Urteil des SozG Berlin vom 17.05.2006

SozG Berlin: allein erziehende mutter, ausbildung, arbeitsmarkt, beruf, wahrscheinlichkeit, software, eingliederung, hauptsache, obsiegen, rechtsschutz

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 17.05.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 102 AS 3264/06 ER
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, das Vorliegen der Voraussetzungen für die
Förderung der beruflichen Weiterbildung der Antragstellerin zur Kauffrau für Grundstücks- und Wohnungswesen bei der
D A-Akademie, Institut B und B/W, durch Erteilung eines Bildungsgutscheins zu bescheinigen. Außergerichtliche
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Der Antrag der Antragstellerin auf vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 86 b Abs. 2 SGG ist zulässig und begründet.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. 920 Abs. 2
ZPO). Ein Obsiegen der Antragstellerin in der Hauptsache ist überwiegend wahrscheinlich.
Rechtsgrundlage für die Erteilung des Bildungsgutscheins ist §§ 16 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m 77 SGB III. Gemäß §
16 Abs. 1 Satz 1 SGB II können als Leistungen zur Eingliederung in Arbeit unter anderem alle im VI. Abschnitt des
IV. Kapitels des SGB III geregelten Leistungen erbracht werden. Soweit das SGB II für die einzelnen Leistungen nach
Satz 1 keine abweichenden Voraussetzungen regelt, gelten diejenigen des SGB III (§ 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Nach
§ 77 Abs. 1 SGB III können Arbeitnehmer bei beruflicher Weiterbildung durch Übernahme der Weiterbildungskosten
gefördert werden, wenn 1. bei ihnen wegen eines fehlenden Berufsabschlusses die Notwendigkeit der Weiterbildung
anerkannt ist, 2. vor Beginn der Teilnahme eine Beratung durch die Agentur für Arbeit erfolgt ist, 3. die Maßnahme
und der Träger der Maßnahme für die Förderung zugelassen sind.
Gemäß § 77 Abs. 3 SGB III wird das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Förderung dem Arbeitssuchenden durch
Erteilung eines Bildungsgutscheins bescheinigt.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Bildungsgutscheines liegen vor. Die Notwendigkeit der
Weiterbildung der Antragstellerin wegen fehlenden Berufsabschlusses ist gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB III
anzuerkennen. Nach dieser Vorschrift wird die Notwendigkeit der Weiterbildung bei Arbeitnehmern wegen fehlenden
Berufsabschlusses anerkannt, wenn sie über einen Berufsabschluss verfügen, jedoch auf Grund einer mehr als vier
Jahre ausgeübten Beschäftigung in an- oder ungelernter Tätigkeit eine entsprechende Beschäftigung voraussichtlich
nicht mehr ausüben können. Dies ist hier der Fall. Die Antragstellerin hat glaubhaft vorgetragen, dass sie zwischen
1981 und 1984 den Beruf der Ergotherapeutin erlernte, diesen Beruf lediglich bis November 1984 ausübte, von Juni
1987 bis März 1988 eine Kurzausbildung zum PC-Software-Entwickler absolvierte und zuletzt von Juni 1989 bis März
2006 als geschäftsführende Inhaberin bzw. als geschäftsführende Gesellschafterin eines Sportstudios arbeitete. Die
letztgenannte Tätigkeit als Geschäftsführerin ist als angelernte Tätigkeit zu werten; denn die Ausbildung zur
Ergotherapeutin und die Kurzausbildung zum PC-Software-Entwickler vermittelten der Antragsstellerin nicht die für
ihre Tätigkeit als Geschäftsführerin erforderlichen Kenntnisse insbesondere im kaufmännischen Bereich. Da sich die
letztgenannte Tätigkeit über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren erstreckte, ist davon auszugehen, dass sie ihre
erlernten Berufe nicht mehr ausüben kann. Die Antragstellerin erfüllt auch die weiteren Voraussetzungen des § 77
Abs. 1 SGB III, weil sie vor Beginn der Weiterbildungsmaßnahme am 20. März 2006 von dem Antragsgegner beraten
worden und die Maßnahme sowie der Träger der Maßnahme für die Förderung zugelassen ist, wie sich aus den von
der Antragstellerin bei dem Antragsgegner eingereichten Unterlagen ergibt.
Die Erteilung des Bildungsgutscheins steht nach §§ 16 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m 77 Abs. 1 SGB III grundsätzlich
im Ermessen der Behörde. Vorliegend sprechen aber gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner
verpflichtet ist, den Bildungsgutschein zu erteilen, weil jede andere Ermessensentscheidung fehlerhaft wäre. Erfüllt
die Antragstellerin die Voraussetzungen, an die der Zugang zu Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung geknüpft ist,
hat die zu treffende Ermessensentscheidung nicht zum Gegenstand, ob überhaupt eine Förderung erfolgen soll oder
nicht. Der Antragsgegner darf sich auch nicht darauf beschränken, eine gewünschte Maßnahme abzulehnen; er muss
vielmehr zumindest in der Weise tätig werden, dass er aus den ihm möglichen die konkret angebrachte
ermessensfehlerfrei auswählt und erbringt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2005 – L 10
B 1024/05 AS ER). Ermessensfehlerhaft ist demnach die Erwägung des Antragsgegners, dass aufgrund der zuletzt
ausgeübten Tätigkeit der Antragstellerin als Geschäftsführerin zu erwarten sei, dass eine Integration der
Antragstellerin auf dem ersten Arbeitsmarkt möglich sei. Dieser Erwägung steht bereits entgegen, dass die
Antragstellerin – wie bereits ausgeführt – die Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB III erfüllt und somit die
Notwendigkeit einer Weiterbildung zwingend anzuerkennen ist. Unabhängig davon bestehen auch aufgrund des Alters
der Antragstellerin von 43 Jahren und ihrer familiären Situation als allein erziehende Mutter eines knapp 5 Jahre alten
Kindes erhebliche Zweifel daran, dass die von ihr ohne kaufmännische Vorbildung ausgeübte Tätigkeit als
Geschäftsführerin in einem Kleinbetrieb die Perspektive einer weiteren dauerhaften Beschäftigung vermittelt.
Der Einwand des Antragsgegners, für das angestrebte Bildungsziel "Kauffrau für Grundstücks- und
Wohnungswirtschaft" könne nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Eingliederung in den Arbeitsmarkt erwartet werden,
greift ebenfalls nicht durch. Denn entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist eine positive
Beschäftigungsprognose nicht erforderlich, wenn die Weiterbildung wegen fehlendem Berufsabschluss notwendig ist.
Es ist in diesen Fällen vielmehr grundsätzlich davon auszugehen, dass die Eingliederungschancen nach einer
Berufsausbildungsmaßnahme besser sind als vorher. Die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes steht der
Durchführung einer Weiterbildung wegen fehlendem Berufsabschluss nur dann entgegen, wenn Grund zur Annahme
besteht, dass der Arbeitnehmer nach der Weiterbildung mit hoher Wahrscheinlichkeit arbeitslos sein wird (vgl. LSG
Baden-Württemberg, Urteil vom 2. September 2005 – L 8 AL 4970/04 -; LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Dies ist
vorliegend nicht der Fall. Vielmehr hat die Antragstellerin durch die Vorlage zahlreicher entsprechender
Stellenangebote und ein Schreiben der G AG vom 29. März 2006, in dem diese die Absicht der Anstellung der
Antragstellerin nach Abschluss der Weiterbildungsmaßnahme bekundete, glaubhaft gemacht, dass die Ausbildung zur
Kauffrau für Grundstücks- und Wohnungswirtschaft ihre Berufsaussichten zumindest verbessern. Eine alternative
Weiterbildungsmöglichkeit, bei der bessere Berufaussichten bestehen, hat der Antragsgegner nicht benannt.
Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben, weil ein Abwarten des Ergebnisses in der Hauptsache eine unzumutbare
Verzögerung beinhalten würde. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin an der Maßnahme
bereits seit nunmehr knapp zwei Monaten – mit sehr gutem Erfolg, wie der Träger der Maßnahme mit Schreiben vom
11. Mai 2006 bekundet – teilnimmt, so dass eine Ablehnung des Eilbedürfnisses zur Folge hätte, dass die
Verwertbarkeit des bisher erbrachten Lernaufwandes und der damit verbundene Zeitvorteil entfiele (vgl. LSG Berlin-
Brandenburg, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.