Urteil des SozG Berlin vom 03.12.2008

SozG Berlin: erste hilfe, leistungserbringer, behandlungsbedürftigkeit, krankenkasse, ärztliche untersuchung, versorgung, echte rückwirkung, aufschiebende wirkung, einziehung, befristung

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 03.12.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 79 KA 308/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 7 KA 57/09
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2008 aufgehoben; die
Bescheide der Beklagten über die Zurückbehaltung von Honorar für die Quartale I bis III/2005 in der Fassung des
Teilabhilfebescheides vom 24. Mai 2006 sowie des Widerspruchsbe-scheides vom 13. Juni 2006 werden aufgehoben;
die Beklagte wird verur-teilt, an die Klägerin 92.570,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu einem Achtel und
die Beklagte zu sieben Achteln. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin betreibt als Krankenhauskonzern in Berlin u. a. das Klinikum N, das in einer Rettungsstelle Erste-Hilfe-
Leistungen erbringt. Die Beteiligten streiten um die Zurückbehaltung von Honorar in Höhe von ursprünglich 106.520,-
Euro und nun noch 92.570,- Euro für die Quartale I bis III/2005 wegen der Nichteinbehaltung der Zuzah-lung nach § 28
Abs. 4 Sozialgesetzbuch / Fünftes Buch (SGB V, "Praxisgebühr").
Mit undatierten Bescheiden für die Quartale I/2005 bis III/2005, die der Klägerin mit Schreiben vom 13. Oktober 2005,
24. Januar 2006 und 22. März 2006 zugegangen sind, modifiziert durch einen Teilabhilfebescheid vom 24. Mai 2006,
hielt die Beklagte Honorar in Höhe von insgesamt 106.520,- Euro für nicht erhobene Zuzahlungen zu-rück; im
Einzelnen:
Quartal Zahlungspflichtige Patienten (Gesamtfallzahl) nicht ein-behaltene Zuzahlung (Fallzahl) Nichteinzugsquote
Zurückbehaltenes Honorar I/2005 6.206 3.638 58,62 % 36.380,- Euro II/2005 6.181 3.558 57,56 % 35.580,- Euro
III/2005 6.334 3.456 54,56% 34.560,- Euro
Mit ihren hiergegen jeweils erhobenen Widersprüchen machte die Klägerin geltend, das Inkassorisiko für den Erhalt
der Praxisgebühr dürfe nicht den Erste-Hilfe-Stellen der Krankenhäuser aufgebürdet werden. Eine schuldhafte
Pflichtverletzung liege nicht vor, auf das Erheben der Praxisgebühr sei nicht verzichtet worden. Die nachträgliche
Aufforderung zur Zahlung gegenüber den Patienten sei nicht zu beanstanden. Bei der Behandlung ihrer Patienten in
den Erste-Hilfe-Stellen handele es sich stets um Notfäl-le, in denen immer eine akute Behandlungsbedürftigkeit
gegeben sei. Die Besonder-heiten der Notfallbehandlung ließen eine Einziehung der Zuzahlung vor der Behand-lung im
Regelfall nicht zu. In diesen Fällen werde den Patienten nach erfolgter Be-handlung eine schriftliche
Zahlungsaufforderung ausgehändigt. Dann bestehe die Möglichkeit, den Betrag sogleich bar oder per Kartenzahlung
an der Kasse zu entrich-ten oder innerhalb von zehn Tagen zu überweisen.
Die Widersprüche wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2006 zurück. Zur Begründung führte sie
aus: Auch Krankenhäuser seien verpflichtet, vor jeder ersten ambulanten Inanspruchnahme im Kalendervierteljahr
eine Zuzahlung in Höhe von 10,- Euro zu erheben, sofern sie mit Erste-Hilfe-Stellen an der ambulanten
vertragsärztlichen Versorgung teilnähmen. Jeder Leistungserbringer unterliege einer gesetzlichen Verpflichtung zum
Zahlungseinzug. Die entsprechenden Regelungen im Gesetz und in den Bundesmantelverträgen seien auch auf
ambulante Notfallbehand-lungen im Krankenhaus anwendbar. Die Nichteinzugsquote liege im Falle der Klägerin
durchweg bei über 50 Prozent. Auf der Grundlage von § 18 Abs. 7a Bundesmantelver-trag – Ärzte (BMV-Ä) bzw. § 21
Abs. 7a Bundesmantelvertrag – Ärzte/Ersatzkassen (EKV) könne die Differenz zwischen einzubehaltender und
tatsächlich einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten werden, wenn ein Leistungserbringer – wie die Klägerin – in einem
Quartal in 10 von 100 oder einem höheren Anteil der nach § 28 Abs. 4 SGB V zuzahlungspflichtigen Behandlungsfälle
die Zuzahlung nicht erhoben habe. Das Ermessen sei bei der Entscheidung über die Zurückbehaltung von Honorar
beanstan-dungsfrei ausgeübt worden. Die Klägerin habe ihre bundesmantelvertraglichen Pflich-ten zum
Zahlungseinzug schuldhaft verletzt, was auch durch die hohe Nichteinzugs-quote belegt werde. Sie habe nämlich
nicht nachgewiesen, dass sie die Zuzahlung grundsätzlich vor der Inanspruchnahme der ambulanten Leistung erhebe.
Die von der Klägerin beschriebene Verfahrensweise genüge den Anforderungen nicht. Auch bei Notfallbehandlungen
sei die Zuzahlung grundsätzlich vor Behandlungsbeginn zu er-heben, zumal aufgrund der verhältnismäßig schwachen
Arzt-Patient-Bin¬dung ein er-höhtes Inkassorisiko bestehe. Anderes gelte nur bei akuter Behandlungsbedürftigkeit,
wenn der Gesundheitszustand des Patienten eine vorherige Erhebung der Zuzahlung nicht zulasse; in diesen Fällen
komme es aber ohnehin oftmals zur stationären Auf-nahme. Dass eine vorherige Erhebung der Zuzahlung bei
Patienten der Erste-Hilfe-Stellen aus gesundheitlichen Gründen durchweg ausgeschlossen sei, sei nicht er-kennbar.
Ihre dagegen erhobenen Klage, gerichtet auf Auszahlung des zurückbehaltenen Ho-norars in Höhe von insgesamt
106.520,- Euro, hat die Klägerin im Wesentlichen wie folgt begründet: § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV
seien hier nicht anwend-bar. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der
Krankenkassen geschlossenen Bundesmantelverträge entfalteten weitere Rege-lungswirkung nur für die
Vertragsärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Versicherten, nicht aber gegenüber den eine ambulante
Notfallversorgung anbieten-den Krankenhäusern. Dort erbrachte ambulante Notfallleistungen seien nicht Bestand-teil
der vertragsärztlichen Versorgung. Zudem sei fraglich, ob die Regelungen in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a
EKV überhaupt eine hinreichende gesetzliche Er-mächtigung besäßen; § 43b Abs. 2 SGB V erlaube keine Regelung
eines Zurückbe-haltungsrechts. Eine Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung bei den Patienten auch aus Anlass
ambulanter Notfallbehandlung könne sich danach nur aus der "Rah-menempfehlung Praxisgebühr" ergeben. Diese
gestatte eine nachträgliche Erhebung der Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit ausdrücklich. Die
Besonderheit der Notfallbehandlung in den Erste-Hilfe-Stellen lasse eine Einziehung der Zuzahlung vor
Behandlungsbeginn nicht zu, so dass den Patienten jeweils nach der Behandlung eine schriftliche
Zahlungsaufforderung überreicht werde. Es handele sich stets um Notfälle, in denen immer eine akute
Behandlungsbedürftigkeit mit der Notwendigkeit unverzüglichen Einschreitens gegeben sei. Ob die Untersuchung
dann gegebenen-falls ergebe, dass tatsächlich keine akute Behandlungsbedürftigkeit bestehe, sei rechtlich
unerheblich. Die Verzögerung einer Behandlung wegen vorheriger Einzie-hung der Zuzahlung könne sogar
strafrechtliche Relevanz entfalten. Notfallpatienten könnten auch deshalb nicht vorab an die Zahlstellen verwiesen
werden, da diese sich nicht immer in räumlicher Nähe zur Rettungsstelle befänden und auch nicht durch-gängig
geöffnet seien. Gleich¬wohl werde die Klägerin den organisatorischen und tat-sächlichen Anforderungen an die
Erhebung der Zuzahlung in jeder Hinsicht gerecht. Ihre Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung habe die Klägerin
danach nicht schuldhaft verletzt. Allein die Höhe der Nichteinzugsquote, die die Beklagte im Übri-gen fehlerhaft
berechnet habe, lasse keinen Rückschluss auf etwaiges Verschulden zu.
Mit Urteil vom 3. Dezember 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und ausgeführt: § 18 Abs. 7a
BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV seien auf die Klägerin anwendbar, soweit es um den Betrieb ambulanter Erste-Hilfe-
Stationen gehe. Daher unterliege auch die Klägerin der Verpflichtung, vom Patienten die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4
SGB V einzuziehen; die Zurückbehaltung eines Teils der Vergütung müs-se sie hinnehmen. Der Gesetzgeber habe
die Vertragspartner der Bundesmantelver-träge ausdrücklich ermächtigt, das Verfahren des Einzugs der Zuzahlung
auch mit Wirkung für nicht vertragsärztlich zugelassene, aber zu Lasten der gesetzlichen Kran-kenversicherung tätige
Leistungserbringer zu regeln. Ihr Zurückbehaltungsrecht habe die Beklagte auch angesichts der vorliegend sehr hohen
Nichteinzugsquote rechtmä-ßig ausgeübt. Ob die Klägerin ihre Pflicht zum Einzug der Zuzahlung schuldhaft ver-letzt
habe, sei in diesem Zusammenhang unerheblich und ausschließlich in dem pa-rallel geführten Schlichtungsverfahren
zu klären.
Gegen das ihr am 3. März 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 3. April 2009 Berufung eingelegt.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin erklärt, ihre Honorarforderung reduziere sich um zwischenzeitlich geleistete
Zahlungen von Versicherten und Erstattungen der Be-klagten aufgrund von Rechenfehlern. Ihre Honorarforderung
betrage nunmehr noch 92.570,- Euro, nämlich 36.380,- Euro für das Quartal I/2005, 23.820,- Euro für das Quartal
II/2005 sowie 32.370,- Euro für das Quartal III/2005.
Zur Begründung ihrer Berufung vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und bringt ergänzend vor: Ihr Ermessen
habe die Beklagte bei Ausübung des Zurückbe-haltungsrechts auch deshalb fehlerhaft ausgeübt, weil
Krankenhausträger stets liquide seien und daher kein Sicherungsbedürfnis bestehe. Das Risiko von nicht beizutrei-
benden Zuzahlungen dürfe zudem nicht von den Krankenkassen auf die Leistungserb-ringer verlagert werden; die
dauerhafte Zurückbehaltung von Honorar sei gleichbe-deutend mit einer Honorarkürzung. Im Übrigen hätten § 18 Abs.
7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV nur vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2006 gegolten, so dass die
fortlaufende Ausübung des Zurückbehaltungsrechts ab dem Jahr 2007 schon aus diesem Grunde rechtswidrig sei.
Bereits die Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 sei nicht hinreichend bekannt gemacht. Die am 30.
August 2010 verein-barte rückwirkende Aufhebung der Befristung gehe ins Leere, weil sie an den 30. Juni 2007 statt
an den 1. Juli 2007 hätte anknüpfen müssen. Unabhängig davon entfalte die Rückdatierung der Vereinbarung vom 30.
August 2010 echte Rückwirkung und sei damit verfassungswidrig. Angesichts des eingetretenen Gewöhnungseffekts
in Bezug auf die Praxisgebühr bei Ärzten und Patienten sei die Regelung zum Zurückbehal-tungsrecht mit der ihr
innewohnenden Disziplinierungswirkung auch nicht mehr erfor-derlich.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2008 aufzuheben, die Bescheide der Beklagten über die
Zurückbehaltung von Honorar für die Quarta-le I/2005, II/2005 und III/2005 in der Fassung des Teilabhilfebescheides
vom 24. Mai 2006 sowie des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2006 aufzuhe-ben und die Beklagte zu
verurteilen, ihr 92.570,- Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und bringt ergänzend vor: Ein Leistungserbringer, der seine
Verpflichtung zum Einzug der Zuzahlung nicht erfülle, dürfe sich nicht hinter dem Inkassorisiko der Krankenkassen
verstecken. Die Aus-übung des Zurückbehaltungsrechts diene der Sicherung des auch nach dem Ausgang des
Schlichtungsverfahrens unzweifelhaft bestehenden Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen. Der
Zahlungsanspruch der Klägerin sei gegebenenfalls zu hoch be-ziffert, da sie selbst behaupte, ein Teil der
ursprünglichen Nichtzahler habe die Zuzah-lung später noch entrichtet. Die ursprünglich bestehende Befristung von §
18 Abs. 7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV sei inzwischen von den Partnern der Bundesmantelver-träge aufgehoben
worden. Das Zurückbehaltungsrecht sei damit rechtmäßig ausgeübt worden. Auf das Vorliegen einer schuldhaften
Pflichtverletzung seitens der Klägerin komme es hier nicht an; diese sei allein in dem Klageverfahren zu
thematisieren, das einen Schadensersatzanspruch auf Grund eines Schlichtungsverfahrens zum Ge-genstand habe.
Der Senat hat vom Sozialgericht Berlin die Streitsache S 79 KA 18/09 nebst Beiakte beigezogen. Daraus ergibt sich:
Mit Bescheiden vom 13. Mai 2008 hat die Beklagte "aufgrund des Vorschlages der Schlichtungsstelle gemäß § 49
Abs. 1 BMV-Ä bzw. § 45 Abs. 1 EKV" festgestellt, "dass die zur V N für Gesundheit GmbH gehörenden
Krankenhäuser ihre vertragsärztlichen Pflichten dadurch verletzt haben, dass sie in dem Zeitraum der Quartale I/2005
bis II/2007 die Zuzahlung gemäß § 28 Abs. 4 SGB V nicht ordnungsgemäß eingezogen haben und dadurch den
Krankenkassen ein Schaden entstanden ist." Der den einzelnen Krankenkassen entstandene Schaden sei zu
erstatten. Das sich aus der hohen Nichtzahlerquote von zwischen 50 und 75 Pro-zent ergebende Indiz für eine
schuldhafte Pflichtverletzung habe die Klägerin nicht entkräftet. Die Widersprüche der Klägerin hat die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 zurückgewiesen. Die Höhe des Schadensersatzanspruchs der
Primärkassen hat die Beklagte darin auf 1.106.120,- Euro beziffert, den der Er-satzkassen auf 618.600,- Euro. Über
die dagegen erhobene Klage (S 79 KA 18/09) ist noch nicht entschieden.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakten und
der Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Akte zum Verfahren S 79 KA 18/09 nebst Beiakte Bezug
genommen, der, soweit wesent-lich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entschei-
dungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialge-richt die Klage abgewiesen. Die
angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und ver-letzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat für die Quartale I bis
III/2005 Anspruch auf Auszahlung zurückbehaltenen Honorars in Höhe von 92.570,- Euro nebst Zinsen. 1.
Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgenommene Zurückbehaltung von Honorar ist § 18 Abs. 7a Satz 1
BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV.
Die im Wesentlichen gleich formulierten Vorschriften lauten:
1. Ergibt sich aus der Abrechnung, dass ein Leistungserbringer in einem Quartal in 10 von Hundert oder einem
höheren Anteil der Behandlungsfälle, in denen die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V zu erheben ist, die Zuzahlung
nicht er-hoben hat, kann die Kassenärztliche Vereinigung die Differenz zwischen einzu-behaltender und einbehaltener
Zuzahlung zurückbehalten. 2In den Fällen, in denen die Kassenärztliche Vereinigung von dem Zurückbehaltungsrecht
nach Satz 1 Gebrauch macht, informiert die Kassenärztliche Vereinigung die betrof-fenen Landesverbände der
Krankenkassen (EKV: Landesvertretungen der Er-satzkassenverbände). 3Gleichzeitig leitet die Kassenärztliche
Vereinigung in Abstimmung mit der zuständigen Krankenkasse (EKV: Ersatzkasse) ein Verfah-ren nach § 49 (EKV: §
45) ein.
2. Diese Rechtsgrundlage findet eine hinreichende Ermächtigung im Gesetz (un-ten a) und entfaltet auch umfassend
Gültigkeit (unten b). Ihr Tatbestand ist erfüllt (un-ten c), doch ihr Ermessen bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts
hat die Beklagte zur Überzeugung des Senats fehlerhaft ausgeübt (unten d).
a) Ihre Ermächtigung hat die zitierte bundesmantelvertragliche Regelung in § 43b Abs. 2 Sätze 4 und 8 SGB V.
aa) Diese Norm steht in folgendem Zusammenhang: Mit dem Gesetz zur Moderni-sierung der gesetzlichen
Krankenversicherung vom 14. November 2003 (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG, BGBl. I S. 2190) wurde mit
Wirkung vom 1. Januar 2004 für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung eine Pflicht zur Zu-zahlung in
Höhe von 10 Euro pro Quartal ("Praxisgebühr") eingeführt (vgl. zur Verfas-sungsmäßigkeit der Regelung:
Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 209, B 3 KR 3/08 R, zitiert nach juris, Leitsatz). § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB V
i.d.F. des GMG lautet:
Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, leisten je Kalenderviertel-jahr für jede erste Inanspruchnahme
eines an der ambulanten ärztlichen, zahn-ärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden
Leistungs-erbringers, die nicht auf Überweisung aus demselben Kalendervierteljahr er-folgt, als Zuzahlung den sich
nach § 61 Satz 2 ergebenden Betrag an den Leis-tungserbringer.
Den Zahlungsweg für diese Zuzahlung regelt § 43 b Abs. 1 und 2 SGB V. Die Vor-schrift lautete i.d.F. des GMG:
(1) 1Leistungserbringer haben Zahlungen, die Versicherte zu entrichten haben, einzuziehen und mit ihrem
Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse zu verrechnen. 2Zahlt der Versicherte trotz einer gesonderten
schriftlichen Auf-forderung durch den Leistungserbringer nicht, hat die Krankenkasse die Zah-lung einzuziehen. (2)
1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten; sein
Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung
verringert sich entsprechend. 2Die nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der
von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach
Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der Leis-tungserbringung und Abrechnung im
Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4Das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1 und 2 ist in
den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren.
Mit Wirkung vom 1. Januar 2007 (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22. De-zember 2006, BGBl. I S. 3439)
wurde die Vorschrift ergänzt um die Sätze 4 bis 8; der bisherige Satz 4 wurde Satz 8, 2. Halbsatz. § 43 b Abs. 2 SGB
V lautet nunmehr:
(2) 1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten;
sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung
verringert sich entsprechend. 2Die nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der
von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach
Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der Leis-tungserbringung und Abrechnung im
Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4In den Fällen des Satzes 3 haben die Kassenärztliche oder
Kas-senzahnärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen, wenn
der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht zahlt. 5Sie kön-
nen hierzu Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten erlassen. 6Klagen ge-gen Verwaltungsakte nach Satz 5
haben keine aufschiebende Wirkung. 7Ein Vorverfahren findet nicht statt. 8In den Bundesmantelverträgen kann ein
von Satz 4 abweichendes Verfahren vereinbart werden; das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7
ist in den Bundesmantelverträgen zu verein-baren.
bb) Die Krankenkasse ist nach diesem Regelungssystem Gläubigerin des An-spruchs auf Zuzahlung nach § 28 Abs.
4 SGB V. Der Vertragsarzt fungiert lediglich als Einzugs- bzw. Inkassostelle. Daraus folgt, dass nur die
"einbehaltenen" Zuzahlungen, also tatsächliche Zahlungen der Versicherten, nicht aber schon die "einzubehalten-den"
Zuzahlungen den Vergütungsanspruch der Vertragsärzte gegenüber der jeweili-gen Kassen(zahn)ärztlichen
Vereinigung verringern. Zahlt ein Versicherter die Praxis-gebühr anlässlich einer ärztlichen Behandlung nicht, hat der
Vertragsarzt ihn lediglich schriftlich zur Nachzahlung aufzufordern. Bleibt diese Mahnung erfolglos, hat die Kas-
sen(zahn)ärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zu-zahlung zu übernehmen, soweit in
den Bundesmantelverträgen nichts Abweichendes bestimmt ist. Der Vertragsarzt hat hiernach also nur eine
Inkassofunktion auszuüben, ist aber nicht selbst Gläubiger der Praxisgebühr. Die Stellung der Krankenkassen als
Gläubiger der Praxisgebühr lässt sich zusätzlich aus § 28 Abs. 4 Satz 3 SGB V ablei-ten, wonach im Falle der Wahl
von Kostenerstattung statt der Sach- oder Dienstleis-tung (§ 13 Abs. 2 SGB V) die Zuzahlung von der Krankenkasse
gemäß § 13 Abs. 2 Satz 9 SGB V unmittelbar in Abzug zu bringen ist, sich die von ihr an den Versicherten zu
erstattende Arztvergütung also um einen der Praxisgebühr entsprechenden Betrag verringert (vgl.
Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 16 f.).
cc) § 43b Abs. 2 Satz 8 SGB V ist mit der Formulierung "das Nähere zum Verfah-ren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis
7" eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinrei-chende Ermächtigung für die bundesmantelvertragliche Regelung des
hier streitigen Zurückbehaltungsrechts. § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV beinhalten näm-lich eine
Verfahrensregelung im Hinblick auf die Einbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V durch die
Leistungserbringer sowie die Folgen schuldhafter Nicht-einbehaltung.
Geregelt sind die Pflicht zur Einbehaltung der Zuzahlung und deren Folge in § 43 b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB V. Der
Leistungserbringer ist zur Einbehaltung verpflichtet. Sein Vergütungsanspruch verringert sich in Höhe des
einbehaltenen Betrages. Gleichzeitig verringert sich die Gesamtvergütung in Höhe der Summe der einbehalte-nen
Zuzahlungen.
Materiellrechtlich knüpft sich an die schuldhafte Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V
gegebenenfalls eine Schadensersatzpflicht des Leistungs-erbringers gegenüber den Krankenkassen nach § 49 BMV-Ä
bzw. § 45 EKV. Das in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV normierte Zurückbehaltungsrecht der
Kassenärztlichen Vereinigung in Höhe der Differenz zwischen einbehaltener und ein-zubehaltender Zuzahlung dient
nur der Sicherung dieses Schadensersatzanspruchs und hat keinen eigenen Sanktionscharakter. Die enge
Verknüpfung zwischen vorläufi-ger Zurückbehaltung und Schadensregress belegt Satz 3 in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw.
§ 21 Abs. 7a EKV, wonach bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zwingend das Schlichtungsverfahren mit dem
Ziel des Schadensregresses nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten ist. Dementsprechend ist der Streit um die
vorläufige Zurückbe-haltung (vertragsärztlichen) Honorars nur ein vorgelagerter Streit um ein Sicherungs-recht, dem
das Verfahren folgt, in dem die Schadensersatzpflicht materiell festgestellt wird; letzteres ist hier ebenfalls betrieben
worden (Bescheide vom 13. Mai 2008, Wi-derspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008, Klage S 79 KA 18/09).
b) § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV bieten auch eine taugliche Rechts¬grundlage für die Zurückbehaltung
von Honorar im Umfange nicht einbehaltener Zu-zahlungen. Ihr zwischenzeitliches Außer-Kraft-Treten führt nicht zur
Rechtswidrigkeit der Zurückbehaltung. Ursprünglich waren die Vorschriften bis zum 31. Dezember 2006 befristet
(Einführung von § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV mit Wir-kung vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember
2006 durch am 29. Juni 2005 vereinbarte Änderung der Bundesmantelverträge). Die Vertragsparteien vereinbarten
zunächst eine Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 (Deutsches Ärzteblatt vom 8. Januar 2007, Seite A
73); die Bekanntmachung im Deutschen Ärzteblatt ist nach Art und Formulierung nicht zu beanstanden. Am 30.
August 2010 hoben sie die Befris-tung vollständig mit Wirkung vom 1. Juli 2007 auf (Deutsches Ärzteblatt vom 24.
Sep-tember 2010, Seite A 1828). Die von der Klägerin formulierten Bedenken gegen die Statthaftigkeit der
rückwirkenden Entfristung der fraglichen Regelungen greifen aus mehreren Gründen nicht. Die Inkraftsetzung zum 1.
Juli 2007 ist zutreffend; am 30. Juni 2007 um Mitternacht lief die Befristung aus, am 1. Juli 2007 um 0.00 Uhr war sie
aufgehoben – regelungstechnisch ist dies einwandfrei. Weiter sind die hier streitigen Widerspruchsbescheide am 13.
Juni 2006 bzw. 26. September 2006 ergangen und damit noch während des ursprünglich vorgesehenen
Geltungszeitraums. Weil es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts, eines
belastenden Verfahrensakts, auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hierzu ankommt, durften die
streitigen Beträge grundsätzlich zurückbehalten werden. Selbst wenn die Beklagte später zeitweise zu einer weiteren
Zurückbehaltung nicht berechtigt gewesen sein sollte, war sie hierzu jedenfalls nach dem seit 30. August 2010
geltenden mantelvertraglichen Recht wieder befugt. Die Klägerin kann aber – sinngemäß – nicht fordern, was sie in
einem nächsten Schritt gleich wieder herausge-ben müsste.
c) Der Tatbestand aus § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV ist erfüllt. Die Klägerin ist
Leistungserbringerin im Sinne der Vorschrift. Zwar nimmt das von der Klägerin betriebene Krankenhaus grundsätzlich
nicht an der vertragsärzt-lichen Versorgung teil. Zur ärztlichen Behandlung im Rahmen der vertragsärztlichen
Versorgung gehören aber auch die in Notfällen ambulant ausgeführten ärztlichen Leis-tungen durch nicht an der
vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 BMV-Ä/EKV; vgl. auch Bundessozialgericht,
Urteil vom 16. April 1986, 6 RKa 34/84, zitiert nach juris, dort Rdnr. 11 ff.; Urteil vom 24. September 2003, B 6 KA
51/02 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13 ff.). Es handelt sich um einen "rechtlich wenig fassbaren Fall der
beschränkten Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung durch Krankenhäuser und Nichtvertragsärzte", ohne
dass diese in die Kassenärztliche Vereinigung einbezogen werden (Wenner, Das Vertragsarztrecht nach der Gesund-
heitsreform, 2008, § 14 Rdnr. 12). In diesem Fall gelten nicht nur die die betroffenen Leistungserbringer
begünstigenden Regelungen über die vertragsärztliche Vergütung, sondern auch die sonstigen, für die
Leistungserbringer gegebenenfalls mit Nachteilen verbundenen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung. Dies
gilt jedenfalls dann, wenn die Leistungserbringer die entsprechenden vertragsärztlichen Regelungen ken-nen müssen.
Bei einem Krankenhausträger, dessen Einrichtungen regelmäßig und in erheblichem Umfang am Notfalldienst
teilnehmen, kann davon ausgegangen werden, dass die einschlägigen Bestimmungen bekannt und daher anwendbar
sind (vgl. Bun-dessozialgericht, Urteil vom 16. April 1986, a.a.O., Rdnr. 14).
Zu beanstanden ist daher weder die Berechtigung der Kassenärztlichen Vereinigung, von der Vergütung von
Krankenhäusern für ambulante Notfallbehandlungen einen Anteil für Verwaltungskosten abzuziehen (hierzu
Bundessozialgericht, Urteil vom 24. September 2003, B 6 KA 51/02 R), noch die Verpflichtung der diese Notfallbe-
handlung vornehmenden Krankenhäuser, die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V zu erheben.
In den drei ersten Quartalen des Jahres 2005 hat die Klägerin in der Rettungsstelle des Klinikums Neukölln die
Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V in Quoten zwischen 54,56 Prozent und 58,62 Prozent nicht erhoben. Die nun
noch streitige Summe von 92.570,- Euro entspricht 9.257 Nichtzahlern in den genannten Quartalen.
d) Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV steht
im Ermessen der Beklagten. Die rechtliche Kon-trolle der Ermessensentscheidung muss im Wesentlichen die
Begründung von Aus-gangs- und Widerspruchsbescheid in den Blick nehmen (unten aa). Die Ermessensentscheidung
in Zusammenhang mit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts muss bestimmten allgemeinen Standards genügen
(unten bb). Diesen werden die angefoch-tenen Bescheide zur Überzeugung des Senats nicht gerecht (unten cc).
aa) Für die vom Senat durchzuführende Kontrolle der angefochtenen Bescheide auf Ermessensfehler ist entscheidend
auf die konkrete Begründung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid abzustellen, denn hier manifestieren sich die
Gründe, die die Behörde bei Ausübung des Ermessens erwogen hat (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X: "Die Begründung
von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der
Ausübung ihres Ermessens ausge-gangen ist"); gleichzeitig ergibt eine Analyse der Begründung der Bescheide
gegebe-nenfalls, welche Umstände die Behörde außer Betracht gelassen hat, obwohl sie sie hätte erwägen müssen.
Ein "freies" Nachschieben oder Ergänzen von Ermessenserwägungen nach Erlass des Widerspruchsbescheides bis
hin zum Ende der letzten mündlichen Tatsachenver-handlung ist grundsätzlich nicht statthaft. Hierfür sprechen
rechtsstaatliche Erwägun-gen: Es muss aus dem Bescheid erkennbar sein, dass der Vortrag des Betroffenen und die
Umstände seines Einzelfalles zur Kenntnis genommen, sachlich geprüft und beschieden worden sind. Der Betroffene
hat Anspruch auf eine nachvollziehbare Be-scheidung, damit er sich über die Notwendigkeit und Erfolgsaussichten
eines Rechtsmittels schlüssig werden, d.h. eine Rechtsverletzung überhaupt erkennen und zur Rechtsverteidigung ein
Rechtsschutzbegehren sinnvoll erwägen kann. Außerdem kommt dem Begründungszwang die Funktion zu, im
Rahmen des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens Selbstkontrolle durchzuführen und mit der Begründung ver-
waltungsintern Rechenschaft darüber abzulegen, dass die Interessen des Betroffenen wahrgenommen worden sind.
Eine Vorschrift, die wie § 114 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) das Nach-schieben von Gründen auch bei
Ermessensentscheidungen für zulässig erklärt, fehlt zudem im Sozialgerichtsgesetz (SGG). Unstatthaft und im
Prozess nicht zu berück-sichtigen ist damit jedenfalls das Nachschieben von bei Erlass des Verwaltungsaktes nicht
erwogenen Gründen. Eine Ermessensentscheidung darf nicht aus Gründen auf-recht erhalten werden, die sie in
Wahrheit gar nicht tragen und die möglicherweise bei Erlass der Entscheidung nicht einmal bekannt waren (vgl. Keller
in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl. 2008, Rdnr. 36 zu § 54; Castendiek in Lüdtke, SGG Handkommen-tar, 3. Aufl.
2009, Rdnrn. 60 und 103 zu § 54; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Rdnr. 11 zu § 41; Schütze in von Wulffen, SGB
X, 7. Aufl. 2010, Rdnr. 11 zu § 41; Bundes-sozialgericht, Urteil vom 24. April 2002, B 7/1 A 4/00 R, zitiert nach juris,
dort Rdnr. 54; Urteil vom 12. Dezember 1990, 9a/9 RV 27/89, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12; Urteil vom 30. Januar
1990, 11 RAr 47/88, zitiert nach juris, dort Rdnr. 28). Ein Nach-schieben von Ermessenserwägungen in Gestalt der
Konkretisierung und Vertiefung der Begründung ist allenfalls dann zulässig, wenn die nachträglich vorgebrachten
Gründe schon bei Erlass des streitigen Verwaltungsaktes vorlagen, dieser durch sie nicht in seinem Wesen verändert
und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidi-gung beeinträchtigt wird (vgl. Castendiek, a.a.O., Rdnr. 103).
Nichts anderes ergibt sich aus § 41 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 SGB X. Danach kann "die erforderliche Begründung
nachträglich gegeben" werden, und zwar auch bis zur letzten Tatsachenverhandlung eines sozial- oder
verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Damit ist nämlich nur die Heilung einer die formelle Rechtswidrigkeit
herbeiführenden gänzlich fehlenden Begründung gemeint, nicht aber die Nachbesserung einer zur ma-teriellen
Rechtswidrigkeit führenden unzulänglichen Begründung (vgl. Schütze, a.a.O., Rdnr. 12).
bb) Das der Beklagten in § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV eingeräumte Ermessen umfasst
nur das Entschließungsermessen und nicht ein Ermessen in Bezug auf die Höhe des zurückbehaltenen Honorars,
denn zurückzube-halten ist ausdrücklich "die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung".
Eine beanstandungsfreie Entscheidung zur Zurückbehaltung muss zunächst erkennen lassen, dass überhaupt
Ermessen ausgeübt worden ist. Es darf nicht der Anschein entstehen, dass die Zurückbehaltung gleichsam im Wege
des Automatismus verfügt wird, wenn eine relevante Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener
Zuzahlung vorliegt. Sollte die Begründung von Bescheid und Widerspruchsbescheid den Eindruck eines solchen
Automatismus entstehen lassen und der Empfänger mei-nen müssen, die Behörde habe sich bei Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts strikt gebunden gefühlt, wäre die Entscheidung schon wegen Ermessensausfalls rechtswid-
rig.
Weiter muss die Entscheidung zur Zurückbehaltung dem Zweck der Ermächtigung entsprechen und die gesetzlichen
Grenzen des Ermessens einhalten. Wie bereits ausgeführt, liegt der Zweck des Zurückbehaltungsrechts nach § 18
Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV ausschließlich in der Sicherung eines Scha-
densersatzanspruchs der Krankenkassen gegenüber dem als Einzugsstelle fungie-renden Vertragsarzt (bzw. hier:
Krankenhausträger). In Bezug auf diesen Schadens-ersatzanspruch, der eine schuldhafte Pflichtverletzung in
Zusammenhang mit der Nichteinziehung der Zuzahlung fordert, ist zwingend das endgültige Klärung herbei-führende
Verfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten. Weil letzteres unter Umständen Jahre bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung beanspruchen kann, bie-tet der zeitnahe Weg der Zurückbehaltung der mutmaßlichen
Schadenssumme durch eine vorläufige Kürzung des Honoraranspruchs Schutz gegen die Insolvenz des betroffenen
Leistungserbringers. Eine Strafabsicht darf mit der Zurückbehaltung nicht verfolgt werden. Notwendig ist die Sicherung
einer Schadensersatzforderung nur dann, wenn fraglich erscheint, ob sie in Zukunft realisiert werden kann. Die
wirtschaft-liche Leistungsfähigkeit des potentiellen Schuldners ist hierbei in den Blick zu neh-men. Je fraglicher die
zukünftige Leistungsfähigkeit eines Leistungserbringers er-scheint, umso eher ist die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts angezeigt (anders und genau umgekehrt, aber nicht plausibel: Sozialgericht Berlin, Urteil vom
13. Mai 2009, S 83 KA 343/06, zitiert nach juris, dort Leitsatz 4 und Rdnr. 25).
Daneben hat die Ermessensentscheidung zu prognostizieren, wie erfolgreich das Regressverfahren nach § 49 BMV-Ä
bzw. § 45 EKV voraussichtlich sein wird. Nur wenn eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten in
Zusammenhang mit der Nichteinbehaltung der Zuzahlung wahrscheinlich ist, ist die Ausübung des
Zurückbehaltungsrechts zulässig, denn sie nimmt die Folge des Schadensregresses zeitweise vorweg. Umgekehrt ist
die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts umso weniger mit dem Zweck der Ermächtigung vereinbar, je unsicherer
eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten erscheint. In diesem Zusammenhang obliegt der Beklagten
auch schon bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts eine sorgfältige Aufklärung des Sachverhalts; dem
Leistungserbringer ist die Möglichkeit einzuräumen, gegebe-nenfalls sachliche Gründe für eine hohe Nichtzahlerquote
anzuführen.
cc) Hieran gemessen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Die Beklagte hat ihr Ermessen nicht fehlerfrei
ausgeübt.
Die undatierten Ausgangsbescheide leiden evident schon unter Ermessensausfall, weil die hohe jeweils angeführte
Nichteinzugsquote "blind" zur Zurückbehaltung von Honorar in entsprechender Höhe geführt hat. Der Klägerin wurde
nicht mehr mitgeteilt als die Nichteinzugsquote, die Anzahl der Nichtzahler und die Höhe des zurückbehal-tenen
Betrages. Ohne Zweifel genügt dies den normativen Vorgaben nicht und ist rechtswidrig.
Der Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2006 ergibt zunächst ein anderes Bild. Er gibt die in den Widersprüchen
angeführten Einwendungen der Klägerin wieder und würdigen auch die Antwort der Klägerin auf die der Sachaufklärung
dienende Anfrage der Beklagten vom 2. März 2006. Erkennbar wird zumindest das Bemühen um die Begründung einer
Ermessensentscheidung.
Zu beanstanden ist aber, dass auch der Widerspruchsbescheid keine Erwägungen zum Sicherungszweck der
Zurückbehaltung von Honorar enthält und sich nicht zur Notwendigkeit der Einbehaltung einlässt, gemessen etwa an
der Höhe der zu erwar-tenden Schadensersatzforderung und der Insolvenzgefahr auf Seiten der Klägerin. Im Falle der
Klägerin hätte der Sicherungszweck ganz besonders der Erwägung bedurft, weil es sich bei ihr um Deutschlands
größten kommunalen Krankenhauskonzern han-delt mit (im Jahre 2009) rund 5.200 Betten, rund 201.000 stationären
und 286.000 ambulanten Fällen, rund 13.000 Mitarbeitern, einem Umsatz von etwa 785 Mio. Euro und einem
Jahresergebnis von 2,6 Mio. Euro. Im Jahre 2005 lagen die Zahlen nicht sehr viel anders. Sie mussten der Beklagten
bekannt sein. Diese Zahlen sowie der Umstand, dass von einem Insolvenzrisiko bei der Klägerin zu keiner Zeit die
Rede war und ist, sprechen schon gegen die Angemessenheit der Zurückbehaltung des Hono-rars in den streitigen
Quartalen. Das Mittel steht außer Relation zum Zweck. Selbst wenn nämlich eine schuldhafte Verletzung
vertragsärztlicher Pflichten auf Seiten der Klägerin wahrscheinlich sein sollte, wäre eine rechtskräftig festgestellte
Schadenser-satzverpflichtung auch in Höhe der hier streitigen Beträge ohne Weiteres erfüllbar. Die Lösung durfte hier
für die Beklagte nur im Betreiben des Regressverfahrens liegen. Über die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat
sie das Inkassorisiko vorüberge-hend unzulässiger Weise auf die Klägerin verlagert.
Entscheidend ist ein Weiteres: Die dem Widerspruchsbescheid zu entnehmende Prognose hinsichtlich der
Erfolgsaussichten des Regressverfahrens unterliegt einem Abwägungsmangel. Die Besonderheit von Erste-Hilfe- bzw.
Rettungsstellen in einem Krankenhaus wurde nämlich nicht hinreichend erwogen; diese unterscheiden sich
maßgeblich von einer herkömmlichen vertragsärztlichen Praxis. In den Widerspruchs-bescheiden heißt es insoweit,
gerade in Erste-Hilfe- bzw. Rettungsstellen bestehe ein erhöhtes Inkassorisiko für den Einzug der Praxisgebühr,
weshalb ihre Erhebung vor Behandlungsbeginn "unumgänglich" sei. Diese Rigidität wird der Vorgabe in den Man-
telverträgen (§ 18 Abs. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV) nicht gerecht, wonach die Zuzahlung bei akuter
Behandlungsbedürftigkeit auch nach der Inanspruchnahme er-hoben werden kann. In diesem Fall zieht der
Leistungserbringer den Betrag nachträg-lich ein und quittiert die geleisteten Zahlungen. Der Versicherte ist verpflichtet,
die Zu-zahlung unverzüglich, spätestens innerhalb von 10 Tagen zu entrichten (§ 18 Abs. 4 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 4
EKV). Sofern der Versicherte gleichwohl nicht leistet, über-nimmt die Kassenärztliche Vereinigung den weiteren
Zahlungseinzug (§ 18 Abs. 5 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 5 EKV, § 43 b Abs. 2 Satz 4, 5 SGB V).
Die Beklagte verkennt insoweit, dass bei Versicherten, die Erste-Hilfe- und Rettungs-stellen in Krankenhäusern
aufsuchen, dem ersten Anschein nach zumeist "akute Behandlungsbedürftigkeit" in diesem Sinne bestehen dürfte.
Ob sie tatsächlich besteht, wird oftmals erst klar sein, nachdem die ärztliche Untersuchung mit Anamnese und
Befunderhebung überhaupt stattgefunden hat. Deshalb spricht einiges für die Plausibi-lität der Ausführungen der
Klägerin im Widerspruchsverfahren, wonach die Besonder-heiten der Notfallbehandlung eine Einziehung der
Praxisgebühr vor der Behandlung im Regelfall nicht zuließen. Dem ist die Beklagte nur kategorisch mit der
Behauptung entgegen getreten, dass es auch bei Erste-Hilfe- und Rettungsstellen beim Prinzip des vorherigen
Einzuges der Zuzahlung bleiben müsse. Ein Denkfehler ist in der Annahme enthalten, "eine nachträgliche Erhebung
der Praxisgebühr (könne) nur in Fällen akuter Behandlungsbedürftigkeit erfolgen, wobei dies jedoch eine Entscheidung
im Einzelfall anhand des Gesundheitszustandes des Patienten vor (Hervorhebung hier) Behandlungsbeginn erfordert".
Diese Sichtweise würde eine Einschätzung der akuten Be-handlungsbedürftigkeit durch das Pflege- oder
Verwaltungspersonal schon vor dem ersten Arzt-Patienten-Kontakt voraussetzen; tatsächlich aber ist es der
ärztlichen Un-tersuchung vorbehalten, (akute) Behandlungsbedürftigkeit festzustellen.
Unvermittelt und ohne weitere Begründung wird im Widerspruchsbescheid sodann die Nichteinzugsquote als
entscheidendes Indiz für eine schuldhafte Nichteinziehung der Zuzahlung angeführt. Eine solche "Indizwirkung" wäre
nur dann tragfähiges Argument, wenn die Beklagte die tatsächlichen Nichteinzugsquoten der Klägerin zu denen ver-
gleichbarer Rettungsstellen ins Verhältnis gesetzt und plausibel gemacht hätte, dass und warum die Klägerin den
Begriff der akuten Behandlungsbedürftigkeit in § 18 Abs. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV fehlinterpretiert.
Nach alledem hält der Senat die Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbe-scheid für zu vage, um eine
erfolgreiche Inregressnahme der Klägerin zugunsten der Krankenkassen mit dem notwendigen
Wahrscheinlichkeitsgrad prognostizieren zu können. Mit den Einwendungen der Klägerin hat die Beklagte sich nicht
hinreichend auseinandergesetzt. Die Notwendigkeit des Einzuges der Zuzahlung vor Behand-lungsbeginn wurde nur
schematisch auf die Erste-Hilfe- und Rettungsstellen von Krankenhäusern übertragen, ohne deren Besonderheiten zu
ermitteln oder zu würdi-gen. 3. Erweist sich die Zurückbehaltung des Honorars in den ersten drei Quartalen des Jahres
2005 danach als rechtswidrig, hat die Klägerin Anspruch auf Auszahlung zu wenig geleisteten Honorars in Höhe von
92.570,- Euro.
4. Der Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozent über dem Basiszin-satz seit Rechtshängigkeit ergibt
sich aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 155 Abs. 2 VwGO. Da die Klägerin ihre
Forderung im Laufe des Berufungsverfahrens um 13,1 Prozent reduziert hat, hat der Senat die aus dem Tenor
ersichtliche Quotelung der Kosten vorgenommen.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuge-lassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG).