Urteil des SozG Berlin vom 16.02.2009

SozG Berlin: gleichheit im unrecht, beitragspflicht, krankenversicherung, berufliche tätigkeit, unechte rückwirkung, rentner, zukunft, beitragssatz, versicherungsnehmer, vertrauensschutzprinzip

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 16.02.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 166 KR 758/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 9 KR 94/09
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Februar 2009 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger aus den Kapitalzahlungen von 4 Le¬bens¬versi¬che¬rungen Beiträge
zur gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen hat.
Der 1939 geborene Kläger war in den Jahren 1970 bis 2004 als Versicherungsvertreter für die N Lebensversicherungs-
AG tätig und hatte für diese Tätigkeit beim Bezirksamt N ein Gewer-be angemeldet. Seit dem 1. November 2004 ist er
als Rentner versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten.
In den Jahren 1977, 1979 und 1999 schloss er als Versicherungsnehmer insgesamt 4 Lebens-versicherungen bei der
N Lebensversicherungs-AG ab, welche während der gesamten Laufzeit der Verträge die jeweilige
Versicherungsprämie zur Hälfte übernahm und sie dem bei ihr ge-führten Provisionskonto des Klägers gutschrieb. Aus
steuerlichen Gründen wurden die 1977 bzw. 1979 abgeschlossenen Verträge unter Beibehaltung der vorhandenen
Versicherungswerte auf eine neue vertragliche Grundlage gestellt.
Zum 1. Januar 2005 zahlte die N Lebensversicherungs-AG dem Kläger aus diesen 4 Versiche-rungsverträgen
Kapitalleistungen i.H.v. insgesamt 160.348,39 EUR aus und übersandte jeweils eine diesbezügliche "Mitteilung über
Versorgungsbezug" der Beklagten. Diese errechnete eine monatliche Bemessungsgrundlage von (167.348,39 EUR:
120 =) 1.394,57 EUR und machte mit Be-scheid vom 19. Januar 2005 gegenüber dem Kläger hieraus monatliche
Beiträge zur Kranken-versicherung i.H.v. 216,16 EUR (Beitragssatz 15,5 %) und zur Pflegeversicherung i.H.v. 23,71
EUR (Beitragssatz 1,7 %) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2014 geltend. Den hiergegen
gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 31. März 2006 zurück; wegen dessen Begründung
wird auf Blatt 24 bis 27 der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung des erstinstanzlichen Verfahrens übereingekommen waren,
dass nur über die Beiträge zur Krankenversicherung entschieden werden solle und sie das rechtskräftige Ergebnis
dieses Verfahrens auf die Beiträge zur sozia-len Pflegeversicherung übertragen würden, wies das Sozialgericht mit
Urteil vom 16. Februar 2009 die Klage ab und führte zur Begründung aus: Zu Recht habe die Beklagte nach § 237
Satz 1 Nr. 2, § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5, Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Beiträge aus den
zum 1. Januar 2005 erfolgten o.g. Kapitalzahlungen erhoben, denn diese stell-ten Renten der betrieblichen
Altersversorgung im Sinne von § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V dar. Diese Kapitalzahlungen &61485; unstreitig Teil
der klägerischen Altersvorsorge &61485; seien Bestand-teil einer betrieblichen Gesamtversorgung. Es bestehe ein
eindeutiger Zusammenhang zwi-schen dem Erwerb der Leistungen aus der Lebensversicherung und der Tätigkeit des
Klägers für die N Lebensversicherungs-AG, wie sich bereits aus dem von diesem vorgelegten Versi-cherungsschein
Nr. AV 974/1 ergebe, der mit der Überschrift "Grundversicherung im Rahmen der Alters- und
Hinterbliebenenversorgung der hauptberuflichen Versicherungsvertreter" ver-sehen sei. Für den Zusammenhang der
abgeschlossenen Lebensversicherungsverträge mit der beruflichen Tätigkeit des Klägers spreche auch, dass die N
Versicherungs-AG jeweils die Hälf-te der Beiträge übernommen habe. Unbeschadet der Unterschiede zwischen
Arbeitnehmerlohn und der Vergütung der Dienste eines selbstständigen Versicherungsvertreters könne es keinen
Unterschied machen, ob die Alterseinkünfte auf Beiträgen infolge einer früheren Arbeitneh-mertätigkeit oder auf einem
früheren beruflichen Verhältnis wie dem des Klägers zu "seinem" Versicherungsunternehmen, für das er
ausschließlich vermittelnd tätig gewesen sei, beruhten. Verfassungsrechtliche Bedenken habe die Kammer insoweit
nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) existiere kein Grundsatz, demzufolge mit aus
bereits der Bei-tragspflicht unterliegenden Einnahmen von Versicherten selbst finanzierte Versorgungsbezüge der
Beitragspflicht überhaupt nicht oder jedenfalls nicht mit dem vollen Beitragssatz unterwor-fen werden dürften. Die
Erweiterung der Beitragspflicht auf einmalige Zahlungen aus Lebens-versicherungen wie den vom Kläger
abgeschlossenen begegne auch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken unter dem Gesichtspunkt
des Vertrauensschutzes. Denn ein schutzwürdiges Vertrauen auf dem Fortbestand der Beitragsfreiheit der in Zukunft
fällig wer-denden einmaligen Leistungen habe angesichts der wiederholten gesetzlichen Änderung hin-sichtlich der
Krankenversicherungspflicht für Rentner und der Beitragspflicht von Versor-gungsbezügen und Renteneinkünften nicht
entstehen können. Die Beklagte habe die Beiträge auch der Höhe nach zutreffend berechnet.
Gegen dieses ihm am 25. Februar 2009 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 16. März 2009,
zu deren Begründung er vorbringt: Die Kapitallebensversicherung sei nicht in einem betrieblichen Zusammenhang
abgeschlossen worden, da er selbstständig und unabhängig als Versicherungsvertreter tätig gewesen sei. Bei der vom
Sozialgericht in Bezug genommenen Überschrift des o.g. Versicherungsscheines handle es sich um eine Falschbe-
zeichnung. Die selbstständigen Versicherungsvertreter seien immer mit einer klaren Distanz zum Auftraggeber tätig
gewesen und mit Arbeitnehmern in keiner Weise vergleichbar. Auch wenn es grundsätzlich keine Gleichheit im
Unrecht gebe, so sei im vorliegenden Fall doch festzustellen, dass seine sämtlichen ehemaligen Kollegen offenbar
nicht beitragspflichtig seien. Schließlich sei die Beitragserhebung wegen Rückwirkung grundrechtswidrig, da zum Zeit-
punkt des Abschlusses der Versicherungen keine Beitragspflicht bestanden habe, sondern erst im Jahre 2004
begründet worden sei. Ferner sei eine doppelte Verbeitragung nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren. Wie sich
aus einem seine Ausgleichsansprüche nach § 89 b Han-delsgesetzbuch (HGB) betreffenden Schreiben der N
Lebensversicherungs-AG vom 15. No-vember 2004 ergebe, handele es sich um bei ihm &61485; dem Kläger &61485;
um einen atypischen Fall, so dass eine Verbeitragung nicht rechtens sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Februar 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 2005 in
der Fassung des Widerspruchsbeschei-des vom 31. März 2006 aufzuheben, soweit darin ein monatlicher Beitrag zur
Krankenversicherung gefordert wird.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die
Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die dem Senat vorgelegen hat, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat durfte gemäß § 155 Abs. 4, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Be-richterstatter ohne
mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten dieser Vorge-hensweise zugestimmt haben.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn die
angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig.
Zur Begründung verweist der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen
Urteils, denen er sich nach eigener Prüfung in vollem Umfange anschließt. Ergänzend weist er auf Folgendes hin:
Dass die aus den o.g. Lebensversicherungsverträgen resultierende Kapitalleistungen Bestand-teil einer betrieblichen
Gesamtversorgung durch die N Lebensversicherungs-AG sind und die Lebensversicherungen gerade aufgrund der
früheren beruflichen Tätigkeit des Klägers für die N Lebensversicherungs-AG geschlossen wurden, kann nicht
ernsthaft bestritten werden, da zahlreiche von der Klägerseite in das Verfahren eingeführten diesbezüglichen
Schreiben und Dokumente der N Lebensversicherungs-AG ausdrücklich einen Zusammenhang zur Alters- und
Hinterbliebenenversorgung des Klägers herstellen. Dies gilt zunächst für die beiden Versi-cherungsscheine Nr. AV 974
und AV 974/1, welche schon ausweislich ihrer Überschrift "im Rahmen der Alters- und Hinterbliebenenversorgung der
hauptberuflichen Versicherungsvertre-ter" geschlossen wurden und bezüglich der weiteren vertraglichen Regelungen
ebenso aus-drücklich auf "die Bestimmungen für die Alters- und Hinterbliebenenversorgung der selbst-ständigen
hauptberuflichen Versicherungsvertreter" verweisen. Auch der Nachtrag zum Versi-cherungsschein AV 974 vom 6.
Februar 1997 sowie das die Umstellung der Verträge im Jahr 1999 betreffende Schreiben vom September 1999 stellen
jeweils explizit den Bezug zur Alters- und Hinterbliebenenversorgung der (selbstständigen) hauptberuflichen
Versicherungsvertreter her. Angesichts dieser Häufung und angesichts der ausdrücklichen Bezugnahme auf die für
die Alters- und Hinterbliebenenversorgung geltenden Versicherungsbestimmungen ist für eine (versehentliche)
Falschbezeichnung kein Raum.
Dass die Regelungen im § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V auch für Versicherungspflichtige gelten, die ihre berufliche
Tätigkeit immer nur als Selbstständige ausgeübt haben, ergibt sich bereits aus dem von der Beklagten in das
Verfahren eingeführten Urteil des BSG vom 10. März 1994 (Az.: 12 RK 30/91), auf welches der Senat verweist. Nach
dieser Entscheidung ist auch der Umstand, dass auf den Ausgleichsanspruch des selbstständigen
Versicherungsvertreters nach § 89 b HGB anderweitige Leistungen des Unternehmers zur Altersversorgung des Versi-
cherungsvertreters angerechnet werden, für die Beitragspflicht nach § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V ohne
Bedeutung; diese Auffassung teilt der Senat.
Die Erhebung von Beiträgen aus Kapitalleistungen, denen vor dem 1. Januar 2004 geschlosse-ne
Lebensversicherungsverträge zugrunde liegen, verstößt auch nicht – wie vom Sozialgericht bereits zutreffend
dargestellt – gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Insbe-sondere begegnet die erst zum 1. Januar
2004 begründete Beitragspflicht für die am 1. Januar 2005 ausgeschüttete Versicherungsleistung keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in zwei Entscheidungen aus dem
Jahre 2008 hervorgeho-ben hat (Beschlüsse vom 28. Februar 2008, Az.: 1 BvR 2137/06, und vom 07. April 2008, Az.:
1 BvR 1924/07, beide veröffentlicht unter www.bundes¬ver¬fas¬sungs¬gericht.de; jeweils m.w.N.). Demzufolge
beurteilt sich die Einführung der Beitragspflicht für alle nicht regelmäßig wieder-kehrenden Leistungen nach den
Grundsätzen über die unechte Rückwirkung von Gesetzen; denn die angegriffene Regelung greift mit Wirkung für die
Zukunft in ein öffentlich-rechtliches Versicherungsverhältnis ein und gestaltet dies zum Nachteil für die betroffenen
Versicherten um. Solche Regelungen sind verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig und genügen dem
rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip, wenn das schutzwürdige Bestandsinteresse des Ein-zelnen die gesetzlich
verfolgten Gemeinwohlinteressen bei der gebotenen Interessenabwägung nicht überwiegt. Zwar ist das Vertrauen
insbesondere der älteren und gesundheitlich beeinträchtigten Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung auf den
Fortbestand einer günstigen Rechtslage in der Regel hoch einzuschätzen. Vorliegend ist dieses Vertrauen aber nur
eingeschränkt schutzwür-dig, weil die ihm zugrunde liegende Rechtslage nicht für die Zukunft gesichert erscheinen
konnte. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung steht bereits seit langem unter er-heblichem Kostendruck.
Angesichts der vielfältigen Bemühungen des Gesetzgebers in den vergangenen Jahren, sowohl auf der
Einnahmenseite als auch auf der Ausgabenseite auf Ge-fährdungen des Systems zu reagieren, konnten die
Versicherten in den Fortbestand privilegie-render Regelungen nicht uneingeschränkt vertrauen. Der Gesetzgeber hatte
zudem bereits mit der beabsichtigten Einschränkung des Zugangs zur Krankenversicherung der Rentner (§ 5 Abs.1
Nr. 11 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes - GSG - vom 21. Dezem-ber 1992, BGBl I S. 2266)
versucht, die Beitragslast gerade hinsichtlich der Versorgungsbezü-ge bei einem größeren Teil von Rentenbeziehern
zu vergrößern; diesem Personenkreis sollte nur noch der Zugang zur freiwilligen Krankenversicherung mit der dort
geltenden umfassenden Heranziehung aller Einkünfte offen stehen. Das BVerfG hat schon bei der Beanstandung von
§ 5 Abs.1 Nr. 11 SGB V in der Fassung des GSG die Erhöhung der Beitragslast bei den versi-cherungspflichtigen
Rentnern als eine Möglichkeit zur Beseitigung der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung bezeichnet. Zudem
müssen die mit der Regelung verfolgten öffentlichen Belange im Rahmen der verfas-sungsrechtlich gebotenen
Abwägung als gewichtiger angesehen werden. Die Regelung trägt als Teil eines im GKV-Modernisierungsgesetz
(GMG) enthaltenen Bündels von Maßnahmen zur Erhöhung der Beitragseinnahmen und damit zur Erhaltung der
Stabilität des Systems der ge-setzlichen Krankenversicherung bei. Diesem Gemeinwohlziel kommt große Bedeutung
bei (BVerfG a.a.O.).
Auch die Entscheidung des BVerfG vom 28. September 2010 (AZ: 1 BvR 1660/08, veröffent-licht in juris) rechtfertigt
kein anderes Ergebnis. Nach dieser Entscheidung verstößt es gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1
Grundgesetz, dass auch Kapitalleistungen, die auf Beiträ-gen beruhen, die ein Arbeitnehmer nach Beendigung seiner
Erwerbstätigkeit aus dem Lebens-versicherungsvertrag unter Einrücken in die Stellung des Versicherungsnehmers
eingezahlt hat, der Beitragspflicht nach § 229 SGB V unterworfen werden. Denn mit der Vertragsübernahme durch den
Arbeitnehmer sei der Kapitallebensversicherungsvertrag vollständig aus dem be-trieblichen Bezug gelöst worden und
unterscheide sich hinsichtlich der dann noch erfolgten Einzahlungen nicht mehr von anderen privaten
Lebensversicherungen, die nach der gesetzli-chen Konzeption ausdrücklich nicht der Beitragspflicht unterliegen. Eine
dieser Konstellation vergleichbare Lösung aus dem betrieblichen Bezug hat im Falle des Klägers nicht stattgefun-den,
da die N Lebensversicherungs-AG während der gesamten Laufzeit der Lebensversiche-rungsverträge die anfallenden
Prämien zur Hälfte getragen hat. Einem Versicherungsnehmer, der im Rahmen der privaten Altersvorsorge die hierfür
anfallenden Beiträge / Versicherungs-prämien alleine aufbringt, ist der Kläger gerade nicht gleichzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Entgegen
der klägerischen Auffassung sind durch die o.g. Entscheidungen des BVerfG und des BSG alle
entscheidungserheblichen Rechtsfragen geklärt.