Urteil des SozG Berlin vom 14.03.2017

SozG Berlin: besondere härte, befreiung von der versicherungspflicht, vorzeitige verwertung, begriff, lebensversicherung, rückkaufswert, inhaber, einzahlung, drucksache, abhängigkeit

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Gericht:
SG Berlin 63.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 63 AS 2117/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 9 Abs 1 SGB 2, § 12 Abs 1 SGB
2, § 12 Abs 4 SGB 2, § 12 Abs 3
Nr 6 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Berücksichtigung von
Vermögen - Verwertung von Lebensversicherungen -
offensichtliche Unwirtschaftlichkeit - Verluste bei der
Vermögensverwertung
Leitsatz
Zur "offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit" bei der Verwertung von Versicherungen im Sinne
von § 12 Abs 3 Nr 6 SGB 2: Verluste von bis zu dreissig Prozent sind noch nicht als
unwirtschaftlich im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten werden nicht erstattet.
Tatbestand
Der dreiundvierzig Jahre alte Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts.
Am 25. Oktober 2004 beantragte er die streitgegenständlichen Leistungen beim
Beklagten. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er über ein Girokonto, das einen Kontostand
von 603,97 EUR verzeichnete. Zudem reichte er einen Kontoauszug eines
Vorsorgesparvertrages ein, der am 31. Dezember 2003 einen Stand von 4.338,04 EUR
aufwies. In seinem Antrag gab er weiter an, dass er über ein Sparbuch mit 4.250,- EUR
verfüge. Außerdem besaß er eine Lebensversicherung, die am 31. Oktober 2005 bei
einem eingezahlten Betrag von 11.883,62 EUR einen Rückkaufswert von 8.115,77 EUR
hatte. Darüber hinaus verfügte er über zwei Vermögensbildungsversicherungen, von
denen die eine ebenfalls am 31. Oktober 2004 bei einer Einzahlung von 930,65 EUR
einen Rückkaufswert von 858,- EUR und die andere am selben Stichtag bei einer
Einzahlung von 877,38 EUR einen Rückkaufswert von 633,- EUR hatte.
Der Beklagte versagte mit Bescheid vom 1. Dezember 2004 die beantragten Leistungen
und gab zur Begründung an, der Kläger habe darauf wegen des vorhandenen
Vermögens keinen Anspruch. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 3. März 2005 zurück.
Diese Entscheidung greift der Kläger mit seiner am 7. April 2005 beim
Sozialgerichteingegangenen Klage an und trägt vor, die Verwertung der vorhandenen
Versicherungen würde seine geplante Altersvorsorge vereiteln und zudem zu
erheblichen Verlusten führen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Dezember 2004 in der Fassung
des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2005 zu verpflichten, ihm Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Streitakten und die Leistungsakten des Beklagten Bezug
genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand des Verfahrens gewesen sind.
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Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage richtet sich zutreffend gegen den Beklagten, der als
Arbeitsgemeinschaft der Bundesagentur für Arbeit und des Landes Berlin eine
nichtrechtsfähige Personenvereinigung darstellt und gemäß § 70 Nr. 2 SGG
beteiligtenfähig ist.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrten
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, weil keine
Hilfebedürftigkeit festzustellen ist. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen
Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in
einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Person nicht oder nicht ausreichend aus eigenen
Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus
dem zu berücksichtigen Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche
Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält.
Der Kläger kann seinen Lebensunterhalt aus seinem Vermögen bestreiten. Nach § 12
Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu
berücksichtigen. Gemäß § 12 Abs. 4 SGB II ist das Vermögen mit seinem Verkehrswert
zu berücksichtigen, wobei für die Bewertung der Zeitpunkt maßgebend ist, in dem der
Antrag auf Bewilligung oder erneute Bewilligung der Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende gestellt wird, bei späterem Erwerb von Vermögen der Zeitpunkt des
Erwerbs. Der Kläger verfügte zum Zeitpunkt der Antragstellung über erhebliches
Vermögen, das er zur Deckung seines Lebensunterhaltes einsetzen musste. Das gilt
sowohl für die vorhandenen Konten und das Sparbuch als auch für die
Lebensversicherung und die Vermögensbildungsversicherungen.
Die Versicherungen des Klägers sind keine geschützten Vermögensgegenstände im
Sinne des § 12 Abs. 2 Nr. 2 SGB II. Danach ist vom Vermögen eine Altersvorsorge in
Höhe des nach Bundesrecht ausdrücklich als Altersvorsorge geförderten Vermögens
einschließlich seiner Erträge und der geförderten laufenden Altersvorsorgebeiträge
abzusetzen, soweit der Inhaber das Altersvorsorgevermögen nicht vorzeitig verwendet.
Bei den Versicherungen handelt es sich jedoch nicht um ausdrücklich als Altersvorsorge
gefördertes Vermögen.
Es handelt sich auch nicht um geschützte Vermögenswerte im Sinne des § 12 Abs. 2 Nr.
3 SGB II, also geldwerte Ansprüche, die der Altersvorsorge dienen, soweit der Inhaber sie
vor dem Eintritt in den Ruhestand auf Grund einer vertraglichen Vereinbarung nicht
verwerten kann und der Wert der geldwerten Ansprüche 200,- EUR je vollendetem
Lebensjahr des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und seines Partners, höchstens jedoch
jeweils 13.000,- EUR nicht übersteigt. Lebens- und Vermögensversicherungen dienen
schon ihrem Wesen nach nicht der Altersvorsorge, sondern lediglich der Kapitalbildung,
selbst wenn diese im Alter von Nutzen sein mag. Zudem ist nicht ersichtlich, dass hier
eine vertragliche Vereinbarung der Verwertung entgegensteht.
Auch der Tatbestand des § 12 Abs. 3 Nr. 3 SGB II kommt nicht in Betracht. Danach sind
Vermögensgegenstände in angemessenem Umfang nicht zu berücksichtigen, die vom
Inhaber als für die Altersvorsorge bestimmt bezeichnet wurden, wenn der erwerbsfähige
Hilfebedürftige oder sein Partner von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung befreit ist. Hier fehlt jedoch nicht nur die Bestimmung zur
Altersvorsorge, sondern auch die Befreiung von der Versicherungspflicht.
Schließlich fällt das Vermögen auch nicht unter den Schutz des § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II,
wonach Sachen und Rechte, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist
oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde, nicht als Vermögen zu
berücksichtigen sind.
Die Verwertung ist hier nicht offensichtlich unwirtschaftlich. Der Gesetzgeber hat sich bei
§ 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II an den Begriff der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit des
inzwischen außer Kraft getretenen § 1 Abs. 3 Nr. 6 AlhiV 2002 angelehnt. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts lag eine solche Unwirtschaftlichkeit im Sinne
der letztgenannten Vorschrift bei der Verwertung einer Lebensversicherung dann vor,
wenn der Zwang zum Verkauf die eingezahlten Beiträge in einem nennenswertem
Umfang entwerten würde, so dass ein normal und ökonomisch Handelnder diese
Verwertung unterlassen würde (Urteil vom 27. Januar 2005, B 7a/7 AL 34/04 R). Die
bisherigen Verwaltungsvorschriften der Bundesagentur für Arbeit haben dem dadurch
Rechnung getragen, dass sie eine Verwertung dann nicht als offensichtlich
unwirtschaftlich angesehen haben, wenn der zu erwartende Nettoerlös bis zu zehn
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unwirtschaftlich angesehen haben, wenn der zu erwartende Nettoerlös bis zu zehn
Prozent unter dem Substanzwert gelegen hat.
Daran kann jedoch nicht festgehalten werden. Denn der Begriff der offensichtlichen
Unwirtschaftlichkeit muss im Zusammenhang mit dem in § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II
wahlweise und damit gleichwertig enthaltenen Begriff der besonderen Härte ausgelegt
werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist die besondere Härte im
Gesetzgebungsverfahren nachträglich eingefügt worden und kann zum Beispiel
vorliegen, wenn ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger kurz vor dem Rentenalter seine
Ersparnisse für die Altersvorsorge einsetzen müsste, obwohl seine Rentenversicherung
Lücken wegen selbständiger Arbeit ausweist (BT-Drucksache 15/1749, 32). Der
Gesetzgeber hat also mit dem Begriff der besonderen Härte auf atypische Fälle
abgestellt, bei denen aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls die soziale Stellung
des Hilfebedürftigen nachhaltig beeinträchtigt ist (vgl. hierzu BVerwGE 23, 149, 158; 32,
89, 93). Daraus ist zu folgern, dass auch der Begriff der offensichtlichen
Unwirtschaftlichkeit von einer atypischen Sachlage ausgeht, da er in § 12 Abs. 3 Nr. 6
SGB II wahlweise neben dem Begriff der besonderen Härte steht. Die vorzeitige
Verwertung einer Lebensversicherung ist jedoch im Regelfall mit erheblichen Verlusten
verbunden. Ein atypischer Sachverhalt kann demnach nur angenommen werden, wenn
die im Regelfall eintretenden Verluste überschritten werden.
Der Begriff der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit ist zudem auch im Zusammenhang
mit § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB II auszulegen, wonach erwerbsfähige Hilfebedürftige und die
mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen in eigener Verantwortung
alle Möglichkeiten zu nutzen haben, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und
Kräften zu bestreiten. Auch wenn diese Vorschrift verfassungskonform dahingehend
auszulegen ist, dass der Hilfesuchende nicht auf rechtswidrige Selbsthilfemöglichkeiten
verwiesen werden darf, so ist ihr dennoch zu entnehmen, dass bei der
Vermögensverwertung nicht die objektivierte Sichtweise eines normal und ökonomisch
handelnden Menschen zum Maßstab genommen werden kann, sondern vielmehr die
Sichtweise eines Hilfebedürftigen, der zunächst alles Erforderliche veranlassen muss, um
seine Abhängigkeit von Sozialleistungen zu vermeiden. Das hat zur Folge, dass der
Hilfesuchende auch erhebliche Verluste bei der Vermögensverwertung hinnehmen
muss. Ausgehend von diesen Überlegungen kann davon ausgegangen werden, dass
Verluste von bis zu dreißig Prozent noch nicht als offensichtlich unwirtschaftlich im Sinne
der Vorschrift anzusehen sind. Dieser Prozentsatz wird jedoch nicht überschritten, wenn
der Kläger seine Versicherungen im Wege des Rückkaufs verwertet.
Nach welchem Maßstab das Tatbestandsmerkmal der offensichtlichen
Unwirtschaftlichkeit zu beurteilen ist, braucht hier jedoch nicht abschließend geklärt zu
werden. Denn der Kläger kann nicht nur auf die Möglichkeit des Rückkaufs durch die
Versicherungsgesellschaft, sondern auch auf die Möglichkeit der Abtretung und
Veräußerung seiner Versicherungen an Dritte verwiesen werden. Es sind keine
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine derartige Vorgehensweise
versicherungsvertraglich ausgeschlossen wäre oder dass dadurch offensichtlich
unwirtschaftliche Verluste entstehen könnten.
Auch das Tatbestandsmerkmal der besonderen Härte kommt nicht in Betracht, weil die
vom Gesetzgeber vorausgesetzte atypische Sachlage nicht ersichtlich ist. Nach der
Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 88 Abs. 3 Satz 1 BSHG war
zudem eine Härte im Sinne dieser Vorschrift bei der Verwertung einer
Lebensversicherung noch nicht anzunehmen, wenn der Rückkaufswert einer
Lebensversicherung um mehr als die Hälfte hinter den erbrachten Beiträgen
zurückbleibt (BVerwGE 106, 105).
Das somit vollständig einzusetzende Vermögen des Klägers übersteigt die nach § 12
Abs. 2 SGB II eingeräumten Freibeträge. Danach steht dem Kläger ein Grundfreibetrag in
Höhe von 200,- EUR für jedes vollendete Lebensjahr zu, mindestens aber 4.100,- EUR
und höchstens 13.000,- EUR, sowie ein Freibetrag für notwendige Anschaffungen in Höhe
von 750,- EUR. Dem dreiundvierzig Jahre alten Kläger ist folglich ein Gesamtfreibetrag
von 9.350,- EUR zuzubilligen. Der Kläger ist im Ergebnis gehalten, sein Vermögen bis zur
Grenze des Freibetrages zu verbrauchen, bevor er Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts bekommen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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