Urteil des SozG Berlin vom 02.09.2005

SozG Berlin: allein erziehende mutter, darlehen, sozialhilfe, ausgrenzung, beihilfe, schulmaterial, familie, schule, leistungsausschluss, verschuldung

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Gericht:
SG Berlin 37.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 37 AS 12025/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 2 SGB 2, § 23 Abs 1 S 1
SGB 2, § 23 Abs 1 S 3 SGB 2, §
23 Abs 3 SGB 2, § 28 Abs 1 S 2
SGB 12
Arbeitslosengeld II - abweichende Erbringung von Leistungen -
unabweisbarer Bedarf - Lernmittel- und Schulbedarf -
Festsetzung der Tilgungsrate des Darlehens auf Null -
verfassungskonforme Auslegung
Tenor
Der Bescheid vom 2.9.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 25.11.2005 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet gewesen wäre, auf den
Antrag für Lernmittel und Schulmaterialien ein tilgungsfreies Darlehen in
Höhe der BSHG-Pauschale von 51,13 € pro Kind und Schuljahr zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind Sonderbedarfe für Lernmittel.
Die Klägerin ist allein erziehende Mutter von 4 Kindern, die alle noch zur Schule gehen.
Bis Ende 2004 erhielt die Familie Sozialhilfe. Den Kindern war pro Schuljahr und Kind für
Lernmittel und sonstigen Schulbedarf eine Beihilfe von 51,13 € gewährt worden.
Ein entsprechender Antrag der seit dem 1.1.2005 Alg II und Sozialgeld beziehenden
Bedarfsgemeinschaft war mit Bescheid vom 2.9.2005, 25.11.2005 abgelehnt worden.
Am 22.12.2005 hat die Klägerin beim Sozialgericht Berlin auf Gewährung einer Beihilfe
für Schulmaterial ihrer Kinder geltend gemacht. Eine Unterstützung seitens der Schule
gebe es nur für die Schulbücher, der Verzicht auf zusätzliches Schulmaterial und
Lernmittel führe zu einer Ausgrenzung der Kinder aus dem Klassenverbund.
Im Hinblick auf eine inzwischen erfolgte Beschaffung der Lernmittel durch ein Darlehen
einer Bekannten der Klägerin,
beantragt die Bevollmächtigte der Klägerin,
festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet gewesen wäre, auf den Antrag für
Lernmittel und Schulmaterialien einen nicht rückzahlbaren Zuschuss zu gewähren.
Die Beklagten-Vertreter beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie beziehen sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den
Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig. Für die nach § 99 Abs. 3 SGG ohne Zustimmung des Beklagten
erlaubte Umstellung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage besteht wegen der
Wiederholungsgefahr nach wie vor ein Interesse an einer Entscheidung der
aufgeworfenen Streitfrage.
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Die Klage ist auch teilweise begründet. Ein Anspruch auf Erfüllung des geltend
gemachten Sonderbedarfs in Form eines Zuschusses zur Regelleistung lässt sich im
SGB II zwar nicht begründen, zur Vermeidung einer Ausgrenzung der Familie ist es
jedoch geboten, ein Darlehen zu gewähren, wobei der in § 23 Abs. 1 SGB II eingeräumte
Spielraum zur Festlegung der Tilgungsraten ("bis zu 10 vom Hundert") in
verfassungskonformer Auslegung auf Null festzusetzen ist.
Der geltend gemachte Sonderbedarf für die Lernmittel und Schulmaterialien gehört
systematisch – Rückschluss aus § 23 Abs. 3 SGB II – zu einem Bedarf, der dem
laufenden Lebensunterhalt zuzurechnen ist, d. h. der Bestandteil des gegenüber dem
früheren Recht der Sozialhilfe um eine Beihilfepauschale aufgestockten Regelsatzes ist.
Er liegt hier jedoch in einer von der Klägerin durch Kaufquittungen nachgewiesenen
Größenordnung, die es angesichts der Gesamtkalkulation der Bedarfspositionen der
Regelsätze ausschließt, dass er aus dem Regelsatz bestritten werden kann. Die große
Zahl von Streitverfahren zu Beihilfeleistungen im SGB II zeigt, dass die in den
Regelsätzen eingebaute Pauschale für die Vielzahl von Einmalleistungen, die ein
Haushalt mit Kindern trotz sozialadäquater Anpassung an bescheidene
Lebensverhältnisse mit sich bringt, unzureichend ausgestaltet ist (vgl. dazu Knickrehm,
Sozialrecht aktuell 2006, S. 159 ff).
Zur Vermeidung einer Ausgrenzung hilfebedürftiger Menschen besteht daher ein
zwingendes Bedürfnis, die starren SGB II-Regelsätze um weitere Leistungen zu
ergänzen. Im SGB II geht das nur über Darlehen, wobei an die Voraussetzung der
Unabweisbarkeit keine allzu hohe Anforderung gestellt werden darf und der Gefahr einer
aufgeschobenen Bedarfsunterdeckung mit einer der Hilfebedürftigkeit angepassten
Tilgungsregelung zu begegnen ist. Eine Schlechterstellung von SGB II-
Leistungsberechtigten gegenüber Sozialhilfebeziehern, denen mit der moderateren
Vorschrift des § 37 Abs. 2 SGB XII geholfen wird, wenn es um Regelsatz-Zusatzbedarfe
geht, wovon hier mit Blick auf § 27 Abs. 2 SGB XII (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.3.1996,
info also 1996, S. 199 f) auszugehen ist, lässt sich sachlich nicht begründen. Mit der
Leistungsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit ist angesichts der Lage auf dem
Arbeitsmarkt keine nur vorübergehender Hilfebedürftigkeit gegeben und es kann auch
nicht typischerweise unterstellt werden, dass SGB II-Leistungsberechtigte über höheres
Schonvermögen als SGB XII-Bezieher verfügen; bei Menschen, die aus der Sozialhilfe
kommen, wie hier, liegt das auf der Hand. Art 3 GG gebietet daher schon bei
Zuerkennung des Darlehens eine an der Vermeidung dauerhafter Verschuldung
orientierte Tilgungsregelung, die auch Spielraum lässt für ein ratenfreies Darlehen.
Ein Verweis auf die nicht vom Leistungsausschluss des § 5 Abs. 2 SGB II betroffenen
"Hilfen in besonderen Lebenslagen", insbesondere die dort angesiedelte
Auffangvorschrift des § 73 SGB XII, kommt nicht in Betracht, da § 73 SGB XII nicht dazu
dient, unzureichend ausgestalteten Regelsätze aufzustocken (vgl. Berlit, LPK-SGB XII, §
73 Rdnr. 6). Überdies ist § 73 SGB XII als bloße Ermessenvorschrift ausgestaltet, was den
hier in Streit stehenden Sonderbedarf nicht gerecht wird.
Eine Zuerkennung als darlehensfreier Sonderbedarf in analoger Anwendung von § 23
Abs. 3 SGB II oder in Analogie zu § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII hält die Kammer auch schon
vor der Verschärfung der §§ 3, 20 SGB II im Fortentwicklungsgesetz für nicht gangbar.
Es bleibt im System des SGB II daher nur der Weg über ein Darlehen nach § 23 Abs. 1
SGB II. Ein im Ermessen des Beklagten stehender Erlass nach § 44 SGB II ist auf
entsprechenden Antrag gerichtlich – allerdings nur begrenzt (vgl. zur ähnlichen Vorschrift
des § 76 SGB IV LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2005 – L 8 AL 4537/04,
anhängig beim BSG unter B 7a/7 AL 98/04 R) – überprüfbar, derzeit aber nicht
Gegenstand der Klage auf Gewährung des Sonderbedarfs.
Bei der Höhe des anzuerkennenden Bedarfs hat sich die Kammer an den Beträgen
orientiert, die der Sozialhilfeträger im Vorjahr erbracht hatte. Dies scheint im Hinblick auf
die eher fortschreitende Heranziehung der Eltern zur Finanzierung notwendigen
Schulmaterials auch in 2005 und 2006 sachgerecht.
Die am Ausgang des Rechtsstreits orientierte Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.
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