Urteil des SozG Berlin vom 15.03.2017

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Gericht:
SG Berlin 37.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 37 AS 6025/05 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 62 Abs
1 EStG, § 74 Abs 1 EStG, Art 6
GG, § 1 Abs 1 Nr 8 AlgIIV vom
22.08.2005
Grundsicherung für Arbeitsuchende -
Einkommensberücksichtigung - Kindergeld - volljähriges Kind
Tatbestand
Die Antragstellerin hatte in 2004 gemeinsam mit ihrer 1986 geb. Tochter eine Zwei-
Zimmer-Wohnung (65 qm) angemietet. Im Januar 2005 bezog die Tochter eine eigene
Wohnung in einem anderen Stadtbezirk. Sie erhält seit Januar 2005 fortlaufend Alg II
unter Anrechnung des von der Antragstellerin als Bezugsberechtigte an sie, die Tochter,
weitergeleiteten Kindergeldes (Bescheid vom 7.1.2005 und Folgebescheid vom
25.7.2005 des Job-Center F.).
Der Antragstellerin selbst war für den Bewilligungsabschnitt 1.1. bis 30.6.2005 Alg II ohne
Anrechnung des Kindergeldes gewährt worden.
Anlässlich einer Überprüfung des Leistungsfalls verringerte der Antragsgegner den
Auszahlungsbetrag für die Monate April und Mai auf 939,60 € (Anrechnung des um die
Versicherungspauschale von 30,-- € bereinigten Kindergeldes), für den Monat Juni wurde
zusätzlich ein Betrag von 77,-- € zur Tilgung einer - bislang unbeschiedenen -
Erstattungsforderung einbehalten (Änderungsbescheid vom 3.5.2005).
In ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch macht die Antragstellerin geltend, das
Kindergeld stehe der Tochter zu und werde auch auf deren Leistungsanspruch voll
angerechnet.
Im Verlauf des am 15.7.2005 gestellten Eilantrags auf ungekürzte Auszahlung der
bewilligten Leistungen hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 12.8.2005 den
Fortzahlungsantrag für die Monate Juli bis September 2005 mit einer Weiterführung der
Kindergeldanrechnung beschieden. Die Einbehaltung der 77,-- € seit 1.6.2005 ist mit
Änderungsbescheid vom 12.8.2005 rückgängig gemacht worden.
Am 23.8.2005 hat die Antragstellerin auf Hinweis des Gerichts einen Abzweigungsantrag
nach § 74 EStG bei der zuständigen Familienkasse gestellt.
Entscheidungsgründe
Der Eilantrag ist sachdienlich auszulegen als
1. Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den
Änderungsbescheid vom 3.5.2005 soweit die Leistung um 124,-- € gekürzt wird.
2. Antrag auf ungekürzte Bewilligung für den Folgeabschnitt Juli-September 2005.
Beide Anträge sind zulässig und begründet.
Zu 1.) Der Abänderungsbescheid vom 3.5.2005 ist bereits wegen schwerwiegender
Verfahrensmängel rechtswidrig. Es fehlt sowohl an der erforderlichen Anhörung nach §
24 SGB X, als auch einer Begründung, aus der die herangezogene Rechtsgrundlage - §
45 oder § 48 SGB X - ersichtlich wird. Aus den zu 2) ausgeführten Gründen ist darüber
hinaus keine rückforderbare Überzahlung eingetreten.
Zu 2.) Mit Urteil vom 17.12.2003 – 5 C 25/02 - hat das BVerwG die im Sozialhilferecht
jahrelang anerkannte Zuordnung des Kindergeldes als Einkommen des Kindes kraft
qualifizierter Weitergabe durch den bezugsberechtigten Elternteil aufgegeben: im
Hinblick auf die Regelung des § 74 EStG fehle es an der Rechtfertigung für die bislang mit
Rücksicht auf Art. 6 GG akzeptierte, familieninterne Weiterleitung des Kindergeldes;
"wenn die Eltern wollen, dass nicht sie, sondern ihr Kind das Kindergeld als Einkommen
erhält, können sie nach § 74 EStG bzw. § 48 SGB I eine Auszahlung direkt an das Kind
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erhält, können sie nach § 74 EStG bzw. § 48 SGB I eine Auszahlung direkt an das Kind
veranlassen".
Mit der Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe - wo Kindergeld gar nicht angerechnet
wurde - und der Sozialhilfe zum Sozialgesetzbuch II hat diese wenig publik gewordene
Rechtsänderung zu erheblichen Problemen geführt. Zu Beginn des Jahres 2005 war den
Betroffenen die Problematik gar nicht bewusst. Für sie war weitergeleitetes Kindergeld
offensichtlich Einkommen des Kindes. Inzwischen werden die Familienkassen mit
Abzweigungsanträgen überschwemmt, was aufgrund der verfahrensrechtlichen
Vorgaben (DA 74.1.3) zu langen Bearbeitungsdauern geführt hat.
Das BMWA hat auf Anregung des Ombudsrates hierauf mit einer Änderung der Alg II-
Verordnung reagiert. Ab (voraussichtlich) Oktober 2005 ist qualifiziert weitergeleitetes
Kindergeld an volljährige Kinder außerhalb des Haushalts deren Einkommen.
Auch wenn aus dieser Rechtsänderung im Umkehrschluss folgt, dass bis 30.09.2005
weitergeleitetes Kindergeld ohne Abzweigung als Einkommen des bezugsberechtigten
Elternteils gilt (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.6.2005 - L 8 AS
118/05 ER), begründet das im vorliegenden Fall, der stellvertretend für zahlreiche
vergleichbare Verfahren steht, nicht die Rechtmäßigkeit der Anrechnung des
Kindergeldes auf den Bedarf der Antragstellerin. Dem steht zwingend die bereits erfolgte
Anrechnung auf den Alg II-Anspruch der Tochter entgegen. Denn anders als der
Antragsgegner meint, ist mit der tatsächlichen Zuwendung des Kindergeldes dessen
Anrechnung auf den Hilfebedarf des Zuwendungsempfängers rechtens. Eine
rückwirkende Abwicklung i.S. einer "Verrechnung" eines Nachzahlungsanspruchs der
Tochter mit der Erstattungsforderung gegen die Antragstellerin scheidet somit aus.
Da mit der vollzogenen Anrechnung die vom BVerwG zugunsten der Abzweigungslösung
angeführten Schwierigkeiten, rein familieninterne Einkommensverschiebungen nur
schwer feststellen zu können, tatsächlich und manipulationsfest ausgeschlossen sind
und ferner die Grundvoraussetzungen für eine Abzweigung - fehlende Leistungsfähigkeit
der Antragstellerin, Anspruch der bedürftigen Tochter auf Auskehrung des Kindergeldes
auch ohne zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch (BFH, Urteil vom 16.4.2002 - VIII R 50/01)
- vorliegen, überwiegt die nach Art. 6 GG zu respektierende und kraft Anrechnung auf
den Kindesbedarf centgenau dokumentierte Zweckbindung des Kindergeldes den rein
formal begründeten Einwand einer fehlenden Abzweigung.
Für die Monate ab Mai 2005 kann sich die Antragstellerin überdies mit Erfolg darauf
berufen, den Antrag nur aufgrund einer unterbliebenen Beratung des Antraggegners
unterlassen zu haben. Der Anrechnung des Kindergeldes steht insoweit der
sozialrechtliche Herstellungsanspruch entgegen.
Im übrigen handelt der Antragsgegner treuwidrig, wenn er das Kindergeld in Kenntnis der
fortlaufenden Anrechnung auf den Bedarf der Tochter auch noch bei der Antragstellerin
anrechnet. Dass für die Tochter ein stadtbezirklich anderes Jobcenter zuständig ist,
ändert daran nichts.
Was schließlich den Zeitraum ab August 2005 betrifft, genügt aufgrund der eingangs
geschilderten Überlastung der Familienkassen der dortige Eingang des Antrags, um eine
für den SGB II-Träger verbindliche Zuordnung des Kindergeldes an den potentiellen
Abzweigungsempfänger zu begründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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