Urteil des SozG Berlin vom 24.03.2006

SozG Berlin: verfassungskonforme auslegung, unterkunftskosten, umzug, zusicherung, heizung, rückwirkung, unterdeckung, wohnungsmarkt, wohnkosten, link

1
2
3
4
5
6
7
8
Gericht:
SG Berlin 59.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 59 AS 6912/06 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 1 S 1 SGB 2 vom
24.03.2006, § 22 Abs 2 SGB 2
vom 24.03.2006, § 22 Abs 1 S 2
SGB 2 vom 20.07.2006, § 2 Abs
1 S 1 SGB 2, Art 20 Abs 3 GG
(Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Übernahme der
angemessenen Unterkunftskosten nach Umzug ohne vorherige
Zusicherung - keine Rückwirkung der Neuregelung des ab
1.8.2006 geltenden § 22 Abs 1 S 2 SGB 2 - Vertrauensschutz -
verfassungskonforme Auslegung)
Gründe
I.
Der Antragsteller (Ast.) zog im laufenden Alg II-Bezug mit anerkannten
Unterkunftskosten von 311,- EUR (320,- EUR Bruttomiete abzüglich 9.- EUR
Warmwasserpauschale) zum 1.4.2006, Mietvertragsschluss am 16.3.2006, in eine
andere Wohnung im selben Haus um. Die Miete der neuen Wohnung beträgt 400,- EUR
(= 320,- EUR Kaltmiete plus 130,- EUR Betriebskostenabschlag plus 50,- EUR Heizung
und Warmwasser-Vorauszahlung).
Auf einen Fortzahlungsantrag für den Bewilligungsabschnitt 1.8.2006 bis 31.1.2007
gewährte der Antragsgegner (Ag.) nur die zuvor anerkannten Unterkunftskosten von
311,- EUR; der Ast. sei ohne vorherige Zusicherung umgezogen (Bescheid vom
5.7.2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28.7.2006).
Hiergegen richtet sich ein am 2.8.2006 anhängig gemachtes Eilverfahren auf
Übernahme der vollen, hilfsweise der Richtlinien-Miete von 360,- EUR. Der Ast. habe
wegen erheblicher, nicht auf gütlichem Wege abzustellender Lärmbelästigungen eines
früheren Nachbarn vom Vermieter die jetzige Wohnung angeboten bekommen. Auf
dieses Angebot habe er schnell reagieren müssen, bei Einleitung eines förmlichen
Zusicherungsverfahrens wäre die Wohnung anderweitig vergeben worden.
Der Ag. hat auf den Vergleichsvorschlag des Gerichts - einstweilige Übernahme der
Richtlinienmiete - nicht geantwortet.
II.
Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist mit dem Hilfsantrag erfolgreich. Der
Ast. hat jedenfalls Anspruch auf die Richtlinienmiete von 360,- EUR abzüglich 9,- EUR
Warmwasserpauschale.
Das Zusicherungserfordernis in § 22 Abs. 2 SGB II hat lediglich eine Warnfunktion; wurde
die Zusicherung nicht eingeholt und hätte sie auch nicht erteilt werden müssen, besteht
nach § 22 Abs. 1 SGB II dennoch ein Anspruch auf Übernahme der neuen Miete, soweit
diese angemessen ist (einhellige Auffassung in der Kommentarliteratur).
Die Neuregelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II nach dem ab 1.8.2006 geltenden
Fortentwicklungsgesetz bestätigt diese Auffassung insofern, als die Notwendigkeit
gesehen wurde, eine solche Regelung ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen. Die
Reduzierung auf die günstigere, angemessene Alt-Miete kann somit nicht unter die
allgemeine Selbsthilfeobliegenheit des § 2 Abs. 1 SGB II gefasst werden. Neben einem
Verstoß gegen § 31 SGB I wäre eine solche Argumentation nicht mit dem auch für SGB
II-Bezieher geltenden Grundrecht auf Freizügigkeit zu vereinbaren, weil mit Rückgriff auf §
2 SGB II auch ein erforderlicher Umzug auf eine Miete unterhalb festgelegter
Richtlinienwerte gedrückt werden könnte. Allein die Sonderregelung des § 22 Abs. 1 SGB
II bestimmt daher den Umfang der zu übernehmenden Unterkunftskosten und nicht ein
unkonturiertes Gebot zu sparsamem Verhalten.
Die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. stützt die angefochtene Kürzung der
Unterkunftskosten auf die Alt-Miete ab August 2006 nicht. Denn dies liefe auf eine
9
10
11
12
13
14
Unterkunftskosten auf die Alt-Miete ab August 2006 nicht. Denn dies liefe auf eine
Rückwirkung dieser Bestimmung hinaus, für die es keine Rechtfertigung gibt. Zwingende
Gründe des Gemeinwohls sind vom Gesetzgeber nicht vorgebracht worden. Bei
sachorientierter, nüchterner Betrachtung gibt es keine "Hartz IV-Kostenexplosion",
insbesondere ist ein Anstieg der Unterkunftskosten aufgrund nicht erforderlicher
Umzüge nicht nachgewiesen, wenn überhaupt seriös dokumentiert. Im vorliegenden Fall
erfolgte der Umzug zu einem Zeitpunkt, zu dem das Vertrauen in den Fortbestand der
alten, über die Richtwerte ohnehin schon restriktiven Regelung, noch nicht durch
erkennbare gesetzgeberische Aktivitäten, vor allem den Gesetzesbeschluss des
Bundestages, erschüttert war (vgl. dazu BSG, Urteil vom 25.6.1998 – B 7 AL 2/98 R).
Schließlich kann dieser Regelung nicht die Bedeutung einer bloßen Klarstellung
vorbestehender Regelungsbefugnis beigemessen werden. Selbst für reine
Klarstellungsregelungen gibt es keinen Grundsatz, dass sie rückwirkend angewandt
werden, erst recht gilt das für Normen, mit denen eine echte Rechtsänderung verbunden
ist, worauf hier auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16 /1410, S, 23) hindeutet (vgl.
dazu BSG, Urteil vom 6.4.2006 – B 7a AL 74/05 R).
Damit steht ungeachtet der im Hauptsacheverfahren aufzuklärenden Frage, ob hier ein
erforderlicher Umzug vorlag und ob die 360,- EUR eine dem aktuellen Wohnungsmarkt
außerhalb ghettoisierter Randgebiete adäquate Richtgröße abbilden, fest, dass der Ast.
Anspruch auf Übernahme von 351,- EUR monatliche Unterkunftskosten hat.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass wegen Unterdeckung der Wohnkosten
Mietschulden und damit der Verlust der Wohnung droht. Solange dies nicht ansteht,
bleiben solche Erwägungen spekulativ (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 22.11.2005 – L 12
B 38/05 AS ER).
Nach summarischer Prüfung ist ein Anspruch auf Übernahme der vollen Mietkosten
abzüglich der Warmwasser-Pauschale dagegen unwahrscheinlich. Denn bislang haben
die für Berlin zuständigen Sozial und Landessozialgerichte die Werte der AV-Wohnen
nicht beanstandet, so dass auch bei Annahme eines erforderlichen Umzug nur die
Angemessenheitsmiete von 351,- EUR zu übernehmen ist. Die 6-monatige Suchfrist
greift nicht, da der Ag. die neue Miete zu keinem Zeitpunkt akzeptiert hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass der Eilantrag nicht die noch offene Klage
gegen den Widerspruchbescheid vom 28.7.2006 ersetzt!
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum