Urteil des SozG Berlin vom 15.08.2007

SozG Berlin: aus wichtigen gründen, unterkunftskosten, aufschiebende wirkung, miete, ortsabwesenheit, sozialhilfe, china, bedürftigkeit, verfügung, leistungsbezug

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 15.08.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 37 AS 18204/07 ER
1) Den Antragstellern (Ast.) wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt A gewährt. 2) Für den Monat
August 2007 wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Teilaufhebungsbescheid vom 7.8.2007
angeordnet, soweit dem Ast. zu 2) die Unterkunftskosten abgelehnt werden. 3) Der Antragsgegner wird im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, a) dem Ast. zu 1) für die Monate August bis Oktober 2007 Alg II in Höhe von
monatlich 347 EUR Regelsatz plus 266,24 EUR anteilige Unterkunftskosten b) dem Ast. zu 2) für die Monate August
bis Oktober 2007 monatlich 266,24 EUR anteilige Unterkunftskosten zu gewähren. 4) Der Antragsgegner trägt die
außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Die Ast. zu 1) und 2) leben in eingetragner Partnerschaft zusammen und beziehen beide Alg II. Am 26.7.2007 teilte
der Ast. zu 2) dem Antragsgegner (Ag.) schriftlich mit, dass er am 2.8.2007 auf Wunsch seiner Eltern nach China
fliege, um die dort nach einem Unfall hilfebedürftige Großmutter zu betreuen. Er werde Anfang oder Mitte November
2007 nach Deutschland zurückkommen, dann wäre erneut über die Eingliederungsvereinbarung zu sprechen.
Der Ag. stellte darauf die Leistungszahlung an den Ast. zu 2) für August ein und änderte die mit Bescheid vom
27.6.2007 verfügte Bewilligung für den Zeitraum Juli und August 2007 dahingehend ab, dass dem Ast. zu 1) für den
Monat August 2007 nur der Regelsatz von 312 EUR und die halben Unterkunftskosten zuerkannt werden (Bescheid
vom 7.8.2007).
Mit Eilantrag vom 8.8.2007 fordern die Ast. zu 1) und 2), hilfsweise nur der Ast. zu 1), die Übernahme der vollen
Unterkunftskosten und der Ast. zu 1) den Regelsatz für Alleinstehende; mit der mehr als kurzen Ortsabwesenheit
gelte die Wirtschaftgemeinschaft als aufgelöst, so dass der Mischregelsatz unzureichend sei.
Der Ag. hält dem Eilantrag § 7 Abs. 4a SGB II i.V.m. der EAO entgegen; bei einer mehr als sechswöchigen
Ortsabwesenheit verliere der Ast. zu 2) den Leistungsanspruch. Wegen Fortbestand der Bedarfsgemeinschaft (BG)
sei des ungeachtet nur der Regelsatz für Paare und die anteilige Miete an den Ast. zu 1) zu zahlen.
II.
Der Antrag ist bei sachdienlicher Auslegung sowohl als Anordnungssache nach § 86b Abs. 1 SGG, als auch
Vornahmeantrag nach § 86b Abs. 2 SGG auszulegen. Denn wegen der Begrenzung des von der Aufhebung
betroffenen Bewilligungszeitraums auf den Monat August ist zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bis zur
angekündigten Rückkehr des Ast. zu 2) über die vom Ag. bestrittenen Ansprüche in diesem Zwischenraum zu
entscheiden.
Antragsteller sind beide Mitglieder der BG, da bzgl. der Unterkunftskosten ein eigener Anspruch des Ast. zu 2)
besteht.
Die insoweit zulässigen Anträge sind begründet. Das Gericht hat keinen Zweifel an der Richtigkeit des vorgetragenen
Grundes für die Ortsabwesenheit, denn für die Ast. wäre es leicht gewesen, eine Trennung der BG zu behaupten, um
sichere Ansprüche des Ast. zu 1) auf den vollen Regelsatz und – vorübergehend - die volle Miete auszulösen. Der
"ungünstige" Sachvortrag spricht daher für sich.
Der Streit über die geltend gemachten Ansprüche betrifft daher reine Rechtsfragen, so dass nach Maßgabe der
Entscheidung des BVerfG vom 12.5.2005 -1 BvR 569/2005 ungekürzte Leistungen zuzusprechen waren. Das
erkennende Gericht versteht die BVerfG-Entscheidung so, dass bei existenzsichernden Leistungen nur dann
Abschläge zu vertreten sind, wenn der Sachverhalt in der gebotenen Entscheidungszeit nicht aufzuklären ist.
Insbesondere kann der BVerfG-Entscheidung kein Rechtssatz der Art entnommen werden, dass erst ab einem
bestimmten Kürzungsbetrag oder konkret drohender Wohnungslosigkeit ein Eilbedürfnis besteht, auch wenn die
aufgeworfenen Rechtsfragen bereits abschließend entschieden werden können. Die sehr knapp ausgestalteten
Leistungen des SGB II verbieten dann einen Verweis auf Einschränkungen unterhalb des Existenzminimums bis zu
einer - angesichts der Belastung der SGB II-Träger und der Sozialgerichte - nicht absehbaren Entscheidung im
Widerspruchs- oder Klageverfahren. Dies widerspräche dem vom BVerfG geprägten Grundsatz, dass der redliche
Bürger in SGB II/SGB XII-Verfahren einen Anspruch auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens hat.
1.:
Was zunächst den Antrag auf Erhöhung des Regelsatzes auf 347 EUR betrifft, folgt das Gericht der Auffassung des
Ast. zu 1), dass in einer BG die Grundlage für den Mischregelsatz entfällt, wenn der Partner länger als einen Monat
mit seinem Beitrag zur gemeinsamen Wirtschaft ausfällt und auch kein Dritter einspringt oder z.B. Einkommen
während der Abwesenheit erzielt wird, das wegen Fortbestand der BG angerechnet wird bzw. das Wirtschaften "aus
einem Topf" weiter ermöglicht. Der vorliegende Fall liegt insofern nicht anders als der in den DA zu § 7, § 9 und § 20
SGB II erwähnte Fall der stationären Unterbringung eines BG-Partners.
2.:
Der Anspruch des Ast. zu 2) auf die Unterkunftskosten ergibt sich aus der zumindest insoweit fortbestehenden
Hilfebedürftigkeit. Denn Einkommen erzielt der Ast. zu 2) während seines Aufenthalts in China nicht, mit dem er die
ihn weiter treffende Mietbelastung decken könnte.
§ 3 EAO steht dem Anspruch nicht entgegen. Denn nicht ohne Grund gilt diese Regelung nach § 7 Abs. 4a SGB II für
Alg II-Bezieher nur "entsprechend". Sofern es also um andere Sachverhalte als den der Urlaubsgewährung an
Personen, die dem Arbeitsmarkt in gleicher Weise wie Alg I-Bezieher zur Verfügung stehen, geht, sind die
Besonderheiten des SGB II zu berücksichtigen. Es kann deshalb nicht außer Betracht bleiben, dass Alg I-Bezieher,
die in einer vergleichbaren Situation aus dem Leistungsbezug abgemeldet werden mussten, bei Bedürftigkeit
Sozialhilfe nach dem BSHG beanspruchen konnten, solange der Inlandswohn-sitz, auf den sich die Unterkunftskosten
beziehen, nicht aufgegeben wurde (vgl. BVerwG FEVS 51, S. 145 ff). Ähnlich liegt es im Fall einer mehr als
sechswöchigen (§ 126 SGB III) Erkrankung. Hier ist der Lebensunterhalt für Alg I-Bezieher bzw. war er für Alhi-
Bezieher über das Krankengeld abgedeckt, das bei geringer Höhe mit Sozialhilfe aufgestockt wurde oder als
Grundlage für einen Wohngeldanspruch ausreichte.
Mit der Einführung des SGB II und SGB XII sollten vergleichbare Lebenssachverhalte nicht ungeregelt bleiben. Nach
der Gesetzesbegründung dient die Regelung des § 7 Abs. 4a SGB II dem nachvollziehbaren Zweck, längere Urlaube
zu Lasten der Steuerzahler auszuschließen. Anders liegen Ortsabwesenheiten, die aus wichtigen Gründen notwendig
werden, wie hier. Wegen des Leistungsausschlusses in § 21 SGB XII ist dann zumindest auf die Leistungen zu
erkennen, die im Bundesgebiet anfallen und nicht mit Einkommen oder Vermögen bestritten werden können.
Das SGB II ist hier letzte Auffangleistung, da ein Anspruch auf Wohngeld für Mischhaushalte nach § 7 Abs. 4 WoGG
daran scheitert, dass der vom Alg II Ausgeschlossene dann nicht über Mindestleistungen zur Bestreitung des
Lebensunterhalts verfügt. Die §§ 67 ff SGB XII sind in Fällen der vorliegenden Art nicht einschlägig.
Ein Verweis auf die Regelung des § 22 Abs. 5 SGB II (Mietschuldübernahme) nach Rückkehr scheidet aus, da diese
Ermessensleistung den Rechtsanspruch aus § 22 Abs. 1 SGB II nur unzureichend kompensiert.
Da nach Ansicht des Gerichts der Ast. zu 2) leistungsberechtigt ist, kann offen bleiben, ob bei Anwendung der EAO
dann zumindest eine Abkehr von der kopfteiligen Aufteilung der Unterkunftskosten geboten ist mit der Folge eines
Anspruchs des Ast. zu 1) auf Übernahme der vollen Miete.
Der Beschlusszeitraum orientiert sich an dem vom Ast zu 2) genannten Rückkehrdatum.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.