Urteil des SozG Berlin vom 08.02.2011

SozG Berlin: minderjähriger, rechtsgrundlage, link, quelle, sammlung, durchschnitt, abschaffung, einzug, haushalt, alter

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Gericht:
SG Berlin 197.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 197 AS 9343/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 20 Abs 2 S 1 SGB 2, § 20 Abs
3 SGB 2
Arbeitslosengeld II - Höhe der Regelleistung für minderjährige
Partner einer Bedarfsgemeinschaft - Schließung einer
planwidrigen Regelungslücke in § 20 SGB 2 durch analoge
Anwendung von § 20 Abs 3 SGB 2
Leitsatz
Für die Regelleistung minderjähriger Partner in einer Bedarfsgemeinschaft hat der
Gesetzgeber keine Schlechterstellung beabsichtigt, was auch die Regelung in § 20 Abs. 2 S 1
SGB 2 zeigt, wonach der Partner eines Minderjährigen die volle Regelleistung erhält, damit die
Partner der Bedarfsgemeinschaft über eine Gesamtregelleistung von 180 vom Hundert
verfügen können. Gründe, die vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gebotenen
Existenzsicherung durch die Leistungen des SGB 2 eine Reduzierung der - hypothetischen -
Gesamtregelleistung von 180 auf 160 vom Hundert rechtfertigen könnten, sind nicht
ersichtlich.
Tenor
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 4. Februar 2009
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2009 verpflichtet, der
Klägerin für den Zeitraum vom 1. Februar 2009 bis 30. Juni 2009 monatlich
90 statt 80 vom Hundert der Regelleistung zu gewähren. Im Übrigen wird
die Klage abgewiesen.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Berücksichtigung von 100 statt 80 vom Hundert der
Regelleistung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den
Leistungszeitraum vom 1. Februar 2009 bis 30. Juni 2009.
Mit Bescheid vom 4. Februar 2009 gewährte der Beklagte der 1991 geborenen Klägerin,
ihrem 1992 geborenen Lebensgefährten M S sowie deren gemeinsamem Kind M M
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des
Sozialgesetzbuchs (SGB II) für die Zeit vom 1. Februar 2009 bis 30. Juni 2009 in Höhe
von monatlich 699,97 Euro. Der Berechnung legte der Beklagte für die Klägerin sowie für
ihren Lebensgefährten eine Regelleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige in Höhe von
jeweils 281,- Euro, das sind 80 vom Hundert der Regelleistung für Kinder ab Beginn des
15. Lebensjahrs bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs, zu Grunde.
Hiergegen legte die Klägerin am 26. Februar 2009 (Eingang bei dem Beklagten)
Widerspruch ein. Sie habe mit ihrem Partner eine eigene Bedarfsgemeinschaft und
daher – ebenso wie dieser – einen Anspruch auf einen Regelsatz von 316,- Euro
monatlich. Alternativ habe sie einen Anspruch auf 351,- Euro und ihr Partner nur auf
281,- Euro monatlich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2009 wies der Beklagten den Widerspruch der
Klägerin zurück. Zur Begründung berief er sich auf die Regelung in § 20 SGB II.
Am 27. März 2009 (Eingang) hat die Klägerin beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben,
mit der sie ihre Begehren weiter verfolgt. Als sie mir ihrem Kind noch bei ihrer Mutter
gewohnt habe, habe sie einen Regelsatz von 351,- Euro erhalten. Jetzt, da sie mit dem
auch noch minderjährigen Vater des Kindes zusammen lebe, bekomme sie auf einmal
nur noch 281,- Euro, was sie nicht verstehe.
Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 4. Februar 2009 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2009 zu verpflichten, ihr für den Zeitraum
vom 1. Februar 2009 bis 30. Juni 2009 monatlich volle Regelleistung statt 80 vom
Hundert der Regelleistung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist der Beklagte auf seine Ausführungen im angefochtenen
Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass die Klägerin mit ihrem Einzug in
den Haushalt ihres Partners nicht mehr alleinstehend oder alleinerziehend sei und daher
keinen Anspruch auf volle Regelleistung habe. Die Regelleistung betrage 80 vom
Hundert, da die Klägerin noch minderjährig sei.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist im aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im
Übrigen unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 4. Februar 2009 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 6. März 2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf die Berücksichtigung einer Regelleistung in
Höhe von 90 statt 80 vom Hundert. Sie hat jedoch keinen Anspruch auf die
Berücksichtigung einer Regelleistung in voller Höhe.
Die Beteiligten streiten ausdrücklich nur um die Höhe der der Berechnung zu Grunde
liegenden Regelleistung. Der Streitgegenstand ist auf einen abtrennbaren Regelungsteil
der angefochtenen Bescheide beschränkt. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil
vom 16. Oktober 2007, Az. B 8/9b SO 2/06 R, auf das auch im Weiteren Bezug
genommen wird, ausgeführt, dass die Beteiligten bei einem Rechtsstreit über die Höhe
der Grundsicherung (dort im Alter, dasselbe gilt jedoch auch für Arbeitssuchende) die
Möglichkeit haben, Teilelemente durch Teilvergleich oder -anerkenntnis (Rn. 21 a. E. m.
w. N., zitiert nach Juris) unstreitig zu stellen. Für die Klageerhebung kann nichts anderes
gelten, was bedeutet – und das hält die Kammer trotz entgegenstehender
Rechtsprechung für zutreffend –, dass die Beteiligten von vornherein nur Teilelemente
streitig stellen können. So liegt es im vorliegenden Rechtsstreit, in dem die Beteiligten
ausschließlich über die Höhe der für die Klägerin zu berücksichtigenden Regelleistung für
den Zeitraum vom 1. Februar 2009 bis 30. Juni 2009 streiten.
Die Höhe der für die Klägerin zu berücksichtigenden Regelleistung ergibt sich aus § 20
Abs. 3 SGB II analog. Für den vorliegenden Fall weist das Gesetz eine planwidrige
Regelungslücke auf. Da er mit der in § 20 Abs. 3 SGB II geregelten Sachlage vergleichbar
ist, ist die analoge Anwendung dieser Norm geboten.
Nach Auslegung von § 20 SGB II besteht eine planwidrige Regelungslücke. Gemäß § 20
Abs. 3 SGB II beträgt die Regelleistung für zwei Partner der Bedarfsgemeinschaft, die das
18. Lebensjahr vollendet haben, jeweils 90 vom Hundert der Regelleistung nach Absatz
2. Nach § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II in Verbindung mit der Bekanntmachung über die Höhe
der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 des SGB II für die Zeit ab 1. Juli 2008 beträgt
die monatliche Regelleistung für Personen, die allein stehend oder allein erziehend sind
oder deren Partner minderjährig ist, 351 Euro. Die Regelleistung für sonstige
erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft beträgt 80 vom Hundert der
Regelleistung nach Satz 1, § 20 Abs. 2 S. 2 SGB II. Aus diesem Regelungssystem ist
ersichtlich, dass der Sachverhalt, von dem die Klägerin betroffen ist, von § 20 SGB II
nicht unmittelbar erfasst wird. Die Klägerin lebte, seinerzeit selbst minderjährig, im
streitigen Zeitraum mit einem minderjährigen Partner und dem gemeinsamen Kind in
einer Bedarfsgemeinschaft zusammen. Auf diesen Sachverhalt ist § 20 Abs. 3 SGG nicht
unmittelbar anwendbar, der sich nur auf Personen bezieht, die das 18. Lebensjahr
vollendet haben. Für minderjährige Partner ist zwar grundsätzlich die Regelleistung nach
§ 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II einschlägig. Zugleich bestimmt § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II, dass
Personen, deren Partner minderjährig ist, volle Regelleistung erhalten. Den vorliegenden
Fall einer Bedarfsgemeinschaft zweier Minderjähriger hat der Gesetzgeber hingegen
nicht geregelt. Zu dem Regelleistungssystem hat er in der Bundestagsdrucksache
15/1516 vielmehr erläutert, dass bei Abschaffung des Haushaltsvorstands die
Regelleistung zweier Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft, die das 18. Lebensjahr
vollendet haben, nunmehr jeweils 90 vom Hundert, also den rechnerischen Durchschnitt
von vormals 100 und 80 vom Hundert beträgt. Nur für „Angehörige“, die das 15.
Lebensjahr vollendet haben, hat der Gesetzgeber 80 vom Hundert der Regelleistung
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Lebensjahr vollendet haben, hat der Gesetzgeber 80 vom Hundert der Regelleistung
vorgesehen. Die Klägerin war im streitigen Zeitraum jedoch kein „angehöriges Kind“
(das hat der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen wollen) einer Bedarfsgemeinschaft,
sondern selbst Partnerin einer Bedarfsgemeinschaft.
Die Regelungslücke ist durch analoge Anwendung von § 20 Abs. 3 SGB II zu schließen
(zur analogen Anwendung von § 20 Abs. 3 SGB II vgl. auch BSG a. a. O.). Diese Regelung
enthält eine vergleichbare Interessenlage. Aus der Gesetzessystematik des § 20 SGB II
ergibt sich die Wertung, dass die Gesamtleistung zweier Partner einer
Bedarfsgemeinschaft insgesamt 180 vom Hundert beträgt (so im Ergebnis auch
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. April 2010, Az. L 10 AS 1228/09).
Zwar ist das Zweite Buch Sozialgesetzbuch auch dadurch geprägt, dass der
Leistungsumfang für Personen, die das 18. bzw. 25. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, geringer ausgestaltet ist. Für die Regelleistung minderjähriger Partner in einer
Bedarfsgemeinschaft hat der Gesetzgeber eine Schlechterstellung jedoch nicht
beabsichtigt, was auch die Regelung in § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II zeigt, wonach der Partner
eines Minderjährigen die volle Regelleistung erhält, damit die Partner der
Bedarfsgemeinschaft über eine Gesamtregelleistung von 180 vom Hundert verfügen
können. Eine solche Schlechterstellung – das zeigt gerade der vorliegende Fall, in dem
das Paar ein gemeinsames Kind zu versorgen hat – wäre auch nicht gerechtfertigt.
Gründe, die vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gebotenen Existenzsicherung
durch die Leistungen des SGB II eine Reduzierung der – hypothetischen –
Gesamtregelleistung von 180 auf 160 vom Hundert rechtfertigen könnten, sind nicht
ersichtlich.
Soweit die Klägerin die volle statt 90 vom Hundert der Regelleistung begehrt, ergibt sich
hierfür vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen keine Rechtsgrundlage.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung war zuzulassen, obwohl der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,- Euro
nicht übersteigt, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, § 144 Abs. 1, 2
SGG. Die Rechtsfrage, in welcher Höhe Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft zweier
Minderjähriger Regelleistung beanspruchen können, ist bislang in der Rechtssprechung
nicht geklärt. Die Klärung dieser Frage, die nicht nur die Klägerin, sondern alle Mitglieder
von Bedarfsgemeinschaften Minderjähriger betrifft, liegt im allgemeinen Interesse.
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