Urteil des SozG Berlin vom 24.10.2006

SozG Berlin: wohnung, zusicherung, umzug, anfechtungsklage, widerspruchsverfahren, gesundheitszustand, heizung, bad, eltern, auszug

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 24.10.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 104 AS 1672/06
Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2006 rechtswidrig gewesen ist und die Beklagte verpflichtet war, die
Zusicherung zum Umzug in die H Straße , OG, WE in B zu erteilen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten
des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrte zuletzt die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet war, die Zusicherung zu den
Aufwendungen für eine neue Unterkunft zu erteilen.
Der am ... 1986 geborene Kläger gelangte im Jahr 1997 zusammen mit seiner Mutter aus Russland kommend auf das
Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Seither wohnte er mit seiner Mutter in der H Straße in B. Die Wohnung
besteht aus zwei Zimmern, Küche und Bad mit einer Gesamtfläche von 51,60 qm. Der Kläger bezieht von der
Beklagten seit Januar 2005 durchgängig Arbeitslosengeld II (Alg II). Am 5. Oktober 2005 beantragte der Kläger bei der
Beklagten die Erteilung der Zusicherung zu den Aufwendungen für eine neue Unterkunft. Er beabsichtigte insoweit in
die H Straße in B umzuziehen. Diese Wohnung bestand aus einem Zimmer, Küche und Bad mit einer Gesamtgröße
von 41,52 qm; die Warmmiete sollte 287,02 Euro betragen. Zur Begründung legte der Kläger ein ärztliches Attest des
seine Mutter behandelnden Nervenarztes Dr. B vom 12. Oktober 2005 vor, wonach die Zeugin - die Mutter - u.a. unter
einer affektiven Störung, Schlafstörungen und Depressionen leide und ohne den Auszug des Klägers aus der
gemeinsamen Wohnung mit einer Verschlechterung der Erkrankung der Zeugin zu rechnen sei. Durch Bescheid vom
13. Oktober 2005 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, die Notwendigkeit der
Anmietung eigenen Wohnraums sei bei dem Kläger nicht gegeben. Er sei mit ausreichendem Wohnraum im Haushalt
der Zeugin versorgt. Auch die eingereichten ärztlichen Atteste würden keine andere Entscheidung begründen, zumal
sowohl der Kläger als auch die Zeugin ein eigenes Zimmer zur Verfügung hätten. Hiergegen legte der Kläger am 14.
November 2005 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, seine Mutter sei nachweislich sehr krank und brauche
dringend Ruhe, zu der sie in der gemeinsamen kleinen Wohnung nicht gelangen könne. Der Widerspruch wurde durch
den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 16. Februar 2006 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger am 22. Februar 2006 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Zur Begründung bezieht
sich der Kläger auf sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.
Nachdem die von dem Kläger begehrte Wohnung in der H Straße bereits ab dem 1. Dezember 2005 wieder vermietet
worden war beantragt er zuletzt,
festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 16. Februar 2006 rechtswidrig gewesen ist und die Beklagte verpflichtet war die Zusicherung zum Umzug in die H
Straße , OG, WE in B zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide.
Die Kammer hat die Mutter des Klägers Frau D M als auch den Nervenarzt Dr. V. B zum Gesundheitszustand der
Zeugin als Zeugen gehört; wegen der Einzelheiten ihrer Aussage wird auf die Anlagen zur Niederschrift der
öffentlichen Sitzung vom 24. Oktober 2006 Bezug genommen.
Wegen der Einzelheiten des gegenseitigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst
Anlagen Bezug genommen.
Die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat Erfolg.
Die Klage ist zulässig.
Insbesondere ist die von dem Kläger - zuletzt - erhobene Fortsetzungs-feststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog statthaft. Die unmittelbare Anwendung dieser Norm kommt hier nicht in Betracht,
denn hier hat sich ein Verwaltungsakt als Bezugspunkt einer Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) erledigt, sondern
vielmehr das Verpflichtungsbegehren des Klägers im Rahmen der von ihm erhobenen kombinierten Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage. Durch Vermietung der Wohnung in der H Straße, deren Aufwendungen durch die Beklagte
übernommen und zugesichert werden sollten, ist die wesentliche Beschwer des Klägers entfallen mit der Folge, dass
das Rechtsschutzinteresse für die ursprünglich verfolgte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nicht mehr vorlag.
Damit besteht aber ein Bedürfnis für eine entsprechende Anwendung des § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG, denn auch bei
dem von § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG unmittelbar geregelten Fall, der Erledigung eines Verwaltungsaktes im Rahmen
einer Anfechtungsklage, entfällt die wesentliche Beschwer, so dass, ein besonderes Feststellungsinteresse
vorausgesetzt, der ursprüngliche Antrag auf den Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt werden kann (vgl. Meyer-
Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 131, Rdnr. 9). Auf ein solches
berechtigtes Interesse an der Feststellung kann sich der Kläger im vorliegenden Fall aber berufen. Denn es besteht
die ausreichend konkrete, in naher Zukunft oder doch absehbarer Zeit tatsächlich bevorstehende Gefahr der
Wiederholung des Verwaltungsaktes bei im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen
(vgl. Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 10 b). Denn es ist absehbar, dass der Kläger demnächst einen
weiteren Antrag auf Erteilung der Zusicherung zu den Aufwendungen für eine neue Wohnung stellen wird und hierbei
die tatsächlichen Umstände, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 13. Oktober 2005 vorgelegen
haben, im Wesentlichen unverändert fortbestehen werden.
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2006 war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten. Der
Kläger hatte nach § 22 Abs. 2, Abs. 2 a Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) einen
Anspruch auf Erteilung der Zusicherung zur Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung für die Wohnung in der
H Straße. Nach dieser Vorschrift - ausgehend von der ursprünglich erhobenen kombinierten Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage ist die Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich - werden Personen, die
das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und umziehen wollen, Leistungen für Unterkunft und Heizung für die
Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur erbracht, wenn der kommunale Träger dies vor
Abschluss des Verfahrens über die Unterkunft zugesichert hat. Der kommunale Träger ist nach Satz 2 dieser
Vorschrift zur Zusicherung verpflichtet, wenn
1. der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils
verwiesen werden kann,
2. der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist oder
3. ein sonstiger ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt.
Hier liegt ein ähnlich schwerwiegender Grund vor, denn der Kläger kann wegen des Gesundheitszustandes der Zeugin
nicht auf die gemeinsame Wohnung in der H Straße verwiesen werden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
steht fest, dass das Verbleiben des Klägers in dieser Wohnung zu einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit
der Zeugin führen wird. Insoweit bezieht sich die Kammer auf die von dem Kläger im Verwaltungs- und
Widerspruchsverfahren vorgelegten Atteste der behandelnden Ärzte der Zeugin sowie auf die Aussage des Zeugen B.
Der sachverständige Zeuge hat glaubhaft versichert, dass die bei der Zeugin bestehenden Krankheitsbilder in Form
einer Depression, Schlaflosigkeit, affektiven Störung und einer Appetitlosigkeit neben einer hormonellen Umstellung
im Involutionsalter in wesentlicher Weise auch auf die beengten Wohnverhältnisse in der H Straße zurückzuführen
sind, die auch von der Zeugin selbst in anschaulicher Weise beschrieben worden sind. Dass für das Krankheitsbild
auch andere Ursachen, wie etwa eine endogene Störung oder der Migrationshintergrund, eine Rolle spielen könnten,
hat der Zeuge ausgeschlossen. Die entsprechenden Ausführungen des Zeugen hierzu waren für die Kammer auch
insoweit nachvollziehbar, als es bei der Klägerin vor ihrer ersten Behandlung bei dem Zeugen zu keiner Zeit zu einer
depressiven Erkrankung gekommen ist. Da somit die konkrete Wohnsituation einen wesentlichen Grund für das
Entstehen und Fortbestehen der psychischen Erkrankung der Zeugin darstellt, ist es für die Kammer auch schlüssig
und nachvollziehbar, dass ein Auszug des Klägers und die damit einhergehende Entspannung des bisher
konfliktreichen Zusammenlebens von Mutter und Sohn auch zu einer günstigeren Behandlungsmöglichkeit und
Besserung des Krankheitsbildes der Zeugin führen wird. In den erheblichen Belastungen für den Gesundheitszustand
der Zeugin, die mit dem Verbleiben des Klägers in der bisherigen gemeinsamen Wohnung verbunden sind, sieht die
Kammer einen schwerwiegenden Grund, der etwa vergleichbar ist mit schwerwiegenden sozialen Gründen, die es
nicht zulassen, dass ein unter 25-jähriger Hilfebedürftiger in der Wohnung seiner Eltern verbleiben kann. Die Beklagte
war daher zur Erteilung der Zusicherung für die Aufwendungen für die Wohnung in der H Straße in B verpflichtet,
zumal die Bruttowarmmiete für diese Wohnung in Höhe von 287,02 Euro auch als angemessen im Sinne des § 22
Abs. 1 Satz 1 anzusehen ist (vgl. § 4 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung der angemessenen Kosten
der Wohnung gemäß § 22 SGB II - AV-Wohnen - der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und
Verbraucherschutz vom 7. Juni 2005 i.d.F. vom 30. Mai 2006).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.