenen Verrechnung die Aufwendungen bereits im Januar 2007 gesenkt
wurden und damit eine Änderung in den Verhältnissen gem. § 48 Abs. 1 SGB X
tatsächlich vorlag. Dies liefe angesichts des klaren Wortlauts von § 22 Abs. 1 S. 4 SGB II
auf eine Umgehung des Gesetzes hinaus, wonach eine Anrechnung erst im Folgemonat
des Zuflusses stattfinden darf. Insoweit schließt § 22 Abs. 1 S. 4 SGB II daher einen
Rückgriff auf § 48 Abs. 1 SGB X aus. Zudem würde die Berücksichtigung im
Zuflussmonat zu einer unzulässigen doppelten Anrechnung von
Betriebskostenguthaben führen. Denn an der gesetzlich vorgesehenen Minderung nach
§ 22 Abs. 1 S. 4 SGB II würde sich auch bei dieser Sichtweise nichts ändern, so dass der
Grundsicherungsträger verpflichtet wäre, neben der Aufhebung für den Zuflussmonat
auch die Bewilligung in der Zeit nach dem Zuflussmonat aufzuheben.
Im Übrigen hat der Beklagte nicht erkannt, dass ein Teil des Betriebskostenguthabens
sich auf Warmwasserkosten bezog und somit gem. § 22 Abs. 1 S. 4 2. Hs. SGB II
zumindest insoweit eine Minderung der KdU im Januar 2007 nicht gerechtfertigt war.
Da bereits die Aufhebungsentscheidung rechtsfehlerhaft ist, fehlt es dem
Erstattungsbescheid nach § 50 Abs. 1 SGB X an der Grundlage für die Rückforderung von
Leistungen.
Der Klage war daher zu entsprechen. Die Kammer verkennt nicht, dass die vom § 22
Abs. 1 S. 4 SGB II vorgesehene Anrechnung ab dem Folgemonat des Zuflusses mit
verwaltungspraktischen Schwierigkeiten - wie sie von der Beklagtenvertreterin im
Verhandlungstermin genannt wurden - verbunden sein kann. Die eindeutige gesetzliche
Regelung lässt jedoch eine abweichende Anrechnung im Zuflussmonat nicht zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung ist nicht nach § 144 Abs. 1 SGG zulässig. Sie wird aber durch die Kammer
gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, da die hier aufgeworfenen Rechtsfragen zur
Anwendung von § 22 Abs. 1 S. 4 SGB II von grundsätzlicher Bedeutung sind.
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