Urteil des SozG Berlin vom 14.03.2017

SozG Berlin: aufschiebende wirkung, ausbildung, härtefall, zugang, internat, verwaltungsakt, erlass, form, mietwohnung, sammlung

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Gericht:
SG Berlin 104.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 104 AS 22929/07
ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 5 S 2 SGB 2, § 59 SGB
3, §§ 59ff SGB 3
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für
Auszubildende - Berufsausbildungsbeihilfe - besonderer
Härtefall - Darlehen
Leitsatz
Ein besonderer Härtefall im Sinne von § 7 Abs 5 S 2 SGB 2 liegt vor, wenn die von einem
Hilfebedürftigen aufgenommene Ausbildung infolge der noch ausstehenden Entscheidung der
Bundesagentur für Arbeit über die Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 59 ff
SGB 3 und der hiermit einhergehenden Finanzierungslücke bereits zu ihrem Beginn gefährdet
ist und der drohende Schaden in Form eines frühzeitigen Abbruchs der Maßnahme auch bei
einer später stattgebenden Entscheidung der Bundesagentur nicht mehr beseitigt werden
könnte.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 19. September
2007 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. September 2007 wird insoweit
angeordnet, als die Antragsgegnerin verpflichtet ist, der Antragstellerin für die Monate
September und Oktober 2007 ein monatliches Arbeitslosengeld II in Höhe von 234,00
EUR zu zahlen.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Die (sinngemäßen) Anträge der Antragstellerin,
1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 19.
September 2007 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. September 2007 für
die Monate September und Oktober 2007 hinsichtlich eines monatlichen Betrages von
234,00 EUR (Kosten für Unterkunft und Heizung – KdU -: 216,00 EUR; Stromkosten V.:
18,00 EUR) anzuordnen
und
2. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr für
die Zeit ab 1. November 2007 ein monatliches Arbeitslosengeld II (Alg II) i.H.v. 234,00
EUR zu gewähren,
haben nur teilweise Erfolg.
Der von der Antragstellerin gestellte Antrag war nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
hinsichtlich des Zeitraums bis zum 31. Oktober 2007 als Antrag auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 19. September 2007, der von der
Kammer zugleich in ihrer Antragstellung bei Gericht vom selben Tage gesehen wird,
gegen den Bescheid vom 11. September 2007, mit welchem die ursprüngliche
Leistungsbewilligung für die Monate September und Oktober 2007 in dem
Änderungsbescheid vom 31. Juli 2007 aufgehoben worden ist, auszulegen. Denn nach
ihrem Vorbringen wendet sich die Antragstellerin insoweit gegen die in dem Bescheid
vom 11. September 2007 enthaltenen Regelungen. Allein durch Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs kann sie ihr Ziel, die Auszahlung eines
Betrages von monatlich 234,00 EUR in den Monaten September und Oktober 2007,
erreichen. Demgegenüber würde der von ihr wörtlich gestellte Antrag auf Erlass einer
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erreichen. Demgegenüber würde der von ihr wörtlich gestellte Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung bereits an der Subsidiaritätsklausel des § 86 b Abs. 2 Satz 1
SGG scheitern.
Der so verstandene Antrag ist zulässig.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den
Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung
haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der von der
Antragstellerin erhobene Widerspruch hat nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung
mit § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) keine
aufschiebende Wirkung, weil der angegriffene Bescheid vom 11. September 2007 ein
Verwaltungsakt ist, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
entscheidet.
Der Antrag ist auch zum Teil begründet.
Bei der nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zu treffenden Entscheidung über die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist eine Abwägung des Aussetzungs- und des
Vollzugsinteresses vorzunehmen. Dabei ist maßgebliches Kriterium bei dieser Abwägung
die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs. Soweit sich der angegriffene
Verwaltungsakt bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung als
rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen. Dies
ist vorliegend, jedenfalls zum Teil, der Fall. Der Aufhebungsbescheid vom 11. September
2007 erweist sich nämlich bei summarischer Prüfung insoweit als rechtswidrig, als der
Antragstellerin das Alg II jedenfalls auf Darlehensbasis für die Monate September und
Oktober 2007 hätte weiter gewährt werden müssen.
Insoweit ist die Antragsgegnerin in Anbetracht der von der Antragstellerin am 27. August
2007 begonnenen Ausbildung zur Tischlerin zu Recht davon ausgegangen, dass die
Voraussetzungen des § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II vorliegen. Hiernach haben Auszubildende,
deren Ausbildung u.a. im Rahmen der §§ 60 bis 62 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung
– (SGB III) dem Grund nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts. Zwischen den Beteiligten dürfte zu Recht unstreitig
sein, dass die von der Antragstellerin begonnene Ausbildung die Voraussetzungen des §
7 Abs. 5 Satz 1 SGB II erfüllt. Allerdings können nach § 7 Abs. 5 Satz 2 in besonderen
Härtefällen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen geleistet
werden.
Zur Einschätzung der Kammer liegt im Fall der Klägerin für die Monate September und
Oktober 2007 ein solcher Härtefall vor. Denn die Situation der Antragstellerin in den
besagten Monaten ist vergleichbar mit denen bei typisierender Betrachtungsweise von
der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen:
1. der wesentliche Teil der Ausbildung wurde bereits absolviert und der
bevorstehende Abschluss droht – unverschuldet – an Mittellosigkeit zu scheitern,
2. die konkrete Ausbildung ist belegbar die einzige realistische Chance, Zugang zum
Erwerbsleben zu erhalten und
3. die finanzielle Grundlage für die Ausbildung, die zuvor gesichert gewesen war, ist
entfallen, ohne dass dies vom Hilfebedürftigen zu vertreten ist, und die Ausbildung ist
schon fortgeschritten und der Hilfebedürftige hat begründete Aussichten, nach der
Ausbildung eine Erwerbstätigkeit ausüben zu können (vgl. LSG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 27. März 2007 – L 28 B 369/07 AS ER -).
Abgesehen davon, dass bereits gute Gründe dafür sprechen, dass die von der schwer-
behinderten und gehörlosen Antragstellerin begonnene Ausbildung zur Tischlerin die
einzig erkennbare realistische Chance darstellt, Zugang zum Erwerbsleben zu erhalten,
besteht die Härte begründende Sachverhaltskonstellation im vorliegenden Fall jedenfalls
darin, dass die von der Antragstellerin aufgenommene Ausbildung infolge der noch
ausstehenden Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit (B) über die Gewährung von
Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 59 ff. SGB III (vgl. eidesstattliche Versicherung der
Antragstellerin vom 19. September 2007) und der hiermit einhergehenden
Finanzierungslücke bereits zu ihrem Beginn aus finanziellen Gründen gefährdet wäre und
der drohende Schaden in Form des frühzeitigen Abbruchs der Maßnahme auch bei einer
später stattgebenden Entscheidung der B nicht mehr beseitigt werden könnte. Denn die
Antragstellerin wohnt zwar überwiegend in dem der Ausbildungseinrichtung
angeschlossenen Internat, ist aber gleichwohl auf ihre bisherige Mietwohnung in B.
angewiesen, da das Internat alle 14 Tage geschlossen ist (vgl. Stellungnahme des
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angewiesen, da das Internat alle 14 Tage geschlossen ist (vgl. Stellungnahme des
Berufsbildungswerks L. vom 27. August 2007). Der Bestand dieser Wohnung ist aber
infolge des durch den Leistungsentzug der Antragsgegnerin eingetretenen
Zahlungsverzugs gegenüber dem Vermieter akut gefährdet.
Trotz des in § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II der Antragsgegnerin gegenüber eingeräumten
Ermessens besteht im vorliegenden Fall auf Seiten der Antragstellerin ein Anspruch auf
darlehensweise Gewährung von Alg II. Bei dem Vorliegen eines Härtefalls ist die
Hilfeleistung indiziert, d.h. sie kann nur in Ausnahmefällen abgelehnt werden. Dass im
vorliegenden Fall solche Umstände vorliegen würden, die trotz des gegebenen Härtefalls
eine andere Entscheidung als die, der Antragstellerin Alg II auf Darlehensbasis zu
gewähren, zuließen, ist nach dem Vortrag der Beteiligten sowie aufgrund des
Akteninhalts nicht ersichtlich.
Hinsichtlich der Höhe des darlehensweise zu gewährenden Alg II ist der Antrag der
Antragstellerin maßgeblich.
Demgegenüber ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zumindest
unbegründet. Denn für die von der Antragstellerin insoweit erstrebte
Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG) besteht zumindest kein
Anordnungsanspruch. Nach materiellem Recht besteht nämlich für die Zeit ab 1.
November 2007 bereits deshalb kein Anspruch der Antragstellerin auf (darlehensweise)
Gewährung von Alg II, weil sie ausweislich der beigezogenen Leistungsakte der
Antragsgegnerin noch keinen entsprechenden Antrag gestellt hat. Nach § 37 SGB II ist
aber die Antragstellung Grundvoraussetzung für die Erbringung von Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
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