Urteil des SozG Berlin vom 14.03.2017

SozG Berlin: wohnung, arbeitsgemeinschaft, unterkunftskosten, mobiliar, wechsel, aufenthalt, erlass, ukraine, nutzungsgebühr, motiv

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Gericht:
SG Berlin 96.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 96 AS 10358/05 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 36 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - zuständiger
Leistungsträger für die Erbringung von Leistungen -
Erstausstattung und Unterkunftskosten - gewöhnlicher
Aufenthalt
Leitsatz
1) Bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts ist der Leistungsträger zuständig, in
dessen Bereich der Hilfeempfänger in dem Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in
dem der Anspruch auf Leistung entsteht.
2) Für die Gewährung von Leistungen zur Wohnungserstausstattung ist der Leistungsträger
zuständig, in dessen örtlichem Zuständigkeitsbereich die auszustattende Wohnung liegt.
Tenor
Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern Leistungen für die
Erstausstattung der Wohnung, sowie für den Zeitraum vom 16. Oktober 2005 bis 31.
Oktober 2005 die Kosten der Unterkunft zu zahlen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die Antragsteller sind aus der Ukraine nach Deutschland zugewandert. Sie wohnten
zunächst in einem Übergangswohnheim in Potsdam. Am 16. Oktober 2005 zogen die
Antragsteller in eine Wohnung in der H-H-Straße in Berlin.
Die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Potsdam zahlte den Antragstellern Leistungen zu
Sicherung des Lebensunterhaltes (ohne Kosten der Unterkunft) bis einschließlich 31.
Oktober 2005.
Anfang Oktober 2005 beantragten die Antragsteller beim Antragsgegner die Gewährung
von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und Leistungen zur
Erstausstattung ihrer Wohnung. Der Antragsgegner gewährte daraufhin Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhaltes (einschließlich Kosten der Unterkunft) seit 1.
November 2005.
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2005 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der
Kosten für Möbel ab. Die Zuständigkeit liege bei der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft.
Am 31. Oktober 2005 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Berlin einen Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Die Potsdamer Arbeitsgemeinschaft fühle sich
ebenfalls nicht für die Gewährung von Einrichtungsgegenständen zuständig, wie sich aus
dem Ablehnungsbescheid vom 4. November 2005 ersehen lasse.
Die Antragsteller haben den Ablehnungsbescheid der ARGE Potsdam und eine
Bescheinigung des Übergangswohnheims für jüdische Zuwanderer der
Landeshauptstadt Potsdam eingereicht, wonach sie über keinerlei Mobiliar und
Wohnungszubehör verfügen. Ferner haben Sie eine Zahlungserinnerung der
Wohnungsbaugenossenschaft eingereicht, wonach sie das Nutzungsentgelt für den
Monat Oktober 2005 (zuzüglich Mahngebühren) kurzfristig begleichen sollen.
Die Antragsteller beantragen,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für
die Ersteinrichtung der Wohnung zu übernehmen sowie die Miete (ab 16.10.2005) zu
überweisen.
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Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückzuweisen.
Die Potsdamer Arbeitsgemeinschaft habe (vorläufig) die Leistung zu erbringen, da sie
mit Antrag zuerst angegangen worden sei.
Außerdem sei in den Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 36 die Zuständigkeit
zwischen den Trägern bei Umzug geregelt. Danach seien Zahlungen durch den
abgebenden Träger grundsätzlich erst mit Ablauf des Umzugsmonats einzustellen und
vom aufnehmenden Träger seien Leistungen erst ab dem Folgemonat zu zahlen.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der die Antragsteller betreffenden Verwaltungsakte der ARGE Potsdam
und der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die der Kammer bei
ihrer Entscheidung vorgelegen.
II. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
Die Antragsteller haben einen Anspruch auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung im
zugesprochenen Umfang.
Ein Anspruch auf Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis ist gegeben, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Dazu muss der Antragsteller gemäß § 86 b Absatz 2 Satz 4
Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)
einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen.
Vom Bestehen eines Anordnungsanspruchs ist auszugehen, wenn nach (summarischer)
Prüfung die Hauptsache Erfolgsaussicht hat. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem
Antragsteller unter Abwägung seiner sowie der Interessen Dritter und des öffentlichen
Interesses nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten.
Das Gericht hält nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage den
Anordnungsanspruch für gegeben. Die Antragsteller dürften gegen den Antragsgegner
sowohl einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Erstausstattung der Wohnung
(dazu unter 1.), als auch auf Gewährung von Kosten der Unterkunft im Zeitraum 16.
Oktober 2005 bis 31. Oktober 2005 (dazu unter 2.) haben.
1. Die Antragsteller dürften einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur
Erstausstattung der Wohnung nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites
Buch (SGB II) gegen den Antragsgegner haben.
Das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erstausstattung der
Wohnung ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig, da die Antragsteller nach ihrer
Zuwanderung aus der Ukraine weder Mobiliar, noch über sonstiges Wohnungszubehör
besitzen, wie das Übergangswohnheim für jüdische Zuwanderer der Landeshauptstadt
Potsdam bestätigt.
Einzig umstritten ist, ob der Antragsgegner zur Leistungserbringung verpflichtet ist.
Die Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen regelt § 36 SGB II. Danach ist für
die Erbringung von Leistungen der Leistungsträger zuständig, in dessen Bezirk der
erwerbsfähige Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts ist nach Überzeugung der Kammer der
Leistungsträger zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger in dem Zeitpunkt
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in dem der Anspruch auf eine Leistung entsteht.
Der Anspruch entsteht in dem Zeitpunkt, in dem alle Voraussetzungen des
Leistungsanspruches gegeben sind. Dies setzt bei Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem SGB II insbesondere auch das tatsächliche Bestehen des
Bedarf voraus.
Dementsprechend ist für die Gewährung von Leistungen zur Wohnungserstausstattung
der Leistungsträger zuständig, in dessen örtlichem Zuständigkeitsbereich die
auszustattende Wohnung liegt. Der Bedarf für die Erstausstattung der Wohnung entsteht
nämlich nach Ansicht der Kammer erst in dem Moment, wo der Hilfebedürftige in die
auszustattende Wohnung tatsächlich einzieht. Nicht abgestellt werden kann insoweit
nach Überzeugung der Kammer auf den Tag der Antragstellung oder den Tag des
Abschlusses des Mietvertrages. Die unbedingte Notwendigkeit für die Ausstattung einer
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Abschlusses des Mietvertrages. Die unbedingte Notwendigkeit für die Ausstattung einer
Wohnung entsteht erst bei Bezug der Wohnung, vorher ist das Vorhandensein von
Mobiliar und sonstigen Einrichtungsgegenständen in der Wohnung nicht erforderlich.
Mithin fällt der Zeitraum der Bedarfsentstehung für eine Wohnungserstausstattung mit
dem Zeitpunkt des Bezuges der Wohnung und damit mit dem Zeitpunkt des Wechsels
des gewöhnlichen Aufenthaltes zusammen, weshalb der neue Leistungsträger - in
vorliegendem Fall also der Antragsgegner - zur Leistung verpflichtet ist.
Der Antragsgegner kann gegen diese Leistungsverpflichtung nicht mit Erfolg die
Durchführungsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit einwenden. Zum einen sind
dies interne Weisungen der Bundesagentur für Arbeit, welche keine Rechtsnormqualität
haben, weshalb sie die gesetzlich normierte Zuständigkeitsregelung des § 36 SGB II
nicht außer Kraft setzen können. Zum anderen beziehen sich die Anweisungen
ausdrücklich nur auf die in Trägerschaft der Bundesagentur für Arbeit zu erbringen
Leistungen, nicht dagegen auf die vom kommunalen Träger zu zahlenden Leistungen,
wie die Kosten der Unterkunft und die Leistungen nach § 23 Abs. 3 SGB II. Darüber
hinaus soll mit der Durchführungsanweisung zu § 36 SGB II bei Zuständigkeitswechseln
wegen Umzugs erreicht werden, dass keine Zahlungsunterbrechung für den
Hilfeempfänger eintritt, keine Doppelzahlungen für deckungsgleiche Zeiträume erfolgen,
keine Überzahlung durch Quotelung im Umzugsmonat eintritt.
All diese Gründe für die vom Gesetz abweichende Zuständigkeitsregelung vermögen im
Fall der Wohnungserstausstattung nicht einzutreten, weshalb nicht einmal eine, im
Tatsächlichen begründete Notwendigkeit für die Abweichung von der gesetzlichen
Zuständigkeitsregelung des § 36 SGB II gesehen werden kann.
Auch der auf § 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) gestützte Einwand des
Antragsgegners, die ARGE Potsdam habe die Leistung als zuerst angegangener
Leistungsträger zu erbringen, greift im Ergebnis nicht. Dies ergibt sich schon aus dem
Zweck der Vorschrift. Die Vorschrift wurde ausschließlich im Interesse des
Hilfesuchenden geschaffen. Der Streit mehrerer Träger unter wechselseitigem
Abstreiten der jeweiligen Zuständigkeit soll nicht mit dem Ergebnis zu Lasten des
Hilfsbedürftigen ausgetragen werden, dass die Hilfe nicht oder nur verzögert erbracht
wird. Das gesetzgeberische Motiv des § 43 Abs. 1 SGB I beschränkt sich damit allein auf
das Interesse des Hilfsbedürftigen. Nimmt dieser aber, wie dies hier der Fall ist, im
gerichtlichen Verfahren den erkennbar zuständigen Träger in Anspruch, wohingegen der
zuerst angegangene Träger unzuständig ist, so würde der Sinn der Vorschrift in ihr
Gegenteil verkehrt, wenn der zuständige Träger seine Leistungspflicht unter Berufung
auf § 43 SGB I ablehnen könnte.
2. Die Antragsteller dürften zudem gegen den Antragsgegner einen Anspruch auf
Übernahme der Kosten der Unterkunft für den Zeitraum vom 16. Oktober 2005 bis 31.
Oktober 2005 haben.
Auch hinsichtlich dieser Kosten ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig, dass die
Antragsteller grundsätzlich nach § 22 Abs. 1 SGB II Anspruch auf Übernahme des
Nutzungsentgeltes im streitigen Zeitraum haben, da sie für diesen Zeitraum Anspruch
auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes hatten und die (angemessenen)
Unterkunftskosten tatsächlich angefallen sind.
Alleine streitig war daher auch hier die Zuständigkeit des Antragsgegners für die
Leistungserbringung. Die Zuständigkeit richtet sich wiederum nach § 36 SGB II. Der
Anspruch der Wohnungsbaugenossenschaft auf Zahlung der Nutzungsentschädigung für
die Wohnung ist frühestens mit der Überlassung der Wohnung am 16. Oktober 2005
entstanden, da es sich um eine Nutzungsgebühr handelt, die grundsätzlich erst mit der
Möglichkeit der Nutzung anfallen. Abweichende vertragliche Vereinbarungen wurden
nicht getroffen.
Da mithin auch im Fall der Nutzungsgebühr der Bedarf erst mit dem Einzug der
Antragsteller in die Berliner Wohnung und damit nach dem Wechsel des gewöhnlichen
Aufenthalts der Antragsteller entstanden ist, dürfte der Antragsgegner für die
Leistungserbringung zuständig sein.
Auch hinsichtlich dieser Kosten der Unterkunft greifen die Einwände des Antragsgegners
- wie bereits unter 1. dargelegt - nicht.
Das Gericht hat die Unterkunftskosten für den Zeitraum 16. Oktober 2005 bis 31.
Oktober 2005 nur dem Grunde nach zugesprochen, da die Höhe der den Antragstellern
zustehenden Kosten unter Umständen nicht mit dem von der Wohnungsbaugesellschaft
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zustehenden Kosten unter Umständen nicht mit dem von der Wohnungsbaugesellschaft
angemahnten Kosten übereinstimmt (Stichwort: Warmwasserpauschale).
Für die begehrte und vorgenommene einstweilige Anordnung liegt zudem ein
Anordnungsgrund vor. Die Antragsteller verfügen nach ihren eigenen glaubhaften
Angaben, welche durch die Bescheinigung des Übergangswohnheims bestätigt werden,
über keinerlei Mobiliar und Einrichtungsgegenstände. Das Wohnen in einer leeren
Wohnung kann den Antragstellern, insbesondere auch der siebenjährigen Antragstellerin
zu 3., nicht länger zugemutet werden. Auch die Übernahme der Nutzungskosten für die
Wohnung war - obwohl vor Antragseingang bei Gericht entstanden- nach Ansicht der
Kammer erforderlich, da den Antragstellern nicht zumutbar ist, sie weiteren Mahnungen
und drohenden Vollstreckungsmaßnahmen der Wohnungsbaugenossenschaft
auszusetzen und die weiteren damit verbundenen Kosten zu tragen.
Die Interessen der Antragsteller überwiegen insoweit das Interesse der Allgemeinheit,
zumal unstreitig ist, dass die Allgemeinheit die Kosten der Erstausstattung und die
Unterkunftskosten jedenfalls zahlen muss, und nur der Leistungsträger umstritten ist.
Darüber hinaus bleibt es dem Antragsgegner unbenommen, einen Erstattungsanspruch
gegen die ARGE Potsdam nach §§ 102 ff Sozialgesetzbuch Zehntes Buch geltend zu
machen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG und folgt
dem Ausgang des Verfahrens.
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