Urteil des SozG Berlin vom 21.06.2005

SozG Berlin: ddr, stellvertreter, versorgung, staatssicherheit, nationale sicherheit, verfassungskonforme auslegung, persönliche eignung, landwirtschaft, gehalt, drucksache

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Gericht:
SG Berlin 35.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 35 RA 5653/97 W05
Dokumenttyp:
Vorlagebeschluss
Quelle:
Normen:
§ 6 Abs 2 Nr 4 AAÜG vom
21.06.2005, § 7 AAÜG, Anl 5
AAÜG, Anl 1 Nr 19 AAÜG, Art 1
Nr 1 Buchst a AAÜGÄndG 1
Vorlagebeschluss an das BVerfG - Begrenzung des
Arbeitsentgelts während einer Tätigkeit als Minister,
Staatssekretär oder Stellvertreter des Ministers der ehemaligen
DDR - Verfassungswidrigkeit
Gründe
Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob § 6 Absatz 2 Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des
Artikel 3 Grundgesetz verstößt. Diese Vorschrift ordnet Rentenkürzungen für Minister
und andere konkret aufgelistete Funktionäre der DDR an.
Minister gehörten in der DDR einem speziellen Altersversorgungssystem für "Mitarbeiter
des Staatsapparats" an. Insgesamt existierten in der DDR eine Vielzahl besonderer
Systeme der Altersversorgung für bestimmte Berufsgruppen, beispielsweise für
"verdienstvolle Vorsitzende von Produktionsgenossenschaften", für Mitarbeiter der
"technischen Intelligenz", für Ärzte, Apotheker, für hauptamtliche Mitarbeiter der SED
und der Blockparteien etc. Diese besonderen Versorgungssysteme wurden im Zuge der
Wiedervereinigung geschlossen. Die Rentenansprüche von 31 Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen wurden in das System der gesetzlichen
Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland übergeleitet. Ausgangspunkt der
Rentenberechnung ist in diesen Fällen der Arbeitsverdienst, der in der DDR erzielt wurde.
Dieser Arbeitsverdienst wird höchstens bis zur allgemeinen Beitragsbemessungsgrenze
berücksichtigt. Diese entspricht etwa dem 1,8fachen des Durchschnittsverdienstes eines
Arbeitnehmers der DDR. Für Minister der DDR und andere speziell aufgezählte
Funktionsgruppen ist eine Sonderregelung in § 6 Absatz 2 AAÜG getroffen. Der
Arbeitsverdienst dieses Personenkreises wird bei der Rentenberechnung höchstens bis
zum einfachen Durchschnittsverdienst berücksichtigt.
Das Bundesverfassungsgericht hat bei zwei Vorgänger-Regelungen des § 6 Absatz 2
AAÜG festgestellt, dass sie nicht mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Die Kürzung
politisch überhöhter Rentenansprüche sei zwar verfassungsrechtlich zulässig. Der
Gesetzgeber habe aber bei der Auswahl des betroffenen Personenkreises jeweils gegen
das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 3 Grundgesetz verstoßen (Urteil vom 28. April
1999, Aktenzeichen 1 BvL 22/95; Urteil vom 23. Juni 2004, Aktenzeichen 1 BvL 3/98).
Dem Gesetzgeber wurde jeweils aufgegeben, eine verfassungsgemäße Regelung zu
treffen. Die letzte Frist lief zum 30. Juni 2005 ab. Durch das Gesetz vom 21. Juni 2005 (in
der Folge: Änderungsgesetz 2005) erhielt § 6 Absatz 2 AAÜG folgende Fassung:
Für Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem nach Anlage 1 oder
Anlage 2 Nr. 1 bis 3 bis zum 17. März 1990, in denen eine Beschäftigung oder Tätigkeit
ausgeübt wurde als
1. Mitglied, Kandidat oder Staatssekretär im Politbüro der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands,
2. Generalsekretär, Sekretär oder Abteilungsleiter des Zentralkomitees der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sowie als Mitarbeiter der Abteilung
Sicherheit bis zur Ebene der Sektorenleiter oder als die jeweiligen Stellvertreter,
3. Erster oder Zweiter Sekretär der SED-Bezirks- oder Kreisleitung sowie
Abteilungs- oder Referatsleiter für Sicherheit oder Abteilungsleiter für Staat und Recht,
4. Minister, stellvertretender Minister oder stimmberechtigtes Mitglied von
Staats- oder Ministerrat oder als ihre jeweiligen Stellvertreter,
5. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, Vorsitzender des
Staatsrats oder Vorsitzender des Ministerrats sowie als in diesen Ämtern ernannter
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Staatsrats oder Vorsitzender des Ministerrats sowie als in diesen Ämtern ernannter
Stellvertreter,
6. Staatsanwalt in den für vom Ministerium für Staatssicherheit sowie dem
Amt für Nationale Sicherheit durchzuführenden Ermittlungsverfahren zuständigen
Abteilung I der Bezirksstaatsanwaltschaften,
7. Staatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft der DDR,
8. Mitglied der Bezirks- oder Kreis-Einsatzleitung,
9. Staatsanwalt oder Richter der I-A-Senate,
ist den Pflichtbeitragszeiten als Verdienst höchstens der jeweilige Betrag der
Anlage 5 zugrunde zu legen.
1)
Der Kläger wurde 1925 geboren. Er wurde 1943 Anwärter der NSDAP und war bis 1945
Soldat der deutschen Wehrmacht. In der DDR trat der Kläger der Deutschen
Bauernpartei bei und war zunächst hauptberuflich in deren Parteiapparat beschäftigt. Ab
1951 war er Mitglied des Parteivorstandes. Ab 1982 war er stellvertretender Vorsitzender
der Bauernpartei.
Im streitigen Zeitraum übte der Kläger folgende Funktionen aus: Minister für
Landwirtschaft, Staatssekretär im Ministerium für Landwirtschaft, Stellvertreter des
Produktionsleiters des Landwirtschaftsrates für den Bereich Pflanzliche Produktion und
Mitglied des Ministerrates, Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Stellvertreter
des Vorsitzenden des Ministerrates.
Der Kläger hat im Erörterungstermin vom 8. März 2006 zu den Umständen seines
beruflichen Werdegangs in der DDR Folgendes angegeben:
Ich wurde im Jahr 1953 Minister für Land- und Forstwirtschaft. Das Ressort wurde
seinerzeit von der Bauernpartei innegehabt. Ich war Mitglied der Bauernpartei. Mein
Vorgänger musste zurücktreten, nachdem Versorgungsengpässe aufgetreten waren.
Offiziell waren es gesundheitliche Gründe. Ich war zunächst nicht bereit, dieses Amt zu
übernehmen. Ich war der Auffassung, dass ich zu jung war. Ich war damals 28 Jahre alt.
Außerdem fehlte mir eine fachliche Ausbildung. Ich habe daher das Angebot in drei
Gesprächen mit H A, der seinerzeit Mitglied des ZK der SED war, abgelehnt. Ich wurde
dann zu einer Sitzung des Politbüros eingeladen. Man sagte mir zu, dass ich
Unterstützung durch Fachleute erhalten werde und dass ich während der Ausübung des
Ministeramts eine fachliche Ausbildung nachholen könne. Daraufhin war ich zur
Übernahme des Amts bereit.
Ich blieb bis 1963 Minister. Aus politischen Gründen wurde ich dann abgelöst. Die
SED übernahm in dieser Zeit alle entscheidenden Ämter bei der staatlichen Leitung der
Landwirtschaft. Ich blieb zunächst – ebenfalls aus politischen Gründen – Stellvertreter
des Ministers. Mir wurde außerdem ausnahmsweise die Befugnis verliehen, für eine
weitere Legislaturperiode Mitglied des Ministerrats zu bleiben. Damit sollte die
Bauernpartei ruhig gestellt werden, deren Mitglieder durch den Verlust der staatlichen
Leitungsfunktionen brüskiert waren. 1967 habe ich dann mit Ablauf der Legislaturperiode
den Ministerrat endgültig verlassen und auch meine Funktion als Stellvertreter des
Ministers verloren.
1971 wurde ein Umweltministerium in der DDR gebildet. Der designierte Minister
starb allerdings kurz vor der Amtsübernahme. Ohne meine Kenntnis beschloss das
Politbüro im Januar 1972, mich für dieses Amt vorzuschlagen. Ich erfuhr davon erst im
Februar. Am 9. März 1972 wurde ich von der Volkskammer gewählt. Es war in der DDR
eigentlich nicht üblich, dass ein ehemaliger Minister wieder zum Minister berufen wurde.
Ich kann mir das nur so erklären, dass die Bauernpartei sehr kurzfristig einen neuen
Vorschlag unterbreiten musste und auf einen in der Öffentlichkeit und in der Partei
bekannten Funktionär zurückgreifen wollte. Außerdem wurde sicherlich honoriert, dass
ich meine damalige Amts-Ablösung ohne "Palastrevolte" akzeptiert hatte.
Ich war dann Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft bis Januar 1990. Ich
ging dann direkt in Rente.
Mit Datum vom 15. Februar 1993 bescheinigte die Christlich Demokratische Union
folgende Arbeitsverdienste des Klägers:
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1950: 8.000
Mark 1951: 9.600
Mark 1952: 10.140 Mark
1. Januar bis 16. Mai 1953: 4.447,80 Mark
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bescheinigte mit
Datum vom 25. Februar 1993 folgende Verdienste:
15. Mai bis 31. Dezember 1953: 28.500 Mark
1. Januar bis 15. Januar 1954: 1.712,50 Mark
15. Januar 1954 bis 15. Februar 1955: Hörer der Zentralschule der SED "A. Bebel"
15. Februar bis 31. Dezember 1955: 42.000 Mark
1956 bis 1961: jeweils 48.000 Mark
1962: 45.375 Mark
1963 bis 1966: jeweils 43.500 Mark
1967: 42.200 Mark 1968 bis 1970: jeweils 39.600 Mark
Der Kläger habe von 1971 bis 1990 dem Zusatzversorgungssystem für Beschäftigte im
Staatsapparat (FAS) angehört.
Auf der Beitragsnachweiskarte der freiwilligen zusätzlichen Altersversorgung für
Mitarbeiter des Staatsapparats sind folgende Daten erfasst:
Beginn der ununterbrochenen Tätigkeit im Staatsapparat: 1. Januar 1950.
Jahresverdienste:
2)
Mit Datum vom 15. Juli 1994 erließ der Zusatzversorgungsträger einen
Überführungsbescheid. Darin hieß es unter anderem: "Zur Überführung der Ansprüche
und Anwartschaften aus der Zusatzversorgung in die Rentenversicherung werden die
Daten nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) festgestellt
... Mit 5 gekennzeichnete Zeiten überschreiten den Wert der Anlage 8 zum AAÜG und
sind zu begrenzen. Die Begrenzung ergibt einen Wert unter der Anlage 5 zum AAÜG, für
diese Zeiten wurde daher der Wert dieser Anlage zugrunde gelegt."
Gegen diese Begrenzung wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 26. Juli
1994, der durch den Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 1995 zurückgewiesen wurde.
Die Klage gegen den Zusatzversorgungsträger ist am 23. Februar 1995 eingegangen.
Der Kläger macht geltend, dass seine Arbeitsentgelte ohne die Begrenzung nach § 6
Absatz 2 AAÜG festzustellen seien. Im Hinblick auf die genannten Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit von § 6 Absatz 2 AAÜG hat das
Gericht zunächst jeweils das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
Durch Bescheid vom 24. Januar 1997 hat der Zusatzversorgungsträger die Daten nach
Maßgabe des 1. AAÜG-Änderungsgesetzes festgestellt. Zur ergänzenden Begründung
heißt es unter anderem: "Mit 5 gekennzeichnete Zeiten überschreiten den Wert der
Anlage 4 zum AAÜG und wurden auf den Wert der Anlage 5 zum AAÜG begrenzt."
Sämtliche aufgelistete Zeiten vom 17. Mai 1953 bis zum 28. Februar 1990 sind mit 5
gekennzeichnet.
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Mit Bescheid vom 12. August 2002 hat der Zusatzversorgungsträger entsprechend dem
2. AAÜG-Änderungsgesetz die Feststellungen des Bescheides vom 24. Januar 1997 auf
Leistungszeiträume ab dem 1. Juli 1993 erweitert.
Mit Datum vom 11. November 2005 hat der Zusatzversorgungsträger einen weiteren
Bescheid erlassen, in dem es unter anderem heißt:
Unter Berücksichtigung der (gesetzlichen) Neuregelungen werden die
Feststellungen im Bescheid vom 24. Januar 1997 hinsichtlich der tatbestandlichen
Voraussetzungen für die Anwendung einer niedrigeren als der regelmäßigen
Beitragsbemessungsgrenze
ab 1. Juli 1993 für die Zeit vom 13. Juli 1967 bis 8. März 1972
und ab 1. Juli 1993 für die Zeit vom 14. Januar 1990 bis 28. Februar 1990
aufgehoben.
In einem Schreiben vom 28. November 2005 hat die Beklagte die Auffassung vertreten,
dass der Rechtsstreit jetzt noch um die Frage geführt werde, ob in den Zeiträumen vom
17. Mai 1953 bis 12. Juli 1967 und vom 9. März 1972 bis 13. Januar 1990 ein
Sondertatbestand im Sinne des § 6 Absatz 2 in der Fassung des AAÜG-ÄndG 2005
festzustellen sei. In den genannten Zeiträumen habe der Kläger eine Funktion im Sinne
des § 6 Absatz 2 Nr. 4 und 5 AAÜG-ÄndG 2005 inne gehabt, da er Minister bzw.
Stellvertreter des Ministers gewesen sei.
Das Verfahren ist daraufhin vom Sozialgericht wieder aufgenommen worden.
3)
Ab dem 1. März 1990 bezog der Kläger eine Altersversorgung in Höhe von 2.992 Mark.
Das Sekretariat des Ministerrats der DDR errechnete die Bezüge des Klägers aus der
Versorgung für Mitarbeiter des Staatsapparats unter anderem wie folgt:
Ununterbrochene Tätigkeit im Staatsapparat: 40 Jahre
Durchschnittlicher monatlicher Bruttoverdienst der letzten 12 Kalendermonate:
4.975 M
Durchschnittlicher monatlicher Nettoverdienst des gleichen Zeitraums: 4.326,67
M
90% dieses Nettoverdienstes: 3.894 M
Die Gesamtversorgung setzt sich zusammen aus:
a) Rente der Sozialversicherung: 504 M
b) Zusätzliche Versorgung (Differenz zu 90% des Nettoverdienstes): 2.487,50 M
Zu zahlender Gesamtversorgungsbetrag monatlich: 2.992 M
Mit Bescheid vom 30. November 1994 stellte der Rentenversicherungsträger die
Regelaltersrente des Klägers neu fest (Rentenbeginn: 1. Juli 1990, Zahlbetrag ab 1.
Dezember 1995: 1.986,92 DM).
Mit Schreiben vom 18. Dezember 1994 legte der Kläger Widerspruch ein. Er rügte, dass
sein Bruttoeinkommen bei der Rentenberechnung bis zu 70 Prozent vermindert worden
sei. Seine Beiträge in Höhe von drei Prozent seines Bruttoeinkommens für das
Zusatzversorgungssystem Staatsapparat seien unberücksichtigt geblieben. Sein
monatliches Bruttoeinkommen sei im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland nicht
privilegiert gewesen. Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 1997 wies die
Beklagte den Widerspruch zurück. Die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers
entspreche der gesetzlichen Regelung.
Die Klage gegen den Rentenversicherungsträger ist am 11. Dezember 1997 beim
Sozialgericht eingegangen. Der Kläger macht einen Anspruch auf höhere Rente geltend.
Auf Antrag der Beteiligten hat das Gericht auch hier mehrfach das Ruhen des Verfahrens
angeordnet, um die bereits genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
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angeordnet, um die bereits genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
abzuwarten.
Zwischenzeitlich hat der Rentenversicherungsträger durch Bescheid vom 6. Januar 2000
die Regelaltersrente für die Zeit ab 1. Januar 1992 neu berechnet (Zahlbetrag ab 1. März
2000: 2.153,11 DM, Nachzahlung 8.286,87 DM). Durch Bescheid vom 18. Februar 2002
ist die Regelaltersrente für die Zeit ab 1. Juli 1990 neu festgestellt worden (Zahlbetrag ab
1. April 2002: 1.128,69 EUR, Nachzahlung für die zurückliegenden zwölf Jahre: 0,15 EUR).
Mit Bescheid vom 9. Dezember 2005 hat die Beklagte die Regelaltersrente für die Zeit
ab 1. Juli 1993 neu festgestellt (Zahlbetrag ab 1. Dezember 2005: 1.179,45 EUR,
Nachzahlung 2.490,16 EUR). Die Neufeststellung erfolgte, weil durch das AAÜG-
Änderungsgesetz-2005 die Begrenzung des § 6 Absatz 2 für einige Zeiträume entfiel
(13. Juli 1967 bis 8. März 1972 und 14. Januar bis 28. Februar 1990).
Zum Vorwurf der Privilegierung von Ministern hat der Kläger unter anderem ausgeführt:
Das Gehalt eines Ministers in der DDR habe in der Zeit vom 1953 bis 1985 nur eine
Veränderung erfahren. Auf Grund der wirtschaftlich angespannten Situation habe die
Regierung ab 1. Juli 1962 beschlossen, die Aufwandsentschädigung um 375 DM zu
senken. 1953 habe ein Minister brutto 2.500 Mark Gehalt und 1.500 Mark
Aufwandsentschädigung erhalten (netto: 3.470 Mark), ab 1962 dann 2.500 Mark Gehalt
und 1.125 Mark Aufwandsentschädigung (netto: 3.105 Mark). Erst ab 1. September 1985
seien Gehalt und Aufwandsentschädigung erhöht worden. Als Minister der Bauernpartei
habe er auf die monatlichen Diäten als Volkskammer-Abgeordneter verzichtet und zwar
in der Zeit von Juni 1953 bis Juni 1986 vollständig und von 1987 bis 1989 auf 50 Prozent.
Nebeneinkünfte habe er nicht erzielt. Von 1964 bis 1986 habe er in einem Plattenbau im
6. Stock im Bezirk B-M gelebt. Ab 1964 habe er einen Garten gepachtet. Er habe kein
Grundstück gekauft oder besessen. Als Minister habe er Urlaubsaufenthalte in
Gästeheimen der Regierung und in ausländischen Heimen zum vollen Preis gezahlt.
Einen Anspruch auf die in der DDR üblichen billigen FDGB-Preise habe er nicht gehabt.
So habe er beispielsweise für einen dreiwöchigen Urlaub in Polen im Jahr 1988 für zwei
Personen 1.720 Mark gezahlt. Die Inanspruchnahme von Dienstleistungen der
Wirtschaftsbetriebe der Regierung habe er nach den gültigen Preisen vollständig bezahlt,
beispielsweise eine Wohnungsmodernisierung im November 1975 (5.055,50 Mark),
Maler-, Sanitär- und Dekorationsarbeiten im Juni 1981 (3.050,15 Mark), den Einsatz
eines Busses während der Hochzeit seiner Tochter im Jahr 1983 (263,69 Mark).
4)
Durch Beschluss vom 17. März 2006 hat das Gericht die Verfahren gegen den
Zusatzversorgungsträger und den Rentenversicherungsträger zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden.
Auf Anfrage des Gerichts hat der Rentenversicherungsträger eine Probeberechnung
angefertigt, aus der sich ergibt, welche Rentenzahlungen ohne Anwendung von § 6
Absatz 2 AAÜG-Änderungsgesetz-2005 zu leisten wären: Ab 1. Mai 2006 monatlich
1.805,43 EUR. Nachzahlung für die zurückliegenden 13 Jahre (1. Juli 1993 bis 30. April
2006): 84.899,35 EUR.
Das Gericht hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie die Fraktionen von
SPD und Bündnis 90 / Die Grünen unter anderem dazu befragt, welche Erkenntnisse
zum "einkommens- und versorgungsseitigen Teil eines Gesamtkonzepts der
Selbstprivilegierung" (vgl. Bundestags-Drucksache 15/5314) hinsichtlich der unter § 6
Absatz 2 Nr. 4 AAÜG genannten Personengruppen vorhanden sind. Gleichzeitig wurde
darum gebeten, die konkreten Beweismittel anzugeben, die diesen Erkenntnissen zu
Grunde liegen würden.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen hat die Anfrage mit Schreiben vom
24. März 2006 wie folgt beantwortet:
Die Fraktion hat in dem Gesetzgebungsverfahren keine eigenen
Sachverständigen zu den von Ihnen benannten Beweisthemen herangezogen. Vielmehr
haben sich die Fraktionen – wie sich im Ansatz auch aus den Gesetzgebungsmaterialien
(vgl. BT-Drs. 15/5488, S. 4 unten) ergibt – auf die fachliche Expertise der
Bundesregierung gestützt, die zu dem Entwurf der damaligen Koalitionsfraktionen die
Zuarbeit geleistet hat.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat mit Schreiben vom 28. März 2006
unter anderem ausgeführt:
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Der Typisierung bei der Neufassung des § 6 Absatz 2 Nr. 4 AAÜG (Minister) liegt
der Schluss zugrunde, dass das im Versorgungssystem des MfS für alle
Qualifikationsstufen festgestellte Gesamtkonzept der Selbstprivilegierung erst recht für
die höchsten Partei- und Staatsämter im Kadernomenklatursystem der DDR gegolten
hat. Minister und stellvertretende Minister standen, wie allgemein zugänglichen Quellen
entnommen werden kann, mit an der Spitze des Kadernomenklatursystems. Das
Nomenklatursystem war Ausdruck der führenden Rolle der SED, die mit Positionslisten,
in denen praktisch alle in der DDR zu besetzenden Führungspositionen verzeichnet
waren, die Besetzung dieser Posten steuerte. Die Beschlussorgane des Zentralkomitees
bestimmten so über insgesamt rund 9.000 hohe und höchste Führungspositionen. Das
Politbüro als wichtigster Entscheidungsträger der DDR behielt sich beispielsweise die
Besetzung der Ministerposten vor, während die stellvertretenden Minister grundsätzlich
vom Sekretariat des Zentralkomitees bestimmt wurden.
Die Bundestagsfraktion der SPD hat mit Schreiben vom 31. März 2006 Folgendes
geantwortet:
Sie haben uns als SPD-Bundestagsfraktion gebeten, die Begründung des vom
Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der beiden
Abgeordneten der PDS beschlossenen Anspruchs- und
Anwartschaftsüberprüfungsgesetzes näher zu erläutern und zur Überprüfung dieser
Begründung ggf. mögliche sachverständige Zeugen zu benennen. Zu Ihren Fragen hat
bereits das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales Stellung genommen.
Wir verweisen auf diese Stellungnahme.
Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik hat auf Anfrage im Schreiben vom 11. April 2006
unter anderem mitgeteilt:
Im Ergebnis umfangreicher Recherchen liegen keine Erkenntnisse über eine
Einflussnahme des Klägers auf die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit während
seiner Tätigkeit als Minister für Land- und Forstwirtschaft oder als Minister für
Naturschutz, Umweltschutz und Wasserwirtschaft vor.
Vorhanden ist ein IM-Vorgang, aus dem hervorgeht, dass Herr R. (der Kläger) in
der Zeit vom 27. September 1950 bis 31. Oktober 1953 als Inoffizieller Mitarbeiter der
Kategorie GI (Geheimer Informator) unter dem Decknahmen "B. H (auch H B.)"
registriert war. Die vorliegende, kombinierte Personal- und Arbeitsakte umfasst 79
Seiten. Geführt wurde Herr R. von der Abteilung VI, die für den zivilen Staatsapparat
zuständig war, sein Führungsoffizier war E.G.
Seine handschriftliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem
Staatssicherheitsdienst datiert vom 27. September 1950.
Eingesetzt wurde Herr R. zur Informationslieferung über Stimmungen und
Personen aus dem Bereich der Landwirtschaft und der DBD (Demokratische
Bauernpartei Deutschlands).
Im Jahr 1953 wurde der IM-Vorgang abgeschlossen, da Herr R. ab März 1953 als
Minister im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft tätig war und "die Verbindung zu
ihm auch offiziell bestehen kann" (aus: Beschluss über das Abbrechen der Verbindung
vom 31. Oktober 1953).
Das Gericht hat folgende sachverständige Zeugen vernommen: L K (Referatsleiter im
Bundesministerium für Arbeit und Soziales) und H Z (Referatsgruppenleiter bei der
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik).
Der Zeuge K hat dabei unter anderem ausgeführt:
Das Bundesministerium hat den Fraktionen eine Formulierungshilfe zugeleitet,
die im Ergebnis der Begründung des Gesetzentwurfs in der Drucksache 15/5314
entspricht.
Das Ministerium hatte für diesen Entwurf die bisherigen Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts analysiert. Das Bundesverfassungsgericht hatte deutlich
gemacht, dass dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten offen stehen, eine
verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Mit der Neuregelung sollte ein
Wertungswiderspruch zu § 7 AAÜG vermieden werden. Man hat versucht, an zwei
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Wertungswiderspruch zu § 7 AAÜG vermieden werden. Man hat versucht, an zwei
Kriterien anzusetzen: Zum einen an der Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS. Es
liegen keine Kenntnisse vor, dass Minister oder deren Stellvertreter eine
Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS besessen haben. Der zweite Aspekt bestand in
der Überlegung, dass die höchsten Positionen der DDR Teil eines Systems der
Selbstprivilegierung waren, so wie es das Bundesverfassungsgericht bereits für den
Personenkreis des § 7 AAÜG herausgearbeitet hatte.
Nach unserer Erkenntnis gehörten über 300.000 Personen zum
Kadernomenklatursystem der DDR. Hiervon wurde der Spitzenbereich ausgewählt, da
jedenfalls dort nicht nur die fachliche Qualifikation entscheidend dafür war, dass diese
Personen eine bestimmte Position ausüben durften. Ausschlaggebend war vielmehr
typischerweise auch ein politisches Treueverhältnis zu Partei und Staat.
Frage: Was verstehen Sie unter dem System der Selbstprivilegierung?
Wenn dieses Prinzip beim MfS gegolten haben soll, dann muss es erst Recht bei
den Weisungsberechtigten gegolten haben.
Frage: Wie verhält es sich dann bei den Ministern der DDR?
Das ist der Bereich von Personen auf der höchsten Ebene des
Kadernomenklatursystems. Es gibt hierbei eine Parallele zu dem gerade genannten
Personenkreis. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass – wie bei dem
Personenkreis des § 7 AAÜG – ein System der Selbstprivilegierung bestanden hat.
Frage: Welche Vergünstigungen bestanden für Minister der DDR?
Dem Ministerium liegen keine Erkenntnisse hierzu vor. Ich kann nicht sagen,
welche Erkenntnisse die Fraktionen besessen haben.
Frage der Beklagtenvertreterin: Wie unterscheidet sich Ihrer Ansicht nach das
Treueverhältnis eines Ministers der Bundesrepublik und dessen Parteidisziplin zu
demjenigen eines Ministers der DDR?
Diesen Vergleich muss ich jetzt nicht darlegen. Es geht konkret bei diesem
Gesetz um einen anderen Ansatz. Man hat geschaut: Wer ist Teil des
Nomenklatursystems. Wer fällt unter die höchste Stufe. Dann ist dieser Bereich, der ihm
unstreitig angehört hat, ausgewählt worden, im konkreten Fall die Minister.
Frage der Beklagtenvertreterin: Gab es bei der Gesetzesvorbereitung unter dem
Aspekt der Entlohnung konkrete Erkenntnisse darüber, dass ein Minister ein überhöhtes
Gehalt bekommen hat, beispielsweise im Vergleich zu einer Tätigkeit eines
Generaldirektors im Wirtschaftsbereich?
Überlegungen zur Entgeltüberhöhung waren nicht der Ansatzpunkt für die
aktuelle gesetzliche Regelung. Die Gehaltsstruktur hat hierbei keine Rolle gespielt.
Frage: Welche Fakten außerhalb der Höhe des Entgelts haben Sie zu der
Schlussfolgerung geführt, dass die Minister der DDR einem System der
Selbstprivilegierung angehört haben?
Ich kann mich leider nur wiederholen. Der Gesetzgeber hat es als
Wertungswiderspruch angesehen, wenn man ein System nach § 7 AAÜG annimmt und
dieses System dann nicht bei den höchsten Funktionen der Staatsführung ebenso
annimmt.
Frage: Gibt es Erkenntnisse aus der Literatur zu dem genannten System der
Selbstprivilegierung?
Wir haben Literatur ausgewertet zu den Einzelheiten des
Kadernomenklatursystems. Es sind mir keine Fundstellen in der Literatur zur
Selbstprivilegierung bekannt außerhalb der Fundstellen des Bundesverfassungsgerichts.
Frage: Sind Ihnen aus dem Ministerrat der DDR konkrete Minister bekannt, die
nicht über die notwendige fachliche Qualifikation verfügt haben?
Mir liegen keine Erkenntnisse über die persönliche Eignung einzelner Minister
oder deren Stellvertreter vor.
Frage: Haben Vorzüge bei der Versorgung, etwa durch Betriebe wie "versina"
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Frage: Haben Vorzüge bei der Versorgung, etwa durch Betriebe wie "versina"
oder "VEB Spezialbau P. bei den Erwägungen des Gesetzgebers eine Rolle gespielt?
Das ist mir nicht bekannt.
Frage: Gibt es tatsächliche Erkenntnisse darüber, warum bestimmte Bereiche
aus der höchsten Nomenklatur-Ebene nicht in die Neufassung von § 6 Absatz 2 AAÜG
aufgenommen wurden, beispielsweise aus den Blockparteien?
Diese Frage umfasst nicht die Fragestellung, zu der ich als sachverständiger
Zeuge geladen wurde.
Der Zeuge Z hat unter anderem ausgeführt:
Frage: Wie ist die Formulierung in dem Schlussvermerk der MfS-Akte von Herrn
R. zu verstehen, dass "die Verbindung zu ihm auch offiziell bestehen kann"?
Das ist ein wörtliches Zitat. Herr R. war nun in einer Funktion tätig, wo man ganz
offiziell mit ihm Kontakt halten konnte. Offensichtlich war dann die
Informationssammlung aus dem Bereich der Landwirtschaft auf dem bisherigen Weg so
nicht mehr notwendig.
Frage: Bestand auch nach dem Amtsantritt als Minister eine Tätigkeit von Herrn
R. für das MfS?
Nein. Damit endete seine Tätigkeit für das MfS.
Frage: Hat dann eine andere Person diese Funktion als IM übernommen?
Diese Stimmungsberichte aus dem Bereich der Landwirtschaft hat ja nie nur ein
IM geliefert. Ich kann nicht sagen, ob speziell der Aufgabenbereich von Herrn R.
nachbesetzt worden ist.
Es gibt keine Unterlagen darüber, dass Herr R. selbst als Minister weiter solche
Stimmungsberichte für das MfS angefertigt hat.
Die Lieferung solcher Stimmungsberichte wäre über das hinausgegangen, was in
dem zitierten Vermerk als "offizielle Verbindung" verstanden wird.
Es gibt keine Unterlagen darüber, ob oder welche Informationen Herr R. nach
seinem Amtsantritt als Minister an das MfS geliefert hat.
Frage: Wie verhielt es sich mit den von Herrn R. geschilderten Besuchen eines
Verbindungsoffiziers des MfS in seinem Ministerbüro?
Der Inhalt solcher Gespräche wurde in die zentrale Informationsgruppe weiter
geleitet und für allgemeine Lageberichte des MfS verwendet. Aus diesen Berichten lässt
sich aber nicht mehr erkennen, von welcher Person konkret welche einzelne Information
stammt.
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass es dem MfS untersagt war,
bestimmte Nomenklatur-Kader zu überwachen. Da gehörte die Ministerebene dazu. Das
MfS war ja kein Staat im Staat, sondern musste die Beschlüsse der Partei durchsetzen.
Minister wurden auch nicht rekrutiert im Sinne einer inoffiziellen
Zusammenarbeit.
Wir besitzen Unterlagen darüber, dass das MfS aufgezeichnet hat, mit welchen
Personen der ständigen Vertretung sich Herr R. getroffen hat oder wann er ins Ausland
gereist ist. Es handelt sich dabei allerdings nur um reine Aufzählungen, ohne dass über
Inhalte berichtet wird. Das sind Unterlagen der Spionageabwehr bzw. der Abteilung
Passkontrolle.
Über die Gespräche des Verbindungsoffiziers mit Herrn R. in seiner Eigenschaft
als Minister gibt es keine Aufzeichnungen. Ich könnte über den Sinn und Zweck der
Besuche des Verbindungsoffiziers nur spekulieren. Wir haben auch dazu keine
Unterlagen.
Zur Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS kann ich sagen: Weisungsbefugt war
das Politbüro als Organ, genauso das ZK als Gremium sowie der Generalsekretär des
ZK. Einzelne Fachminister hatten keine Weisungsbefugnis. Auch die SED-Funktionäre auf
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ZK. Einzelne Fachminister hatten keine Weisungsbefugnis. Auch die SED-Funktionäre auf
Kreis- oder Bezirksebene hatten keine Weisungsbefugnisse gegenüber Mitarbeitern des
MfS außerhalb der Kreiseinsatzleitung im Fall der Mobilmachung oder des
Verteidigungsfalls.
Frage: Besitzen Sie Erkenntnisse über Zuwendungen des MfS an Minister der
DDR?
Wir haben uns auf die Überprüfung in den beiden heute hier verhandelten Fällen
beschränkt. Dazu kann ich sagen, dass wir keine Erkenntnisse besitzen. Mir sind auch
keine Zuwendungen an andere Minister oder deren Stellvertreter bekannt.
Mir ist auch nicht bekannt, dass Betriebe des MfS für die private Nutzung durch
Minister oder deren Stellvertreter eingesetzt worden sind. Bekannt ist ja, dass Betriebe
aus dem Bereich Koko für die Bewohner der Siedlung W.eingesetzt worden sind. Dass
Ähnliches auch zu Gunsten von Ministern oder deren Stellvertretern geschehen ist, ist
mir nicht bekannt.
Sofern es Zuwendungen für die private Versorgung von Ministern oder anderen
Spitzenfunktionären gegeben haben sollte, wäre das meines Erachtens jedenfalls nicht
über Betriebe des MfS gelaufen, sondern über den Bereich Koko. Zum Bereich Koko
besitzen wir die nachrichtendienstlichen Unterlagen, die größtenteils aus dem Bereich
der Spionageabwehr kommen, aber nicht die geschäftlichen Unterlagen. Ich weiß nicht,
wo sich diese geschäftlichen Unterlagen befinden.
Frage: Besitzen Sie Erkenntnisse über eine Privilegierung von Ministern in der
DDR?
Konkrete Regeln für eine Privilegierung von Ministern oder anderen
Spitzenfunktionären gab es vermutlich nicht. Mir ist kein Norm-System eines "Systems
der Selbstprivilegierung" bekannt. Sicherlich waren bestimmte Funktionsgruppen bei der
Versorgung mit Waren oder Dienstleistungen faktisch bevorzugt. Ich kann aber nicht
sagen, dass sich eine solche Bevorzugung nur auf die von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasste
Personengruppe beschränkt hätte.
In einer Mangelwirtschaft entsteht bei der Versorgung schnell ein System der
Privilegierung bei der Versorgung mit Wirtschaftsgütern. Die Frage war dann immer, wer
den ersten Zugriff besitzt. Als Minister hatte man beispielsweise Zugang zu dem
G.Laden am A. Aber Genaueres kann ich dazu nicht sagen.
Zum weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift der
mündlichen Verhandlung vom 19. April 2006 verwiesen.
Der Kläger beantragt,
1. folgende Bescheide der Beklagten zu 2) abzuändern:
Bescheid vom 15. Juli 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27. Januar 1995 und der Änderungsbescheide vom 24. Januar 1997, 12. August 2002
und 11. November 2005
und die Beklagte zu 2) zu verurteilen, den tatsächlichen Arbeitsverdienst
festzustellen und § 6 Abs. 2 AAÜG nicht anzuwenden.
2. folgende Bescheide der Beklagten zu 1) abzuändern:
Bescheid vom 30. November 1994 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 1997, geändert durch die Bescheide vom 19.
Juni 1998, 6. Januar 2000, 18. Februar 2002, 13. Mai 2004 und 9. Dezember 2005 und die
Beklagte zu 1) zu verpflichten, bei der Rentenberechnung das tatsächlich erzielte
Arbeitsentgelt ohne Anwendung der besonderen Bemessungsgrenze nach § 6 Abs. 2
AAÜG zu berücksichtigen.
Die Beklagtenvertreterin beantragt,
die Klagen gegen die Beklagte zu 1) und die Beklagte zu 2) abzuweisen.
Wegen des Sachverhalts wird im Übrigen auf die gewechselten Schriftsätze, auf die
Sitzungsniederschriften vom 8. März, 19. April und 9. Juni 2006 Bezug genommen sowie
auf die Verwaltungsakten des Zusatzversorgungsträgers und des
Rentenversicherungsträgers.
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II.
Das Verfahren ist gemäß Artikel 100 Absatz 1 Grundgesetz (GG) auszusetzen, da die
Kammer davon überzeugt ist, dass § 6 Absatz 2 AAÜG auch in der Fassung des
Änderungsgesetzes 2005 gegen Artikel 3 Grundgesetz verstößt.
Von der Wirksamkeit des § 6 Absatz 2 AAÜG hängt die abschließende Entscheidung der
Hauptsache ab. Wenn § 6 Absatz 2 AAÜG verfassungsgemäß ist, muss die Kammer die
Klagen gegen den Zusatzversorgungsträger und gegen den Rentenversicherungsträger
abweisen. Andernfalls ist jedenfalls die Klage gegen den Rentenversicherungsträger
erfolgreich.
Die angegriffenen Bescheide entsprechen dem geltenden einfachen Recht. Die Beklagte
hat bei der Rechtsanwendung insbesondere die Rechtsauffassung des
Bundessozialgerichts beachtet, wie sie in dessen Entscheidung vom 31. Juli 2002 zum
Ausdruck gekommen ist (Aktenzeichen: B 4 RA 24/01 R, Fundstelle: juris). Die Kammer
schließt sich der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts an. Die zitierte
Entscheidung des Bundessozialgerichts ist den Beteiligten bekannt und mit den
Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ausführlich besprochen worden.
Die angegriffenen Bescheide entsprechen dem einfachen Recht auch dahin, dass im
streitigen Zeitraum zutreffend § 6 Absatz 2 AAÜG angewandt wurde.
1) § 7 AAÜG
Für den Kläger gilt nicht die besondere Begrenzungsregel für Angehörige des
Sonderversorgungssystems des Ministeriums für Staatssicherheit (§ 7 AAÜG). Das
Bundesverwaltungsamt hat daher zu Recht keine Feststellungen nach § 7 AAÜG
getroffen.
§ 7 AAÜG ist zum einen anwendbar auf Personen, die ausdrücklich in das
Versorgungssystem des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit einbezogen
waren. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall, nicht erfüllt. Es ist nicht feststellbar,
dass der Kläger dem Versorgungssystem des MfS angehört hat. Ebenso wie andere IM
ist der Kläger auch während seiner Zeit als Geheimer Informator nicht in das
Versorgungssystem des MfS aufgenommen worden. § 7 AAÜG ist zum anderen
anzuwenden auf sonstige hauptberufliche Mitarbeiter des Ministeriums für
Staatssicherheit. Das sind gemäß Absatz 2 Personen, die als Offiziere der
Staatssicherheit im besonderen Einsatz oder in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zu
dem Ministerium für Staatssicherheit verdeckt tätig gewesen sind. Auch das ist
vorliegend nicht der Fall. Im Schlussvermerk der MfS-Akte des Klägers ist zwar die Rede
davon, dass mit dem Amtsantritt als Minister "die Verbindung zu ihm auch offiziell
bestehen kann". Diese "offizielle Verbindung" bedeutete jedoch kein Dienst- oder
Arbeitsverhältnis im Sinne des § 7 AAÜG. Der sachverständige Zeuge Z hat vielmehr
ausdrücklich festgestellt, dass damit "die Tätigkeit des Klägers für das MfS endete". Bei
der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes sind
dementsprechend keine Dokumente vorhanden, die ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis
des Klägers mit dem MfS belegen würden. Allein darauf kommt es bei der Prüfung des §
7 AAÜG an. Die moralische und politische Bewertung der Kontakte des Klägers mit dem
MfS dürfen auf die Entscheidung des Gerichts keinen Einfluss nehmen, das auf eine rein
rentenrechtliche Prüfung des Falls beschränkt ist. Sofern sich der Kläger bei diesen
Kontakten nach heutigem Recht strafbar gemacht haben sollte, wäre es Sache der
Strafverfolgungsbehörden, eine entsprechende Überprüfung einzuleiten.
2) Tatbestand des § 6 Absatz 2 AAÜG
Der Tatbestand des § 6 Absatz 2 AAÜG in der Fassung des Änderungsgesetzes-2005 ist
im streitigen Zeitraum erfüllt.
a) Funktion
Der Kläger übte im streitigen Zeitraum zwischen 17. Mai 1953 und 12. Juli 1967 und vom
9. März 1972 bis 13. Januar 1990 eine Funktion im Sinne von § 6 Absatz 2 Nr. 4 AAÜG in
der Fassung des Änderungsgesetzes 2005 aus. Das gilt auch für die Zeit vom 5. Juni
1963 bis zum 12. Juli 1967, in welcher der Kläger als "Stellvertreter des
Produktionsleiters" tätig war. Das Landwirtschaftsministerium war zwar zwischenzeitlich
im amtlichen Sprachgebrauch der DDR umbenannt worden zur "Produktionsleitung des
Landwirtschaftsrates für den Bereich pflanzliche Produktion". Dementsprechend hieß der
Minister offiziell "Produktionsleiter". Für die rentenrechtliche Bewertung dieser Tätigkeit
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Minister offiziell "Produktionsleiter". Für die rentenrechtliche Bewertung dieser Tätigkeit
änderte sich durch diese Umbenennung jedoch nichts. Der "Produktionsleiter des
Landwirtschaftsrates" war in dieser Zeit Mitglied des Ministerrats. Alle Mitarbeiter der
Produktionsleitung wurden von der Besoldung und dienstrechtlich behandelt wie
Mitarbeiter eines Ministeriums. Die "Produktionsleitung" war lediglich eine andere
Bezeichnung für das Landwirtschaftsministerium. Folgerichtig erhielt der Kläger auch in
dieser Zeit die Bezüge eines Stellvertretenden Ministers.
b) Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem
Aus der Beitragskarte und den übrigen von dem Zusatzversorgungsträger und dem
Rentenversicherungsträger beigezogenen Unterlagen ergibt sich zweifelsfrei, dass der
Kläger der Freiwilligen zusätzliche Altersversorgung für hauptamtliche Mitarbeiter des
Staatsapparats angehörte, also dem Zusatzversorgungssystem Nummer 19 der Anlage
1 zum AAÜG.
c) Begrenzung der Entgelte auf die Werte der Anlage 5
Folgerichtig hat der Zusatzversorgungsträger gemäß § 6 Absatz 2 AAÜG die
Arbeitsentgelte für die spätere Rentenberechnung auf die Werte der Anlage 5 begrenzt
oder in der Terminologie der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 20. Dezember
2001 (Aktenzeichen B 4 RA 6/01 R) jedenfalls festgestellt, dass die tatsächlichen
Voraussetzungen für eine Begrenzung nach § 6 Absatz 2 AAÜG vorliegen. Der
Rentenversicherungsträger war gemäß § 259b SGB VI verpflichtet, bei der Ermittlung der
Entgeltpunkte die gekürzten Entgelte zugrunde zu legen.
Der Kläger besitzt einen Anspruch auf höhere Rente, wenn § 6 Absatz 2 AAÜG
verfassungswidrig ist. Bei der Rentenberechnung ist dann auch für den streitigen
Zeitraum das tatsächliche Arbeitsentgelt mit den Werten der Anlage 10 zu
vervielfältigen und bei der Rentenberechnung bis zur allgemeinen
Beitragsbemessungsgrenze zu berücksichtigen (§ 6 Absatz 1 AAÜG in Verbindung mit §
259b SGB VI). Dadurch ergibt sich – wie die Probeberechnung zeigt – ein höherer
Rentenzahlbetrag.
d) Kompetenzverteilung zwischen Zusatzversorgungsträger und
Rentenversicherungsträger
Die unterschiedlichen Rechtsauffassungen zur Kompetenzverteilung zwischen
Zusatzversorgungsträger und Rentenversicherungsträger im Zusammenhang mit § 6
Absatz 2 AAÜG ändern im Ergebnis nichts an der Entscheidungserheblichkeit der
Vorlagefrage für das vorliegende Verfahren.
Nach Auffassung der Kammer müssten bei einer Verfassungswidrigkeit von § 6 Absatz 2
AAÜG die Bescheide des Zusatzversorgungsträgers aufgehoben werden, soweit sie eine
verbindliche Begrenzung der Arbeitsentgelte im streitigen Zeitraum auf die Werte der
Anlage 5 geregelt haben. Die Bescheide des Zusatzversorgungsträgers regeln eine
solche Begrenzung. Der Zusatzversorgungsträger wollte diese Begrenzung ausdrücklich
vornehmen, wie sich aus den Zusätzen zu den streitigen Bescheiden ergibt ("Die
Begrenzung ergibt ...", " ... wurden auf den Wert der Anlage 5 zum AAÜG begrenzt").
Auch ein "mit der Sach- und Rechtslage vertrauter Adressat", auf den das
Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 2001 abgestellt hat,
konnte den Bescheid angesichts des klaren Wortlauts nur so verstehen. So hat ihn
beispielsweise auch der Rentenversicherungsträger verstanden. Dementsprechend hat
er im Rentenbescheid vom 30. November 1994 ausdrücklich festgestellt, dass der
Rentenbescheid selbst keine Regelung zur Begrenzung treffe, weil dies bereits vom
Zusatzversorgungsträger geregelt worden sei. Der Rentenbescheid enthielt daher den
Zusatz:
Bei der Rentenberechnung sind die vom Versorgungsträger im Entgeltbescheid
nach § 8 Absatz 3 AAÜG festgestellten Entgelte berücksichtigt worden. Einwendungen
gegen die Höhe dieser Entgelte sind nicht im Rahmen eines Widerspruchs gegen den
Rentenbescheid, sondern ausschließlich gegen den Entgeltbescheid beim
Versorgungsträger vorzubringen. Nach Abänderung des Entgeltbescheides wird die
Rente neu berechnet.
Nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Gerichte und der Gesetzgeber gingen
seinerzeit davon aus, dass die Begrenzung der Entgelte durch den
Zusatzversorgungsträger erfolgte und dass er dazu auch gesetzlich ermächtigt war. So
hat es beispielsweise das Bundessozialgericht in seinem Vorlagebeschluss vom 14. Juni
1995 ausdrücklich festgestellt (Aktenzeichen 4 RA 98/94). Danach "musste" der
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1995 ausdrücklich festgestellt (Aktenzeichen 4 RA 98/94). Danach "musste" der
Versorgungsträger – und nicht erst der Rentenversicherungsträger – das "nach § 6
Absatz 2 AAÜG kalenderjährlich begrenzte Arbeitsentgelt verbindlich feststellen".
Dementsprechend haben das Bundesverfassungsgericht (Aktenzeichen 1 BvL 22/95)
und ihm folgend der Gesetzgeber in Artikel 13 Absatz 7 des 2. AAÜG-ÄndG hinsichtlich
der rückwirkenden Aufhebung der Entgeltbegrenzung auf die Bestandskraft der
Überführungsbescheide (der Versorgungsträger) abgehoben und nicht auf die
Bestandskraft der Rentenbescheide.
Der Rentenversicherungsträger müsste bei einer Verfassungswidrigkeit von § 6 Absatz 2
AAÜG verurteilt werden, eine höhere Rente auf der Grundlage dieser Feststellungen zu
zahlen (§ 6 Absatz 1 AAÜG in Verbindung mit § 259 b SGB VI).
Nach der geänderten Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts würde die
Verfassungswidrigkeit von § 6 Absatz 2 AAÜG ebenfalls zu einem höheren
Rentenanspruch des Klägers führen. Im Ergebnis müsste jedenfalls der
Rentenversicherungsträger verurteilt werden, eine höhere Rente auf der Grundlage der
tatsächlichen Arbeitsentgelte des Klägers zu gewähren, wobei die Höhe der
Arbeitsentgelte lediglich durch die allgemeine Beitragsbemessungsgrenze zu begrenzen
wäre.
3) Vereinbarkeit mit Artikel 3 GG
Nach Überzeugung der Kammer ist § 6 Absatz 2 Nr. 4 AAÜG in der Fassung des
Änderungsgesetzes 2005 nicht mit Artikel 3 Absatz 1 GG vereinbar.
Artikel 3 Absatz 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln.
Damit ist dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das
Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere Gruppe
behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und
solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten
(ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 96, 315 (325)).
Für den vorliegenden Fall bedeutet das: Es muss ein vernünftiger, einleuchtender Grund
bestehen, warum gerade bei dieser Personengruppe die Rentenansprüche gekürzt
werden.
a) Benachteiligung gegenüber anderen Rentenberechtigten Unstreitig führt § 6 Absatz 2
AAÜG zu einer Benachteiligung gegenüber anderen Rentnern aus dem Beitrittsgebiet,
bei deren Rentenberechnung grundsätzlich die tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte
berücksichtigungsfähig sind. Die Obergrenze bildet dort lediglich die allgemeine
Beitragsbemessungsgrenze.
• Dazu rechnen vor allem Personen, die zwar einem der in § 6 Absatz 2 AAÜG
genannten Zusatz- oder Sonderversorgungssysteme angehörten, die jedoch keine der
im Gesetz genannten Funktionen ausgeübt haben.
• Besser gestellt sind auch alle Rentner, die nur in der Sozialpflichtversicherung
und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung versichert waren. Nach § 307 a SGB VI
(Bestandsrentner) und §§ 256 a, 159 SGB VI (Zugangsrentner) sind bei ihnen ebenfalls
die tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen bis zur allgemeinen
Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigungsfähig.
b) Kein sachlicher Grund für die Auswahl des betroffenen Personenkreises
Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, der diese Ungleichbehandlung rechtfertigen
könnte. Auch nach Abschluss der Beweisaufnahme ist für die Kammer nicht erkennbar,
nach welchen verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien der Personenkreis des § 6 Absatz
2 AAÜG ausgewählt wurde. Der Gesetzgeber hat zwar verschiedene Merkmale genannt,
die zur Bestimmung des Personenkreises geführt haben sollen. Zur Überzeugung der
Kammer geben die genannten Merkmale jedoch keine schlüssige Begründung dafür,
dass gerade dieser Personenkreis von der Kürzungsregelung erfasst wird. Die genannten
Merkmale treffen teilweise auf die erfassten Personen gar nicht zu oder betreffen
umgekehrt eine viel größere Anzahl von Funktionären der DDR. Unabhängig davon sind
die genannten Merkmale ohnehin nicht geeignet, einen Eingriff in rentenrechtliche
Positionen der Betroffenen zu rechtfertigen.
(aa) Weisungsbefugnis gegenüber MfS
Die Auswahl des Personenkreises wird vom Gesetzgeber im Wesentlichen damit
begründet, dass insbesondere die Funktionäre ausgewählt wurden, "die auch eine
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begründet, dass insbesondere die Funktionäre ausgewählt wurden, "die auch eine
Weisungsbefugnis gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS)" besaßen
(Bundestags-Drucksache 15/5314). Bereits im Gesetzentwurf vom 19. April 2005 wird die
Auffassung vertreten, dass ein "rechtlicher und sozialpolitischer Widerspruch" entstünde,
wenn die Rentenansprüche dieser Funktionäre nicht gekürzt würden, wo doch auf der
anderen Seite die Renten der unmittelbaren Mitarbeiter des MfS gekürzt werden dürften
(Bundestags-Drucksache 15/5314). Dieses Argument wird in der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung bekräftigt (Bundestags-
Drucksache 15/5488). In der Abschlussberatung des Bundestags am 12. Mai 2005
haben die Vertreter von SPD, Bündnis 90 / Die Grünen sowie der CDU ebenfalls auf
dieses Kriterium verwiesen (vergleiche Sitzungsprotokoll zum Tagesordnungspunkt 18).
Der Gesetzgeber ging allerdings von falschen Voraussetzungen aus, als er wegen der
"Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS" für den Personenkreis des § 6 Absatz 2 Nr. 4
AAÜG eine Rentenkürzung anordnete. § 6 Absatz 2 Nr. 4 AAÜG erfasst Minister,
stellvertretende Minister oder stimmberechtigte Mitglieder von Staats- oder Ministerrat
oder ihre jeweiligen Stellvertreter. Abgesehen vom Minister für Staatssicherheit selbst
besaß jedoch kein Minister der DDR und auch kein Stellvertreter des Ministers eine
Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS. Auch der Kläger besaß im streitigen Zeitraum
keine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS. Es ist keine Rechtsnorm der DDR
erkennbar, wonach beispielsweise dem Landwirtschaftsminister, dem Umweltminister
oder einem sonstigen Minister eine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS eingeräumt
wurde. Eine solche Weisungsbefugnis existierte auch nicht in der politischen Realität der
DDR. Der sachverständige Zeuge Z hat nach Auswertung umfangreicher Unterlagen aus
dem Archiv der Bundesbeauftragten schlüssig und überzeugend vorgetragen, dass kein
Fachminister der DDR eine Weisungsbefugnis gegenüber dem Minister für
Staatssicherheit oder Mitarbeitern des Ministeriums besaß. Speziell zum Kläger hat er
zusätzlich festgestellt, dass sich aus den Akten nicht einmal der Versuch des Klägers
ergibt, dem MfS eine Weisung zu erteilen. Eine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS
besaßen nach den überzeugenden Angaben des Zeugen im Wesentlichen nur das
Politbüro der SED als Organ, das Zentralkomitee als Organ sowie der Generalsekretär
des Zentralkomitees. Gerade die Zugehörigkeit zum Zentralkomitee der SED ist jedoch
von § 6 Absatz 2 AAÜG nicht erfasst, während umgekehrt viele Personengruppen
(darunter Minister und deren Stellvertreter) erfasst sind, die gerade keine
Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS besaßen.
Unabhängig davon wäre die abstrakte Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS ohnehin
kein geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Ungleichbehandlung bei der Berechnung der
allgemeinen Altersrente. Das liegt an dem Konzept, mit dem der Gesetzgeber die
Grundsätze des Einigungsvertrags für die Berechnung der allgemeinen Altersrente
umgesetzt hat.
Der Einigungsvertrag hatte dem Gesetzgeber zwei Möglichkeiten eröffnet, um
Rentenansprüche, die in der DDR entstanden waren, zu kürzen oder sogar vollständig
abzuerkennen:
1. eine Einzelfall-Überprüfung auf schwere persönliche Verfehlungen des
Berechtigten (Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit, schwerwiegender
Missbrauch der beruflichen Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer)
2. eine typisierende Beschreibung von Personengruppen, die in der DDR auf
Grund politischer Begünstigung einen Anspruch auf überhöhte Leistungen erworben
hatten.
(vergleiche Anlage II zum Einigungsvertrag, Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9
Buchst. b).
Für das allgemeine Rentenrecht (Ansprüche nach dem Sechsten Buch des
Sozialgesetzbuchs in Verbindung mit dem AAÜG) hat der Gesetzgeber nicht von der
Möglichkeit einer Einzelfall-Prüfung nach Nr. 1 Gebrauch gemacht. Darin liegt ein
wesentlicher Unterschied zu anderen sozialrechtlichen Regelungen, beispielsweise zum
Entschädigungsrentengesetz (ERG). § 5 Absatz 1 ERG lautet:
"Entschädigungsrenten sind nicht zu bewilligen, zu kürzen oder abzuerkennen,
wenn der Berechtigte ... gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der
Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum
eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat."
Entscheidend sind nach dem ERG die persönlichen Verfehlungen des Berechtigten. Die
Kürzung der Entschädigungsrente kann nur mit einem konkreten und beweisbaren
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Kürzung der Entschädigungsrente kann nur mit einem konkreten und beweisbaren
Verstoß gegen die genannten Grundsätze begründet werden. Die typisierende
Beschreibung von Personengruppen reicht in diesem Zusammenhang nicht aus. Am
Beispiel der Minister der DDR würde also keine typisierende Vermutung ausreichen, dass
"die" Minister bei ihrer Amtsführung gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen
haben. Es müsste vielmehr jedem einzelnen Minister ein konkreter Verstoß
nachgewiesen werden. Diese Voraussetzung stellt die Behörden vor keine
unüberwindlichen Hindernisse. So hat die Kammer beispielsweise im vergangen Jahr die
vollständige Aberkennung einer Entschädigungsrente bestätigt. Der Behörde war der
Nachweis gelungen, dass ein langjähriger Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS
gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatte
(Aktenzeichen S 35 RA 3631/92 W 97, Fundstelle: elektronische Entscheidungssammlung
juris und Homepage des Berliner Sozialgerichts www.berlin.de/sg Rubrik
"Pressemitteilungen und aktuelle Entscheidungen").
Der Gesetzgeber hat sich jedoch beim AAÜG auch im Änderungsgesetz 2005 nicht für
diesen Weg der Einzelfall-Prüfung entschieden. Er hat bei der Auswahl der
Personengruppen des § 6 Absatz 2 AAÜG nicht auf persönliche Verfehlungen abgestellt.
Der Gesetzgeber hat vielmehr die zweite Variante des Einigungsvertrags genutzt:
Danach darf der Gesetzgeber die Rente von Personengruppen kürzen, die in der DDR
typischerweise "überhöhte Leistungen" erhalten haben. Entscheidend ist also mit
anderen Worten, ob die Personengruppen politisch begründete und damit überhöhte
Arbeitsverdienste erhalten haben, die dann zu überhöhten Rentenleistungen führen. Ob
einzelne Menschen aus diesen Personengruppen gleichzeitig
Menschenrechtsverletzungen begangen haben, ist in diesem rentenrechtlichen
Zusammenhang daher unbeachtlich. Unbeachtlich ist folglich auch die politische oder
moralische Bewertung der Tätigkeit.
Eine rentenrechtliche Gleichsetzung von MfS-Mitarbeitern und Funktionären mit MfS-
Weisungsbefugnis könnte also in diesem Zusammenhang nicht allein auf Grund einer
politischen oder moralischen Wertung erfolgen. Eine rentenrechtliche Gleichsetzung
dürfte nur erfolgen, wenn festgestellt wird, dass beide Gruppen gleichermaßen
überhöhte Arbeitsverdienste in der DDR erhalten haben. Bisher sind solche überhöhten
Arbeitsverdienste jedoch nur für die MfS-Mitarbeiter festgestellt worden. Für den
Personenkreis, der nach dem Änderungsgesetz 2005 von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasst
wird, fehlen solche Feststellungen.
Die Entgelt-Struktur des MfS ist durch eine wissenschaftliche Studie erforscht worden,
die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ausreichende Belege für ein MfS-
internes System der Selbstprivilegierung enthält (Entscheidung vom 28. April 1999,
Aktenzeichen 1 BvL 11/94):
• Ein differenziertes System finanzieller Leistungen, die als
versicherungsrelevante Prämien, Zulagen und Zuschläge zusätzlich zur Besoldung
erbracht wurden.
• Der Umstand, dass Zivilbeschäftigte "aus Gründen der erhöhten
Wachsamkeit" schon frühzeitig in ein militärisches Dienstverhältnis übernommen worden
waren. Damit kamen auch untere Gehaltsgruppen (Handwerker, Pförtner, Küchenhilfen.
Reinigungskräfte) in den Genuss der beschriebenen Vergünstigungen.
• Ein System von Einrichtungen, das zwar der Form nach den Einrichtungen in
den Betrieben und sonstigen Institutionen der Deutschen Demokratischen Republik
entsprach, tatsächlich aber die Mitarbeiter des MfS in vielerlei Hinsicht privilegierte.
• Sogar noch in der Phase der Auflösung des MfS/AfNS wurde die Versorgung
vieler Mitarbeiter der Staatssicherheit durch Ausgleichszahlungen in der Gestalt von
"Übergangsbeihilfen" und "gesonderten Übergangsgebührnissen" aufgestockt.
Die Kürzung der allgemeinen Altersrenten von MfS-Mitarbeitern war und ist also nicht
dadurch gerechtfertigt, dass die Mitarbeiter des MfS gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben (im Unterschied zu der oben
geschilderten individuellen Kürzung von Renten nach dem Entschädigungsrentengesetz).
Entscheidend ist auch nicht die Position der einzelnen MfS-Mitarbeiter innerhalb der
Nomenklatur der DDR. Nach § 7 AAÜG dürfen nicht nur die Entgelte von MfS-Generälen
bei der Rentenberechnung gekürzt werden, sondern auch von allen nachrangigen
Angehörigen des MfS-Sonderversorgungssystems. Beispiel: Ein ungelernter Mitarbeiter
des MfS, der nach einer internen "Ausbildung" zum Berufskraftfahrer in den Rang eines
Leutnants befördert wurde (siehe dazu das Urteil der 18. Kammer des Berliner
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Leutnants befördert wurde (siehe dazu das Urteil der 18. Kammer des Berliner
Sozialgerichts, die eine Klage des Kraftfahrers gegen die Rentenkürzung abgewiesen hat,
Aktenzeichen S 18 RA 560/02).
Diese Kürzung für MfS-Mitarbeiter ist also allein dadurch gerechtfertigt, dass auf Grund
konkreter Ermittlungen festgestellt wurde, dass die Entgelte und sonstige
versicherungsrelevante Zuwendungen keinen Bezug zur realen Arbeitswelt der DDR
besaßen, sondern vielmehr ein System der Selbstprivilegierung darstellten. Nur im
Hinblick auf diese umfangreichen tatsächlichen Erkenntnisse kam das
Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber von einer
Sonderstellung der MfS-Mitarbeiter ausgehen durfte und daher ihre Arbeitsentgelte nach
§ 7 AAÜG in typisierender Weise begrenzen durfte.
Im Gegensatz dazu hob das Bundesverfassungsgericht am gleichen Tag die
Rentenkürzungen der DDR-Spitzenfunktionäre nach der ursprünglichen Fassung § 6
Absatz 2 AAÜG auf, weil keine ausreichenden tatsächlichen Erkenntnisse für die
Annahme des Gesetzgebers vorgelegen hatten, dass auch hier typischerweise
überhöhte Entgelte zu überhöhten Rentenansprüchen führten (Aktenzeichen 1 BvL
22/95). Das Bundesverfassungsgericht gab dem Gesetzgeber vielmehr auf, konkret zu
bestimmen, welcher Anteil des "Arbeits"-Entgelts nicht eine reale Arbeitsleistung
vergütete, sondern vielmehr auf einer politischen Vergünstigung beruhte.
Diese differenzierte Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht wiederholte sich im
Jahr 2004: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Verfassungsmäßigkeit der
Rentenkürzung für MfS-Mitarbeiter nach § 7 AAÜG (Entscheidung vom 22. Juni 2004,
Aktenzeichen 1 BvR 1070/02). Parallel dazu hob das Bundesverfassungsgericht jedoch
die Rentenkürzung nach § 6 Absatz 2 a.F. erneut auf. Das Bundesverfassungsgericht
rügte, dass auch in der Zwischenzeit keine ausreichenden Tatsachen ermittelt worden
seien, mit denen die Rentenkürzung gerechtfertigt werden könne (Entscheidung vom 23.
Juni 2004, Aktenzeichen 1 BvL 3/98).
Zur Überzeugung der Kammer hat sich an dieser verfassungsrechtlichen Bewertung
auch durch das AAÜG-Änderungsgesetz-2005 nichts geändert. Nach wie vor hat die
Kammer keine Zweifel daran, dass die Rentenkürzung für Mitarbeiter des MfS
verfassungsgemäß ist (§ 7 AAÜG). Die Kammer hat daher auch in jüngster Zeit
verschiedene Klagen von ehemaligen MfS-Mitarbeitern abgewiesen (Aktenzeichen S 35
RA , S 35 RA etc.).
Nach wie vor sind aber keine Tatsachen erkennbar, die eine rentenrechtliche
Gleichsetzung anderer Spitzenfunktionäre der DDR mit den Mitarbeitern des MfS
rechtfertigen:
• Die Personen, die aktuell von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasst werden, wurden nicht
nach dem Besoldungssystem des MfS bezahlt.
• Der Zeuge Z hat nach Auswertung der Unterlagen der Bundesbeauftragten
überzeugend und schlüssig festgestellt, dass auch der Kläger persönlich keine
Zuwendungen aus Mitteln des MfS erhalten hat. Auch für die übrigen Minister sind keine
solchen Zuwendungen bekannt.
• Anders als bei den Bewohnern der Siedlung Wandlitz (also den Mitgliedern des
Politbüro) lagen dem Zeugen hinsichtlich der Minister der DDR auch keine Erkenntnisse
vor, dass Betriebe des MfS für eine private Nutzung der Minister eingesetzt wurden.
• Die Minister waren nicht in das militärische Beförderungssystem des MfS
einbezogen. Sie gehörten nicht dem (Alters-)Sonderversorgungssystem des MfS an.
• Sie wurden nicht beim Zerfall des DDR-Machtsystems durch MfS-typische
Ausgleichszahlungen in der Gestalt von "Übergangsbeihilfen" und "gesonderten
Übergangsgebührnissen" privilegiert.
Da keine rentenrechtliche Vergleichbarkeit zwischen dem Personenkreis des § 7 AAÜG
(MfS-Mitarbeiter) und § 6 Absatz 2 AAÜG belegt ist, besteht zur Überzeugung der
Kammer auch dann kein rentenrechtlich relevanter "Wertungswiderspruch", wenn die
Rentenansprüche der MfS-Mitarbeiter gekürzt werden.
(bb) Überhöhte Entgelte
Zur Klarstellung weist die Kammer darauf hin, dass sie die Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts teilt: Der Abbau politisch überhöhter Leistungen bei der
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Bundesverfassungsgerichts teilt: Der Abbau politisch überhöhter Leistungen bei der
Überleitung von DDR-Rentenansprüchen ist ein einsichtiges und legitimes Ziel des
Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in der ersten Entscheidung
vom 28. April 1999 Hinweise gegeben, nach welchen Kriterien die einschlägigen Gruppen
ermittelt werden könnten. Das Bundesverfassungsgericht hatte beispielsweise
festgestellt, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Versorgungssystem und – als
zusätzliches Kriterium – die Höhe der Arbeitsentgelte nicht von vornherein ungeeignet
sind, den Tatbestand eines überhöhten Entgelts zu erfassen. Der Verstoß gegen Artikel
3 Grundgesetz lag nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch darin, dass der
Gesetzgeber keine ausreichenden Tatsachen ermittelt hatte, mit denen belegt werden
konnte, welche Bestandteile des Entgelts als politisch überhöht zu werten waren.
Insbesondere hatte der Gesetzgeber keine ausreichenden Zahlen über die Lohn- und
Gehaltsstrukturen in der Deutschen Demokratischen Republik ermittelt. Es fehlten
zuverlässige Erkenntnisse zum allgemeinen volkswirtschaftliche Mittelwert und zum
Einkommensgefüge in den Beschäftigungsbereichen, die gekürzt werden sollten.
Dem Gesetzgeber hätte auf Grund dieser Hinweise also folgende Möglichkeit offen
gestanden: Er konnte die allgemeine Lohn- und Gehaltsstrukturen in der DDR ermitteln.
Diese allgemeinen Zahlen musste er mit der Lohn- und Gehaltsstruktur der
"verdächtigen" Personengruppen vergleichen. Auf Grund dieses Vergleichs hätte
festgestellt werden können, bei welchen Personengruppen sich der Verdacht bestätigte,
dass überhöhten Entgelte an sie gezahlt wurden. Im nächsten Schritt hätte diese
Überhöhung bei der Rentenberechnung herausgefiltert werden können. Damit wäre
wirksam verhindert worden, dass ungerechtfertigte Funktionärs-Privilegien aus der Zeit
der SED-Diktatur nun auch noch bei der bundesdeutschen Rentenzahlung fort wirkten.
Von der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im April 1999 bis zum
Ablauf der letzten Frist im Juni 2005 besaß der Gesetzgeber sechs Jahre lang die
Gelegenheit, diese verfassungsrechtlichen Vorgaben umzusetzen. Der Gesetzgeber hat
diese Zeit jedoch nicht genutzt, um beispielsweise eine wissenschaftliche Studie über die
einschlägigen Lohn- und Gehaltsstrukturen in Auftrag zu geben oder sich auf andere
Weise die notwendigen tatsächlichen Erkenntnisse zu verschaffen. Im Gegenteil: Der
Gesetzgeber hat bei der Verabschiedung des AAÜG-Änderungsgesetzes-2005 den vom
Bundesverfassungsgericht gewiesenen Weg nunmehr vollständig verlassen. Nach
Angaben des zuständigen Referatsleiters im Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
dem sachverständigen Zeugen Köhler, waren "Überlegungen zur Entgeltüberhöhung
nicht der Ansatzpunkt für die aktuelle gesetzliche Regelung." Auf Nachfrage hat er
bekräftigt: "Die Gehaltsstruktur hat keine Rolle gespielt." Auch die Gesetzesmaterialien
zum AAÜG-Änderungsgesetz 2005 enthalten keinen Hinweis darauf, dass die
Personengruppen des § 6 Absatz 2 danach ausgewählt wurden, wie hoch ihr
Arbeitsentgelt war und welcher konkret bezifferte Anteil davon auf einer politischen
Überhöhung beruhte.
(cc) Kadernomenklatur und Selbstprivilegierung
Neben der "Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS" wird in den Materialien zum AAÜG-
Änderungsgesetz-2005 vielmehr nur noch ein weiteres Kriterium genannt, um die
Auswahl für den Personenkreis des § 6 Absatz 2 zu rechtfertigen: In die Rentenkürzung
seien die "Funktionen auf den höchsten Ebenen des so genannten
Kadernomenklatursystems der DDR einbezogen, da die Betreffenden einkommens- und
versorgungsseitig Teil eines Gesamtkonzepts der Selbstprivilegierung innerhalb des
Staates waren" (so schon die Begründung des Gesetzentwurfs in der Bundestags-
Drucksache 15/5314, S. 1).
Nach Auskunft des sachverständigen Zeugen K erfasste das Nomenklatur-System der
SED etwa 300.000 Personen. Berufliche Positionen des Nomenklatur-Systems durften
nur nach ausdrücklicher Bestätigung durch die SED besetzt werden. Teilweise musste
die Stellenbesetzung direkt vom Politbüro der SED bestätigt werden. Zum
überwiegenden Teil waren nach einem abgestuften System die nachrangigen
Parteistellen zuständig. Das bedeutet: Die Bewerber für alle diese beruflichen Positionen
wurden nicht (nur) nach der fachlichen Qualifikation ausgesucht, sondern auch im
Hinblick auf ihre "Linientreue". Die aktuelle Fassung des § 6 Absatz 2 betrifft davon
jedoch nur einen äußerst geringen Teil.
Der Gesetzgeber rechtfertigt seine Auswahl damit, dass durch § 6 Absatz 2 AAÜG die
"höchsten Ebenen" des Kadernomenklatursystems erfasst werden sollten. Aus den
Gesetzesmaterialien ist allerdings nicht erkennbar, welche Ebenen dieses Stufen-
Systems als die "höchsten" im Sinne von § 6 Absatz 2 AAÜG ausgewählt wurden. Am
Beispiel von § 6 Absatz 2 Nr. 4, der auch den Kläger erfasst, wird allerdings deutlich,
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Beispiel von § 6 Absatz 2 Nr. 4, der auch den Kläger erfasst, wird allerdings deutlich,
dass zumindest die beiden obersten Ebenen von § 6 Absatz 2 erfasst werden sollten:
• Bestätigung durch das Politbüro (hier: Minister) und
• Bestätigung durch das Sekretariat des Zentralkomitees der SED (hier:
stellvertretender Minister).
Der Gesetzgeber hat aber dieses von ihm selbst gewählte Ordnungsprinzip verletzt. § 6
Absatz 2 AAÜG erfasst nur einen kleinen Teil dieser beiden Nomenklatur-Ebenen, ohne
dass ein sachlicher Grund erkennbar ist, warum nur dieser Teil für die Rentenkürzung
ausgewählt wurde.
So führt beispielsweise die Tätigkeit als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED
zur Rentenkürzung. Nicht erfasst sind jedoch die Vorsitzenden der Blockparteien (CDU,
Deutsche Bauernpartei etc.), obwohl sie ebenfalls zur höchsten Ebene des
Kadernomenklatursystems der DDR gehörten: Ihre "Wahl" musste vorher vom Politbüro
bestätigt werden. Das ergibt sich aus der Anlage Nr. 1 zum Protokoll Nr. 97 vom 3.
Dezember 1986 - "Bestätigung der Kadernomenklatur des Zentralkomitees der SED", in
der Folge: Kadernomenklatur 1986.
Ein weiteres Beispiel: Die Mitgliedschaft im Zentralkomitee der SED führt nicht zur
Anwendung des § 6 Absatz 2, obwohl in diesem Zentralkomitee die "einflussreichsten
und wichtigsten Partei- und Staatsfunktionäre der DDR versammelt waren"
(Enzyklopädie der DDR zum Stichwort "Zentralkomitee"). Dementsprechend rangierten
die Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees in der protokollarischen Rangfolge
der DDR vor den Mitgliedern des – von § 6 Absatz 2 erfassten – Ministerrates der DDR
(Enzyklopädie der DDR a.a.O.). Sämtliche Mitglieder des ZK der SED wären daher nach
den Maßstäben, die der Gesetzgeber selbst aufgestellt hat, ebenfalls den höchsten
Ebenen des Kadernomenklatursystems der DDR zuzuordnen. Es ist kein sachlicher
Grund erkennbar, warum sie nicht von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasst werden.
Vergleichbares gilt für die leitenden Wirtschaftsfunktionäre, die entsprechend dem
politischen System der DDR ebenfalls in die höchsten Ebenen des
Kadernomenklatursystems eingebunden waren. In der Kadernomenklatur 1986 waren sie
auf der gleichen Ebene angeordnet wie beispielsweise die von § 6 Absatz 2 erfassten
Staatssekretäre und Stellvertreter eines Ministers: Sie mussten ebenfalls vom
Sekretariat des Zentralkomitees der SED bestätigt werden.
Das Ausmaß dieser Ungleichbehandlung wird deutlich an den Spitzenfunktionären aus
dem Zuständigkeitsbereich der "Abteilung Handel, Versorgung und Außenhandel": Auf
der Sekretariats-Ebene der Kadernomenklatur werden von § 6 Absatz 2 Nr. 4 AAÜG
erfasst: 4 Staatssekretäre und 14 Stellvertreter des Ministers. Nicht erfasst sind: 46
Generaldirektoren der Außenhandelsbetriebe, 11 Generaldirektoren der
wirtschaftsleitenden Organe des Binnenhandels, 80 Leiter der Handelspolitischen
Abteilungen und Handelsräte der DDR usw. Alle diese Funktionsträger waren in gleicher
Weise von der politischen Gunst der SED-Spitzen abhängig wie die Staatssekretäre oder
die Stellvertreter des Ministers. Ihre Funktionen befanden sich auf der selben Ebene des
Nomenklatur-Systems: Sie mussten vom Sekretariat des ZK der SED bestätigt werden.
Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum sie vom Gesetzgeber unterschiedlich
behandelt werden.
Sofern der Gesetzgeber seine Auswahl innerhalb der Nomenklatur-Ebenen darauf
gestützt haben sollte, dass die erfasste Gruppe eine Weisungsbefugnis gegenüber dem
MfS besessen habe im Gegensatz zur nicht erfassten Gruppe, so trifft diese
Unterscheidung, wie bereits festgestellt, nicht zu. Weder der Staatssekretär noch die
Stellvertreter eines Fachministers besaßen eine Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS.
Es ist auch nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber die unterschiedliche Behandlung
innerhalb der Nomenklatur-Ebene tatsächlich vom "Einkommen" oder von der
"Versorgung" der jeweiligen Gruppen abhängig gemacht hat, wie es die Hinweis auf die
"einkommens- und versorgungsseitigen Privilegien" in der zitierten Gesetzesbegründung
andeutet. Die Gesetzesmaterialien selbst enthalten keinen Hinweis darauf, welche
Erkenntnisse zu Einkommen oder Versorgung der Personengruppen vorgelegen haben,
die von § 6 Absatz 2 in der Fassung des Änderungsgesetzes 2005 erfasst werden. Nach
Angaben des sachverständigen Zeugen K hat die Höhe der Arbeitsentgelte bei der
Auswahl überhaupt keine Rolle gespielt.
Im Übrigen wäre die Höhe des Einkommens auch kein geeigneter Ansatzpunkt für die
Ungleichbehandlung innerhalb derselben Nomenklatur-Ebene. Der Stellvertreter eines
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Ungleichbehandlung innerhalb derselben Nomenklatur-Ebene. Der Stellvertreter eines
Ministers verdiente beispielsweise sogar weniger als die Generaldirektoren, die nach der
Ordnung über das Gehaltsregulativ für Generaldirektoren und Kombinatsdirektoren
bezahlt wurden (siehe etwa Beschluss des Ministerrates vom 10. Dezember 1985 zur
Ordnung über das Gehaltsregulativ für Generaldirektoren und Kombinatsdirektoren). So
lag das Grundgehalt eines Stellvertreters des Ministers bei 2.500 Mark und einer
Aufwandsentschädigung von 1.250 Mark. Ein Staatssekretär erhielt 2.500 + 1.350 Mark
(vergleiche den Beschluss des Ministerrats vom 9. Mai 1985 zu den
"leistungsorientierten Gehaltserhöhungen in den zentralen Staatsorganen",
Aktenzeichen 291/85). Generaldirektoren der Gehaltsgruppe 1 erhielten ein Grundgehalt
zwischen 3.400 und 3.800 Mark. Außerdem erhielten die Generaldirektoren einen
"leistungsorientierten Gehaltszuschlag" (vgl. 3.3. des Gehaltsregulativs). Möglich war
sogar die Festlegung von "Sondergehältern in Einzelfällen", die über diese Beträge
hinausgingen (vgl. 3.4.). Generaldirektoren wurden ebenfalls in ein privilegiertes
Altersversorgungssystem einbezogen ("zusätzliche Altersversorgung der technischen
Intelligenz", vgl. 4.1.). Die Generaldirektoren waren in die "Nomenklatur der
medizinischen Dispensairebetreuung für leitende Kader der Staats- und
Wirtschaftsorgane aufzunehmen" (vgl. 6.). Das bedeutete, dass sie und ihre
Familienangehörigen beispielsweise Anspruch auf eine Behandlung im Berliner
Regierungskrankenhaus besaßen. Normierte Privilegien bestanden auch für Heilkuren
und die "Betreuung" nach dem "ehrenvollen Ausscheiden aus dem beruflichen Leben"
(vgl. 6.). Dennoch ist diese Gruppe von § 6 Absatz 2 AAÜG nicht erfasst.
Dass es in der DDR noch andere Gruppen von Spitzenverdienern gab, deren Gehälter
(und damit auch Rentenansprüche) von politischen Vergünstigungen abhingen, zeigt
beispielsweise die "Verordnung über die Erhöhung des Arbeitslohnes für qualifizierte
Arbeiter in den wichtigsten Industriezweigen" vom 28. Juni 1952 (Gesetzblatt der DDR
vom 2. Juli 1952, Seite 501). Gemäß § 9 der Verordnung waren für "besonders
hervorragende Spezialisten" auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik Gehälter bis
zu 15.000 Mark pro Monat festzusetzen. Das entsprach im Jahr 1952 etwa dem
50fachen vom Verdienst eines durchschnittlichen Arbeitnehmers in der DDR (vergleiche
Anlage 5 zum AAÜG, wo die jährlichen Durchschnittsverdienste festgestellt sind). Diese
außerordentlich hohe Vergütung wirkte auch bei der Rentenberechnung weiter. § 10 der
Verordnung bestimmt, dass die bisherigen Begrenzungen für die Höhe der Renten auch
für diese Spitzenverdiener entfielen. Die Verordnung legte außerdem fest, dass diesen
"Spezialisten" "auf Kosten des Staates andere Vergünstigungen zu gewähren sind, die
für ihre fruchtbringende Arbeit in Wissenschaft und Produktion notwendig sind". Welcher
"Spezialist" die Gunst dieser Privilegien genießen durfte, war gemäß § 9 Absatz 2 von
einer Entscheidung des Ministerrats abhängig, der auf Antrag des zuständigen Ministers
oder Staatssekretärs tätig wurde. Die Entscheidung wurde also genau von den
Funktionären getroffen, deren Rente aktuell durch § 6 Absatz 2 AAÜG gekürzt werden
soll, weil sie nach Auffassung des Gesetzgebers "Teil eines Systems der
Selbstprivilegierung" waren. Folgt man dem Maßstab des Gesetzgebers, dann müsste
der Personenkreis, der von gerade diesen Funktionären das 50fache des
Durchschnittsverdienstes sowie weitere Privilegien zugesprochen bekam, ebenfalls "Teil"
dieses Systems gewesen sein. Weder die Gesetzesmaterialien noch die Angaben des
Fachministeriums und der Fraktionen im vorliegenden Verfahren ergeben einen
Anhaltspunkt, aus welchem Grund hier dennoch von einer Begrenzung der
Rentenansprüche abgesehen wurde.
(dd) Allgemeine Beitragsbemessungsgrenze
Möglicherweise hat der Gesetzgeber bei den genannten anderen Gruppen von der
Anwendung des § 6 Absatz 2 AAÜG abgesehen, weil die rentenrechtlichen Regelungen,
die im Zuge der Wiedervereinigung getroffen wurden, ohnehin keine Zahlung von
"Phantasie"-Renten an Spitzenfunktionäre der DDR zulassen: Sämtliche
Sonderversorgungs- und Zusatzversorgungssysteme der DDR wurden im Zuge der
Wiedervereinigung geschlossen. Die dort erworbenen Ansprüche auf Altersversorgung
wurden in das System der gesetzlichen Rentenversicherung überführt. Dadurch wurden
die Durchschnitts-Rentner der DDR begünstigt. Ihre Renten-Anwartschaften wurden im
Verhältnis 1:1 in DM umgewertet. Zusätzlich wurden die Entgelte nach den Werten der
Anlage 10 des Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch (SGB VI) hoch gewertet, so dass
beispielsweise ein Durchschnittsverdiener der DDR in der gesetzlichen
Rentenversicherung die gleiche Rentenanwartschaft in DM besaß wie ein
Durchschnittsverdiener der alten Bundesrepublik. Lediglich die Höhe der Entgeltpunkte
und des Rentenwerts differenziert noch zwischen alten und neuen Bundesländern.
Dieses für die große Mehrheit der Rentner der ehemaligen DDR günstige System der
gesetzlichen Rentenversicherung führt dazu, dass auch die allgemeine
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gesetzlichen Rentenversicherung führt dazu, dass auch die allgemeine
Beitragsbemessungsgrenze anzuwenden ist. Das bedeutet, dass die Entgelte nur bis
zum etwa 1,8fachen des auf die geschilderte Weise errechneten
Durchschnittsverdienstes berücksichtigt werden. Einkommen, die über diese Grenze
hinausgehen, werden bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt. Selbst wenn das
Gehalt eines der genannten "Spezialisten" oder Generaldirektoren der DDR das
Mehrfache des Durchschnittsverdienstes betrug: Bereits nach den allgemeinen Regeln
des Rentenrechts fließt es – abgesehen von verfassungsrechtlichen
Vertrauensschutzregelungen – nur bis zum 1,8fachen des Durchschnittsverdienstes in
die Rentenberechnung ein.
Dieser allgemeine Grundsatz gilt allerdings genauso für die Personengruppen, die aktuell
von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasst sind. Im vorliegenden Fall bedeutet das konkret: Der
Kläger hat als Minister zwar das Mehrfache eines durchschnittlichen Arbeitnehmers in
der DDR verdient. Selbst wenn auf seinen Fall die allgemeinen Regeln der gesetzlichen
Rentenversicherung anzuwenden wären, würde er maximal das 1,8fache einer
durchschnittlichen Rente erhalten. Die Probeberechnung der Beklagten zeigt, dass sich
seine Rente nach den allgemeinen Regeln des Rentenrechts von bislang knapp 1.200
EUR auf rund 1.800 EUR erhöhen würde.
Es ist also auch insoweit kein sachlicher Grund erkennbar, warum für den Kläger und die
anderen Betroffenen darüber hinaus eine besondere Bemessungsgrenze in § 6 Absatz 2
angeordnet wird, und für die genannten Spitzenverdiener nicht.
(ee) Staats- und Systemnähe
Eine besondere "Staats- oder Systemnähe" ist keine Rechtfertigung für die Kürzung von
Entgelten unterhalb der allgemeinen Beitragsbemessungsgrenze. Dies hat das
Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 28. April 1999 zu der
seinerzeit streitigen Fassung des § 6 Absatz 2 AAÜG betont (Aktenzeichen 1 BvL 22/95).
"Keinesfalls folgt aus der "Staats- und Systemnähe" der Berufstätigkeit allein,
dass diesen Personengruppen durchgängig Entgelte gezahlt worden sind, die nicht durch
Arbeit und Leistung gerechtfertigt und insoweit "überhöht" waren ... Der Gesetzgeber
stützt die von ihm vorgenommene Gruppenbildung auch nicht auf einschlägige
Tatsachen. Jedenfalls ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen, in welchen
Zusatz- und Sonderversorgungssystemen strukturell überhöhte Arbeitsentgelte oder
Arbeitseinkommen bezogen wurden. Zwar wird im Entwurf zum Rentenüberleitungs-
Ergänzungsgesetz zur Begründung der Begrenzungsregelung des § 6 Absatz 2 AAÜG
ausgeführt, es handele sich bei der Zielgruppe um Personen, die bei typisierender
Betrachtungsweise einen erheblichen Beitrag zur Stärkung oder Aufrechterhaltung des
politischen Systems der Deutschen Demokratischen Republik geleistet hätten (BTDrucks
12/4810. S. 20 f.). Der für die Rechtfertigung der Typisierung entscheidende Schluss,
dass diese Personengruppen bei generalisierender Betrachtungsweise leistungsfremde,
politisch begründete und damit überhöhte Arbeitsverdienste bezogen haben, folgt
daraus aber nicht."
(ff) Sonstige Privilegien
Die Gesetzesbegründung enthält keinen Hinweis darauf, was der Gesetzgeber
ansonsten unter dem Begriff der "Selbstprivilegierung" verstanden hat. Grundsätzlich ist
eine Reihe von "sonstigen" geldwerten Privilegien denkbar, mit denen die
Spitzenfunktionäre gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ausgestattet waren. Ein
Privileg bestand beispielsweise in der Gesundheitsversorgung durch das
Regierungskrankenhaus oder die bessere Versorgung mit Konsumgütern durch den
Zugang zur "Diplomaten-Versorgung" in den "versina"-Läden. Auch die Zugehörigkeit zu
einem besonderen Altersversorgungssystem "Staatsapparat" bedeutete beispielsweise
bei Ministern eine Privilegierung gegenüber der durchschnittlichen Bevölkerung.
Derartige Privilegien bestanden beim Kläger. Derartige Privilegien besaßen jedoch
weitaus mehr Menschen in der DDR als der Personenkreis, der von § 6 Absatz 2 AAÜG-
Änderungsgesetz 2005 erfasst wird.
Der Zeuge Z hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich in einer Mangelwirtschaft wie
der DDR in allen Lebensbereichen Privilegien bei der Versorgung herausbildeten, die
nicht nur dem Personenkreis des § 6 Absatz 2 AAÜG zugänglich waren. Die medizinische
Versorgung durch das Berliner Regierungskrankenhaus war ebenfalls nicht auf den
Personenkreis beschränkt, der jetzt von § 6 Absatz 2 AAÜG erfasst wird, wie schon das
Beispiel der Generaldirektoren zeigt. Einzelverträge aus dem Bereich der "Intelligenz"
enthielten die Zusage, dass die Kinder Zugang zum Gymnasium und zur Universität
erhalten würden. Privilegierte Urlaubsmöglichkeiten waren auch durch Beziehungen zu
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erhalten würden. Privilegierte Urlaubsmöglichkeiten waren auch durch Beziehungen zu
großen Betrieben erhältlich.
Unabhängig davon ist mit Blick auf diese "sonstigen" Privilegien ohnehin festzuhalten,
dass sie den Begünstigten bei der hier allein streitigen Rentenberechnung keine Vorteile
bringen. Auch ohne Anwendung des § 6 Absatz 2 AAÜG würde der Kläger nach heutiger
Rechtslage keine höhere Rente erhalten, weil er früher in der DDR Privilegien beim
Einkauf von Konsumgütern genoss, oder weil er im Regierungskrankenhaus behandelt
wurde. Darin liegt erneut ein wesentlicher Unterschied zu den Privilegien der MfS-
Mitarbeiter, die, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hatte, (renten-
)"versicherungsrelevant" waren.
Die Kürzung der Rente ist nicht dadurch gerechtfertigt, dass in der DDR Privilegien erzielt
wurden, die gar keinen Einfluss auf die Rentenberechnung haben können. Das heißt, es
kommt hier nicht darauf an, ob sich beispielsweise der Kläger persönlich durch seine
Amtsführung bereichert hat. Zur Ahndung illegaler Privilegien sind juristische Reaktionen
auf dem Gebiet des Straf-, Zivil- und Verwaltungsrechts gegeben. Auch eine politische
oder moralische Wertung der Amtsführung des Klägers ist im vorliegenden
rentenrechtlichen Zusammenhang unbeachtlich.
c) Typisierung
Die festgestellte Ungleichbehandlung ist auch nicht durch eine Typisierung zu
rechtfertigen. Die Berufsbiographie des Klägers und seine Einkünfte sind kein
vereinzelter Sonderfall, wo die pauschale Kürzung im Rahmen einer Massenverwaltung
hingenommen werden müsste. Es handelt sich vielmehr um den typischen Fall der
genannten Gruppen. Im Übrigen ist die pauschale Kürzung auf die Werte der Anlage 5
auch nicht weniger aufwändig als eine genaue Berechnung der Altersrente. Das
Gegenteil ist der Fall. Denn der Zusatzversorgungsträger musste erst in Tausenden von
Fällen die Berufsbiografie ehemaliger DDR-Bewohner ermitteln, um dann feststellen zu
können, ob eine Kürzung vorzunehmen ist. Eine Berechnung der Altersrente nach den
tatsächlichen Verdiensten bis zur allgemeinen Beitragsbemessungsgrenze wäre
demgegenüber einfacher, sie entspräche außerdem dem Strukturprinzip des SGB VI.
Die Differenz zwischen der bislang bewilligten Rente und der Probeberechnung zeigt
außerdem, dass der Eingriff in die Rechte des Klägers nicht so gering ist, dass er als
zwangsläufige Folge einer typisierenden Massenverwaltung hingenommen werden
müsste.
d) Verfassungskonforme Auslegung
Eine verfassungskonforme Auslegung von § 6 Absatz 2 AAÜG dahingehend, dass er auf
den Fall des Klägers keine Anwendung findet, ist nicht möglich. Der Wortlaut erfasst
ausnahmslos alle Zeiten der genannten Funktionen. Der Wortlaut schreibt zwingend vor,
dass der Betrag nach Anlage 5 zugrunde zu legen "ist", wenn eine der genannten
Funktionen ausgeübt wurde. Dem Betroffenen wird keine Möglichkeit für den Nachweis
eingeräumt, dass seine Arbeitsverdienste dennoch nicht auf politischer Begünstigung
beruht haben. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Einführung einer
Härtefallregelung als Möglichkeit genannt, die Berücksichtigung von "echtem"
Arbeitsverdienst zu ermöglichen. In Kenntnis dieser Entscheidung hat der Gesetzgeber
keine solche Regelung getroffen und in der Gesetzesbegründung deutlich zu erkennen
gegeben, dass er die Kürzung der Arbeitsentgelte ausnahmslos für alle aufgeführten
Funktionen anordnen wollte.
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