Urteil des SozG Berlin vom 18.10.2004

SozG Berlin: psychisches leiden, anhörung, eigenes verschulden, anerkennung, rücknahme, ddr, wahrscheinlichkeit, gutachter, heilbehandlung, verwaltungsakt

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 18.10.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S44 VH 80/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 VH 15/06
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin geändert. Der Bescheid des Beklagten vom 18.
Oktober 2004 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu einem Fünftel zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Gesundheitsstörungen als Folgen rechts-staatswidriger Strafhaft in
der DDR und über die Gewährung einer Beschädigtenrente.
Der im Oktober 1951 geborene Kläger wurde aufgrund verschiedener Urteile im Zeitraum zwischen dem 21. Oktober
1970 und dem 30. Oktober 1986 mit Unterbrechungen in verschiedenen Haftanstalten der DDR inhaftiert. Unmittelbar
nach dem Ende der letzten Inhaftierung wurde er nach West-Berlin abgeschoben. Ab 1. Dezember 1997 erhält der
Kläger wegen einer Depression, eines Halswirbelsäulensyndroms sowie eines Nervenleidens am rechten Arm eine
Erwerbsunfähigkeitsrente. Der Kläger ist anerkannter Schwerbehinderter.
Im Dezember 1999 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Versorgung nach dem Gesetz über
die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet
(StrRehaG) wegen einer chronischen Depression als Folge seiner langfristigen Inhaftierungen in der DDR mit
psychischer Folter und willkürlichen Exzessen des Vollzugspersonals. Durch Beschluss vom 18. Januar 2000 und
Änderungsbeschluss vom 21. März 2000 des Landgerichts Gera wurde der Kläger hinsichtlich seiner Inhaftierungen
zum Teil rehabilitiert und die zu Grunde liegenden Urteile des Kreisgerichts Zeulenroda insoweit aufgehoben. Er wurde
wegen der Haftzeiten von Oktober 1970 bis Oktober 1971 und von 13. April 1973 bis 12. Oktober 1974 vollständig
rehabilitiert, wegen der vier Inhaftierungen in den achtziger Jahren wurde er hinsichtlich der jeweiligen Haftdauer
teilweise rehabilitiert. Die Rehabilitierung für die Haftzeiten vom 21. Oktober 1971 bis 20. Januar 1972 (Urteil vom
21.09.1970) sowie vom 13. Oktober 1974 bis 21. April 1975 (Urteil vom 13.04.1973) wurde abgelehnt. Wegen der
Einzelheiten wird auf die genannten Beschlüsse des Landgerichts Gera verwiesen. Der Beklagte zog die
medizinischen Unterlagen des Verfahrens zur Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente bei. Nach einer
nervenärztlichen Begutachtung (Dr. M) erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 21. Oktober 2002 reizbare
Verstimmungen und Schlafstörungen als Schädigungsfolgen an, der Grad der durch die Schädigungsfolgen bedingten
MdE betrage weniger als 25 v H, daher bestehe kein Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenrente. Für die
Schädigungsfolgen bestehe Anspruch auf Heilbehandlung. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2003 zurück.
Dagegen wandte sich der Kläger mit seiner Klage vom 31. Juli 2003. Das Sozialgericht Berlin holte das
nervenärztliche Gutachten von Prof. Dr. Z vom 14. Juli 2004 und eine Stellungnahme des behandelnden Nervenarztes
Dr. I vom 23. Januar 2005 ein, auf deren Inhalt Bezug genommen wird. Mit Datum vom 18. Oktober 2004 erließ der
Beklagte einen Bescheid, mit welchem sein Bescheid vom 21. Oktober 2002 gemäß § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S 2, 3
Nr. 1, 2 und 3 SGB X mit Wirkung vom 1. Dezember 2004 zurückgenommen wurde. Die Voraussetzungen für eine
Anerkennung nach dem StrRehaG lägen bei dem Kläger nicht vor. In dem während des Gerichtsverfahrens
eingeholten nervenärztlichen Gutachten sei festgestellt worden, dass die beim Kläger vorliegenden Erkrankungen
nicht auf die zu Unrecht erlittenen Haftzeiten zurückzuführen seien. Der Bescheid vom 21. Oktober 2002 sei deshalb
bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses unrichtig gewesen und könne mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen
werden. Ein schutzwürdiges Vertrauen in die Bestandskraft des Bescheides im Sinne des § 45 Abs. 2 S 1 und 2 SGB
X liege bei dem Kläger für die Zukunft nicht vor, weil davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger keine
Dispositionen getroffen habe, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen könne.
Die Frist des Abs 3 S 1 sei eingehalten und die erforderliche Anhörung nach § 24 SGB X durchgeführt worden.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Urteil vom 21. Februar 2006 abgewiesen. Es hielt die Klage insoweit für
unzulässig, als der Kläger die Anerkennung seines Lungenleidens als weitere Schädigungsfolge geltend gemacht hat,
weil es insofern an der vorherigen Durchführung eines Verwaltungsverfahrens und eines Widerspruchsverfahrens
fehle. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung eines psychischen Leidens mit organischen Anteilen und
auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach einer MdE von mindestens 25 v H ab Dezember 1999 und auf
Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18. Oktober 2004. Dem Bescheid vom 18. Oktober 2004 stehe die
Kürze der vom Beklagten mit Schreiben vom 6. Oktober 2004 dem Kläger eingeräumten Anhörungsfrist nicht
entgegen. Der Beklagte hätte gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X von der Anhörung absehen können, weil die Frist nach
§ 45 Abs. 3 S 1 SGB X am 25. Oktober 2004 ablief und die Zubilligung einer mindestens zweiwöchigen
Äußerungsfrist die Einhaltung der Frist erkennbar infrage gestellt hätte. Die Voraussetzungen einer Rücknahme des
Bescheides nach § 45 SGB X hätten vorgelegen. Der ursprüngliche Bescheid sei rechtswidrig gewesen, weil nicht
davon ausgegangen werden könne, dass bei dem Kläger auf nervenärztlichem Gebiet eine Schädigungsfolge nach
dem StrRehaG festgestellt werden könne. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die bei dem
Kläger auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen keinen inneren
Zusammenhang mit der in der DDR zu Unrecht erlittenen Haft aufgewiesen hätten. Der Beklagte sei zutreffend davon
ausgegangen, dass das Vertrauen des Klägers auf den Bestand des rechtswidrigen Bescheides vom 21. Oktober
2002 nicht schutzwürdig sei. Ein Anspruch auf Gewährung einer Beschädigtenrente nach § 31 BVG könne deshalb
nicht bestanden haben.
Gegen das dem Kläger am 24. April 2006 zugestellte Urteil hat dieser mit Schreiben vom 15. Mai 2006 am 16. Mai
2006 Berufung eingelegt. Sein Rechtsmittel begründet der Kläger damit, dass dem gerichtlichen Sachverständigen
nicht gefolgt werden könne. Zu einem anamnestischen Gespräch mit dem Kläger sei der Sachverständige nicht
gekommen. Dieser sei offenbar voreingenommen. Auffällig sei, dass kein anderer Arzt zu den Ergebnissen des
Sachverständigen gelangt sei. Der Bescheid vom 18. Oktober 2004 leide an einer fehlerhaften Anhörung deshalb, weil
es nicht angehen könne, dass sich eine Behörde selbst Monate lang Zeit lasse und den dadurch entstandenen
Zeitdruck durch eine unzureichende Anhörung des Betroffenen ausgleiche.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. Februar 2006, S 44 VH 80/03, abzuändern, den
Bescheid vom 21. Oktober 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2003 abzuändern und den
Beklagten zu verpflichten, als weitere Schädigungsfolge ein "psychisches Leiden mit organischen Anteilen"
anzuerkennen und dem Kläger ab Dezember 1999 Beschädigtenrente nach einer MdE/einem GdS von 25 v H zu
gewähren sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. Oktober 2004 aufzuheben.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt, die Berufung zurück zu weisen.
Der Senat hat von Dr. K das forensisch-psychiatrische Gutachten vom 25. November 2008 nach § 109 SGG
eingeholt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen
Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die
Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsakten des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat teilweise Erfolg.
1. Sie ist zulässig. Sie wurde insbesondere fristgerecht eingelegt. Sie betrifft ausweislich des gestellten Antrages
nicht mehr das Verlangen auf Anerkennung seines Lungenleidens als weitere Schädigungsfolge. Die somit nur
eingeschränkt zur Berufung gestellte Klage ist zulässig.
Der Bescheid vom 18. Oktober 2004 ist Gegenstand des Rechtsstreites geworden, denn er hat den ursprünglich
angefochtenen Verwaltungsakt vom 21. Oktober 2002 i S v § 96 Abs 1 SGG geändert, weil er ihn vollständig
aufgehoben hat.
2. Die Berufung hat in der Sache insoweit Erfolg, als der Bescheid vom 18. Oktober 2004 aufzuheben war. Dieser
Bescheid ist wegen fehlerhafter Anhörung formell rechtswidrig und verstößt gegen die Vorschriften über die
Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte nach § 45 SGB X. Die weitergehende Klage kann keinen
Erfolg haben, weshalb die Berufung im Übrigen zurückzuweisen ist.
a) Der Kläger hat Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 18. Oktober 2004, weil die erforderliche Anhörung
nicht erfolgt ist – vgl § 42 Satz 2 SGB X. Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten
eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 24
Abs. 1 SGB X). Der angefochtene Bescheid hat die die Beteiligten bindenden Feststellungen und die Anerkennung
des Anspruchs auf Heilbehandlung aufgehoben. Es hatte deshalb zuvor eine Anhörung im Sinne des § 24 Abs. 1 SGB
X zu erfolgen. Dies ist nicht in gesetzlich vorgesehener Weise geschehen und war auch nicht ausnahmsweise
entbehrlich. Die Anhörungsfrist war hinsichtlich der für die Sachentscheidung relevanten medizinischen Tatsachen
unzureichend, weshalb insoweit die erforderliche Anhörung nicht erfolgte. Hinsichtlich der tatsächlichen Umstände für
die Vertrauensschutzabwägung, die der angefochtene Bescheid vornahm, lässt sich eine Anhörung nicht feststellen.
Die dem Kläger eingeräumte Anhörungsfrist von einer Woche war zu kurz. Regelmäßig ist als mindestens
angemessen eine Dauer von zwei Wochen für eine Anhörung nach § 24 SGB X anzusehen (BSG, Urteil vom
23.08.2005, B 4 RA 29/04 R, JURIS RdNr. 25). Im vorliegenden Fall kam eine kürzere Dauer keinesfalls in Betracht,
weil es um die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung vor allem auch in medizinischer Hinsicht ging und insofern
auch seitens des Klägers eine intensive Beweiswürdigung und ggf. die Konsultierung medizinischen Sachverstandes
erforderlich war. Eine Ausnahme vom Anhörungsgebot nach § 24 Abs. 2 SGB X, die auch eine kürzere Frist
rechtfertigen würde, lag nicht vor, insbesondere nicht nach Nr. 2 im Hinblick darauf, dass die Frist des § 45 Abs. 3
Satz 1 SGB X abzulaufen drohte. Denn die Sozialverwaltung ist gehalten, das Verwaltungsverfahren zügig
durchzuführen (§ 9 Satz 2 SGB X). Sie darf deshalb nicht durch eigenes Verschulden die Gefahr des Fristverlustes
ohne Anhörungsgewährung bewirken (Lang in LPK-SGB X, 2. Aufl., § 24 RdNr. 15). Der Beklagte hat dem
nervenärztlichen Versorgungsarzt das Gutachten bereits Ende Juli 2004 mit der Anfrage nach einer Rücknahme
gemäß § 45 SGB X vorgelegt. Er hat dazu dem Arzt eine Frist von zunächst vier Wochen eingeräumt und diese
später noch verlängert. Insofern erscheint es unverständlich, dass eine Anhörung des Klägers durch den Beklagten
nicht früher - parallel zur Bearbeitung durch den versorgungsärztlichen Dienst - eingeleitet wurde. Die Frist von
mindestens 14 Tagen hätte jedenfalls gewahrt werden können. Wird das Anhörungsrecht nicht im erforderlichen
Umfange gewährt, kann dem Betroffenen nicht entgegengehalten werden, er habe nicht reagiert.
Gänzlich unterblieben ist die Anhörung zu den tatsächlichen Umständen hinsichtlich der hier relevanten
Vertrauensschutzaspekte, auf welche der Beklagte auch seine Entscheidung gestützt hat.
b) Der Bescheid vom 18. Oktober 2004 ist auch materiell rechtswidrig. Er verstößt gegen § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X.
Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit
der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem
öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen des Klägers erweist sich bei einer
Interessenabwägung als schutzwürdig.
Die von § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X verlangte Interessenabwägung hat die Regelungszwecke der Rücknahmevorschrift
zu berücksichtigen. Die nach § 45 SGB X zugelassene Durchbrechung der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§
77 SGG) geht vom Verfassungsprinzip der Recht- und Gesetzmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns (Art 20 Abs. 3
GG) aus, das verlangt, rechtswidrige Verwaltungsakte zu unterlassen oder zu beseitigen. Dem steht allerdings der
rechtsstaatliche Grundsatz gegenüber, dass der für die Rechtswidrigkeit nicht verantwortliche Betroffene auf die
Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen darf und vor der Rücknahme geschützt sein soll. Die vom
Gesetzgeber verlangte Abwägung muss im Einzelfall klären, welches Interesse überwiegt, das der Allgemeinheit auf
Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes oder das des gutgläubigen Begünstigten an der Aufrechterhaltung eines
rechtswidrigen Zustandes (BSG, Urteil vom 05.11.1997, 9 RV 20/96, BSGE 81, 156, JURIS-RdNr. 18). Für die
Abwägung hat auch Bedeutung, dass es mit den anerkannten Grundsätzen einer sparsamen Verwendung von
Haushaltsmitteln nicht zu vereinbaren ist, Sozialleistungen ohne Vorliegen ihrer Voraussetzungen zu erbringen (BSG
ebd JURIS-RdNr. 19). Diese gewichtigen öffentlichen Interessen schließen es im Einzelfall jedoch nicht aus, das
Individualinteresse des rechtswidrig Begünstigten als bedeutsamer anzusehen und einen Ausschluss der Rücknahme
nach § 45 Abs. 2 SGB X zu bejahen. Das setzt zunächst voraus, dass der Betroffene auf den Bestand der
Leistungsbewilligung vertraut hat. Für das Vorliegen von Vertrauen spricht eine Vermutung (BSG ebd JURIS-RdNr. 20,
wo der Grundsatz erwähnt wird, dass der Staatsbürger auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen
darf, m w N). Das Vertrauen ist - wie sich aus § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X ergibt - in der Regel schutzwürdig, wenn der
Begünstigte eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen
rückgängig machen kann. Aber selbst wenn der Betroffene nicht schon nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X
Vertrauensschutz genießt, können andere Umstände für die Annahme seiner Schutzwürdigkeit sprechen (BSG ebd
JURIS-RdNr 22 m w N). So ist beispielsweise zugunsten des Betroffenen zu berücksichtigen, wenn die Unrichtigkeit
des begünstigenden Verwaltungsaktes allein in den Verantwortungsbereich des Beklagten fällt oder durch grobe
Fehler der Verwaltung bei Erlass des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts das Vertrauen des
Begünstigten in die Bestandskraft der Leistungsbewilligung nachhaltig gestärkt wird (BSG ebd). Von Bedeutung
können ferner die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen sein. Schließlich ist ggf. zu berücksichtigen, wenn der
begünstigende Bescheid nach einem lang dauernden Verwaltungsverfahren ergangen ist, in dessen Verlauf die
Behörde den Sachverhalt aufgeklärt und geprüft hat, und wenn der zeitliche Abstand zwischen Erlass des Bescheides
und Erlass des Rücknahmebescheides ins Gewicht fällt, denn mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Zeitpunkt
der begünstigenden Verfügung wird die Stellung des rechtswidrig Begünstigten gestärkt (vgl BSG ebd JURIS-RdNr
23). Bereits mit Ablauf der Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 SGB X verlieren angesichts der gesetzgeberischen
Entscheidung die öffentlichen Belange gegenüber dem Vertrauen des Berechtigten jegliche Bedeutung.
Der Kläger hat auf den Bestand des Bescheides vom 21. Oktober 2002 vertraut, soweit dieser von ihm nicht
angefochten worden ist. Vielmehr hat er seine prozessuale Forderung gerade auf den bestandskräftigen
Feststellungen aufgebaut. In seinem Fall ergeben sich aus dem begünstigenden und insofern bestandskräftigen Teil
des Bescheides über den Anspruch auf Heilbehandlung wegen der anerkannten Schädigungsfolgen hinaus keine
wirtschaftlichen Vorteile, wie sich auch für den Beklagten keine weitergehende wirtschaftliche Belastung daraus
ergibt. Vermögensverfügungen, welche eine besonderes Vertrauen vermuten lassen würden (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB
X), sind vom Kläger nicht getroffen worden. Vor allem im Hinblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen können die
feststellenden Verfügungen wirtschaftliche Bedeutung erlangen. Der Anspruch auf Heilbehandlung hinsichtlich der
Schädigungsfolgen beinhaltet zwar Vorteile gegenüber den gleichartigen Ansprüchen aus der gesetzlichen
Krankenversicherung, spielt aber für die Beteiligten angesichts ihres Vortrages keine erhebliche Rolle bei der eigenen
subjektiven Bewertung ihrer Interessen. Vertrauensausschlusstatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X sind nicht
erfüllt. Die nach Abs 2 Satz 1 vorzunehmende Abwägung hat deshalb im vorliegenden Fall insbesondere zu
berücksichtigen, dass die begünstigend feststellende Entscheidung erst nach einem mehrjährigen
Verwaltungsverfahren (Beginn im Dezember 1999) mit umfassender medizinischer Ermittlung im Oktober 2002
abgeschlossen wurde, der Kläger keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung hatte und der
Beklagte sodann die Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X praktisch voll ausschöpfte. Mit der
Rechtsprechung des BSG muss angesichts dieser erheblichen Zeiträume ein erhebliches Vertrauen des Klägers
angenommen werden. Unter diesen vor allem zeitlichen Umständen und angesichts relativ geringer aktueller
wirtschaftlicher Interessen muss das Vertrauen des Klägers als i S v § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X schutzwürdig beurteilt
werden. Der Beklagte war dann jedoch an der Rücknahme des Bescheides vom 21. Oktober 2002 gehindert.
3. Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung einer anderen
Gesundheitsschädigung auf psychiatrischem Gebiet durch die Haftzeiten und keinen Anspruch auf höhere Bewertung
der bindend festgestellten Erkrankungen. Beklagter und Sozialgericht haben daher auch zutreffend einen
Rentenanspruch des Klägers nach §§ 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG und 31 f BVG abgelehnt.
Nach §§ 3 Abs. 1, 16 Abs. 1 und 3 i V m 1 Abs. 1 StrRehaG begründet die Aufhebung eines Strafurteils im
Beitrittsgebiet als rechtsstaatswidrig einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen unter anderem in Form einer
Beschädigtenversorgung nach Maßgabe der §§ 21 bis 24 StrRehaG. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein
Betroffener, der infolge einer rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat,
wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender
Anwendung des BVG. § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG geht dabei von einer Kette von Tatbestandsvoraussetzungen
aus, deren Glieder jeweils in kausaler Verknüpfung stehen müssen. Das erste Glied ist die rechtsstaatswidrige
Freiheitsentziehung, das zweite Glied bildet die gesundheitliche Schädigung (Primärschaden), welche durch die
rechtsstaatswidrige Haft bewirkt sein muss, als drittes Glied stellt sich die Folge der gesundheitlichen Schädigung
(Schädigungsfolge) dar, also das Versorgungsleiden, dessen Feststellung ein Antragsteller durch die
Versorgungsverwaltung begehrt. Diese drei Glieder der Kausalkette bedürfen grundsätzlich des Vollbeweises. Nach §§
21 Abs. 5 StrRehaG, 1 Abs. 3 BVG genügt zur Anerkennung des Zurechnungszusammenhangs zwischen Schädigung
und einer Gesundheitsstörung dagegen schon die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlich ist jede
Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein
deutliches Übergewicht zukommt (ständige Rechtsprechung, BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77 in SozR 3900
§ 40 BVG Nr 9 S 38; BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 32/01 B in SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Für eine solche
hinreichende Wahrscheinlichkeit ist lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhanges oder eine Abfolge mit
entsprechendem zeitlichem Zusammenhang nicht ausreichend. Nach der wie im gesamten Sozialrecht auch im
Versorgungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist im Übrigen zu beachten, dass nicht jeder
Umstand, der irgendwie zum Erfolg beigetragen hat, rechtlich beachtlich ist, sondern nur die Bedingungen, die unter
Abwägung ihres verschiedenen Wertes wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg diesen wesentlich herbeigeführt
haben (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R JURIS-RdNr 14 m w N). Auch eine nicht annähernd gleichwertige,
sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein,
solange eine andere Ursache keine überragende Bedeutung hat. Gesichtspunkte für die Beurteilung der
Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache als solche, insbesondere Art und Ausmaß
der Einwirkung, der Geschehensablauf, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres
Ausmaßes, sowie die gesamte Krankengeschichte. (BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R JURIS-RdNr 15 m w
N) Dies zugrunde gelegt hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung einer höheren MdE bzw eines höheren
Grades der Schädigungsfolgen (GdS) oder der weiteren geltend gemachten Erkrankungen. Die bindend festgestellten
Gesundheitsstörungen rechtfertigen nach den AHP keinen höheren GdS (reizbare Verstimmungen und
Schlafstörungen sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen als Folgen psychischer Traumen, die
nach den AHP 26.3 S 48 nur mit einer MdE von 0 bis 20 zu bewerten sind). Dies ist zwischen den Beteiligten
zutreffend unstreitig und wird von allen Sachverständigen im Verfahren so vertreten.
Darüber hinaus gehende Erkrankungen und gesundheitliche Schädigungsfolgen lassen sich nicht auf die Haftzeiten
zurückführen, für welche der Kläger rehabilitiert wurde. Weder lassen sich ein psychisches Leiden mit organischen
Anteilen noch eine posttraumatische Belastungsstörung mit andauernder Persönlichkeitsänderung auf die
rechtsstaatswidrigen Haftzeiten zurückführen. Einen solchen Zusammenhang hat auch der forensisch-
psychiatrischenGutachter im Berufungsverfahren auf die entsprechende Beweisfrage nicht hergestellt.
Unter Berücksichtigung der vorhandenen Beweismittel gelangt der Senat zu der Überzeugung, dass die Haftzeiten von
1970 bis 1975 keine gesundheitliche Schädigung des Klägers bewirkt haben. Dabei handelte es sich um die
Haftzeiten im Jugendwerkhof Erfurt (1970/1971), bei welchem der Kläger einen Berufsabschluss (Tischler) erlangte,
und um die Haftzeit in Unterwellenborn (1973-75). Diese Haftzeiten schilderte der Kläger selbst als "Kindergarten",
während er die besonders belastenden Hafterfahrungen mit den Haftanstalten Bautzen und Karl-Marx-Stadt sowie mit
der Haftanstalt des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Verbindung bringt. Soweit für die Haftzeiten bis 1975 überhaupt
Äußerungen des Klägers vorliegen, deuten sie auf eine pragmatische und unauffällige Bewältigung durch den Kläger
hin. Nach der Haft bis April 1975 folgte eine zunächst relativ unauffällige Phase mit einer hinreichenden sozialen
Integration (Bergbau Nordhausen) und dem Vorsatz des Klägers, nicht wieder straffällig zu werden (vgl. Gutachten Dr.
M S. 8). Nervenärztliche oder psychologische Behandlung hat der Kläger nicht gesucht. Diese Umstände lassen es
ausgeschlossen erscheinen, dass es über die mit einer Haftsituation verbundenen Einschränkungen hinaus zu
nachhaltigen Traumatisierungen des Klägers gekommen ist. Auch der forensisch-psychiatrische Gutachter schildert
die von ihm angenommenen traumatisierenden Hafterlebnisse des Klägers nur für Haftzeiten nach Beantragung der
Ausreise. Den Zeitpunkt dafür hat der Gutachter für das Jahr 1979 mitgeteilt (S. 14 des Gutachtens). Der behandelnde
Nervenarzt des Klägers führt die psychischen Probleme des Klägers ausschließlich auf die Haftzeiten ab 1980 zurück
(Attest vom 03.10.1999).
Kommen jedoch nur die Haftzeiten ab 1980 überhaupt in Betracht, um die vom forensisch-psychiatrischen Gutachter
angenommene posttraumatische Belastungsstörung zu bewirken, lässt sich nicht eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit dafür feststellen, dass die rechtsstaatswidrigen Haftteile dafür (mit) ursächlich waren. Seit August
1980 bis zu seiner Ausreise am 31. Oktober 1986 befand sich der Kläger ca. 57,7 Monate in Haft. Davon fielen nur
18,7 Monate auf als rechtsstaatswidrig anerkannte Haftzeiten. Die weiteren 39 Monate (67,5 %) können für eine
schädigende Haftzeit im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG nicht berücksichtigt werden. Nach den Darstellungen
des forensisch-psychiatrischen Gutachters bedeutete für den Kläger mit seiner besonderen Persönlichkeitsstruktur die
Haft und bestimmte willkürliche Maßnahmen in der Haft (insbesondere Zellenfluten, Rollkommando, Isolierung,
Essensentzug/-reduzierung, Zigarettenentzug und entwürdigende Körpervisitationen) eine besondere Belastung (S. 42
des Gutachtens). Diese Aspekte werden vom Kläger, wie von den Gutachtern mitgeteilt, für die Haftanstalten Bautzen
und Karl-Marx-Stadt recht undifferenziert dargestellt. Allerdings schildert der Kläger die letzte Haft in Karl-Marx-Stadt
als besonders schlimm ("Hölle" – Gutachten Dr. K S. 10, Gutachten Prof. Dr. Z S. 36). Der Kläger geht ausweislich
seiner Erklärung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat davon aus, dass ausschlaggebend für die
Schädigungsfolgen ganz vorrangig die letzte Haft war. Damit korrespondiert, dass nach dieser Haft, nicht jedoch
bereits früher nervenärztliche Behandlung in Anspruch genommen wurde (Dr. H). Von der letzten Haft waren jedoch
von etwas mehr als 13 Monaten der Großteil, nämlich 12 Monate, nicht als rechtsstaatswidrig zu bewerten. Dann
jedoch ist es unwahrscheinlich, dass wesentliche als traumatisierend in Frage kommende Ereignisse den Zeiträumen
zuzuordnen sind, welche die vom Kläger begehrte Rente und Feststellungen bedingen müssten. Die
rechtsstaatswidrigen (auf vier Haftzeiten in sechs Jahren verteilten) Haftzeiten von 18,7 Monaten haben daher im
Vergleich zu den deutlich überwiegenden anderen, besonders belastenden Haftzeiträumen weder quantitativ noch
qualitativ das Gewicht, auf das sich eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die geltend gemachte Traumatisierung
ergeben könnte. Auf diesen Umstand hat bereits zutreffend der nervenärztliche Sachverständige des Sozialgerichts
hingewiesen (Gutachten S 37): würde man die rechtsstaatswidrigen Haftzeiten gedanklich abziehen, wäre eine andere
psychische Konstellation des Klägers nicht anzunehmen. Die rechtsstaatswidrigen Freiheitsentziehungen können
daher nicht als rechtlich wesentliche Bedingung für die vom forensisch-psychiatrischen Gutachter angesehenen
psychischen Schäden angesehen werden. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, inwieweit die Diagnosen des
nervenärztlichen Sachverständigen des Sozialgerichts oder des forensisch-psychiatrischen Gutachters zutreffend
sind. Für die Beurteilung des nervenärztlichen Sachverständigen des Sozialgerichts spricht allerdings die
Straffälligkeit des Klägers selbst in der Bundesrepublik. Auch das auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholte
Gutachten vermag nicht die Voraussetzungen (insbesondere die Ursächlichkeit rechtsstaatswidriger Haft für
Gesundheitsschäden) der von ihm geltend gemachten Ansprüche zu belegen. Für weitere Ermittlungen von Amts
wegen haben sich keine Anhaltspunkte ergeben.
Alle vorhandenen Beweismittel lassen eine Feststellung schwererer, mit einem höheren GdS zu bewertenden
gesundheitliche Schädigungen infolge rechtsstaatswidriger Haft nicht zu. Voraussetzung für eine Rente nach § 31
BVG ist jedoch, dass mindestens ein GdS von 25 vorliegt ("Aufrundung" nach § 30 Abs. 1 Satz 2 letzter Teilsatz
BVG). Der durch rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung bedingte GdS erreicht diesen Wert jedoch nicht. Insofern ist
unbeachtlich, dass der Kläger als Schwerbehinderter einen deutlich höheren GdB hat und im Sinne der gesetzlichen
Rentenversicherung voll erwerbsgemindert (erwerbsunfähig) ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt die überwiegende Erfolglosigkeit der
Rechtsverfolgung.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.