Urteil des SozG Berlin vom 10.08.2004

SozG Berlin: fusion, krankenkasse, beitragssatz, mitgliedschaft, bestätigung, rechtsstaatsprinzip, satzung, rechtswidrigkeit, zivilgericht, datum

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 10.08.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 81 KR 1118/04
Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2004 rechtswidrig war. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen
Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Die Sprungrevision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Beklagte zu Recht eine Bestätigung der Kündigung der Klägerin zum 30.
Juni 2004 abgelehnt hat.
Die im Dezember 1985 geborene Klägerin, die sich in der beruflichen Ausbildung befindet, wählte die Versicherung bei
der beklagten Krankenkasse zum 1. September 2003.
Die ebenfalls T. BKK genannte Krankenkasse – im Folgenden "frühere T. BKK" - die in der beklagten Krankenkasse
nachfolgend durch Fusion mit der BKK B. aufging, erhöhte den allgemeinen Beitragssatz vor der Fusion zuletzt zum
1. September 2003 von 11,9 auf 12,8 Prozent. Der allgemeine Beitragssatz der BKK B. betrug zuletzt vor der Fusion
15,2 Prozent.
Bezüglich der Fusion der beiden Betriebskrankenkassen mit nach Angaben der Beklagten circa 650.000 Mitgliedern
bei der T. BKK und circa 15.000 Mitgliedern bei der BKK B. erging am 5. Februar 2004 der Beschluss der
Verwaltungsrates. Am 4. März 2004 erfolgte der nachfolgend genehmigte Beschluss über die Fusion der beiden
Krankenkassen zum 1. April 2004. Am 9. März 2004 beschloss die fusionierte Krankenkasse die Festlegung des
Beitragssatzes auf 13,8 Prozent im Rahmen der In-Kraft-Setzung der neuen Satzung zum 1. April 2004. Das
Bundesversicherungsamt genehmigte diese Regelung mit Bescheid vom 25. März 2004.
Die Klägerin erklärte am 20. April 2004 die Kündigung ihrer Mitgliedschaft bei der Beklagten zum 30. Juni 2004 und
begründete ihre Erklärung damit, dass die Beklagte zum 1. Juni 2004 den Beitragssatz erhöht habe.
Die Beklagte lehnte eine Bestätigung der Kündigung zum 30. Juni 2004 mit Bescheid vom 26. April 2004 ab und wies
den Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid mit Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2004 zurück. Zur
Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die Klägerin für 18 Monate an ihre Mitgliedschaft
gebunden sei. Krankenkassen würden im Falle ihrer Vereinigung mit einer anderen Krankenkasse mit dem
Wirksamwerden dieser Vereinigung geschlossen. Damit würden gleichzeitig auch die in den jeweiligen Satzungen
bestimmten Beitragssätze außer Kraft treten. Mit der neu beschlossenen Satzung sei auch ein neuer Beitragssatz
festgesetzt worden. Dieser neu festgesetzte Beitragssatz sei rechtlich ohne Bezug zum Beitragssatz der Vorkassen.
Gegenüber dem Beitragssatz der Vorkassen könne es deshalb nicht zu einer Beitragssatzerhöhung oder
Beitragssatzsenkung kommen.
Mit ihrer am 27. Mai 2004 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin - bei unstreitigem Fortbestand der Mitgliedschaft der
Klägerin bei der Beklagten bis zum Ablauf der Bindungsfrist von 18 Monaten, soweit keine Beitragssatzerhöhung
erfolgt - noch die Feststellung der Rechtswidrigkeit des zunächst mit der Klage angefochtenen Bescheides. Sie ist der
Auffassung, dass ihr ein Sonderkündigungsrecht aus § 175 Abs. 4 Satz 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)
zugestanden habe. Die von ihr für eine Mitgliedschaft ab dem 1. Juli 2004 gewählte B.-Krankenkasse habe die
Erteilung einer Mitgliedsbescheinigung abgelehnt, da sie, die Klägerin, eine Kündigungsbestätigung nicht habe
vorlegen können. Entsprechend habe sie die Mitgliedschaftsbescheinigung auch bei der Beklagten bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist nicht vorlegen können. Durch den hierdurch bewirkten unfreiwilligen Fortbestand ihrer Mitgliedschaft
bei der Beklagten sei ihr ein Schaden mindestens in der Höhe der Differenz der an die Beklagte seit dem 1. Juli 2004
gezahlten und der gewählten Krankenkasse bei einem Eintritt zum 1. Juli 2004 geschuldeten Beiträge entstanden, den
sie mit einer Amtshaftungsklage nachfolgend geltend zu machen beabsichtige.
Die Klägerin beantragt, festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2004 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte stützt ihren Antrag im Wesentlichen auf die Begründung des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai
2004. Im Falle der Fusion seien die bisherigen Krankenkassen mit dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der
Vereinigung nach § 150 Abs. 2 Satz 1 SGB V i.V.m. § 144 Abs. 4 Satz 1 SGB V geschlossen. Zum 1. April 2004
seien damit auch die die Beitragssätze regelnden Satzungsbestimmungen der früheren T. BKK außer Kraft getreten.
Entsprechend könne es auch nicht zu einer Erhöhung des Beitragssatzes im Sinne von § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V
gekommen sein. Ein Sonderkündigungsrecht bei Fusionen von Krankenkassen habe der Gesetzgeber nicht
vorgesehen, weil Kassenfusionen politisch erwünscht seien. Es müsse im Rahmen einer Mischkalkulation der
Beitragssätze bei der Fusion in der Regel zu einer Beitragssatzerhöhung für einige der Mitglieder kommen. Es
handele sich bei der Frage des Sonderkündigungsrechts bei Kassenfusion um eine höchstrichterlich erst noch zu
klärende Rechtsfrage.
Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte - S 81 KR 1118/04 - sowie
die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Die Klägerin kann die Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage weiterführen. Einer Einwilligung der Beklagten
bedurfte es diesbezüglich nicht, weil der Übergang von der Anfechtungs- auf die Fortsetzungsfeststellungsklage keine
Klageänderung darstellt, wenn – wie hier - keine Änderung bezüglich des Rechtsgrundes eintritt (vgl.
Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 17. April 1991, BSGE 68, 228, 229).
Nach § 131 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Fortsetzungsfest-stellungsklage gegeben, wenn ein
Verwaltungsakt im materiellen Sinn nach Erhebung einer Anfechtungs- und/oder Verpflichtungsklage während des
Prozesses seine Erledigung findet, also seine Regelungswirkung verliert (Fechner, Die
Rechtswidrigkeitsfeststellungsklage, NVwZ 2000, 121). Die Ablehnung der Kündigungsbestätigung hat mit Ablauf des
30. Juni 2004 die Regelungswirkung verloren, weil eine nach diesem Datum erklärte Bestätigung der Kündigung auf
Grund der eindeutigen Regelung in § 175 Abs. 4 Satz 4 SGB V nicht mehr zu einer wirksamen Kündigung vor Ablauf
der Bindungsfrist von 18 Monaten führen könnte. Die Klägerin kann ihr eigentliches Rechtsschutzziel, nämlich aus der
beklagten Krankenkasse vor Ablauf der allgemeinen Bindungsfrist auszutreten, nicht mehr erreichen.
Die Fortsetzungsfeststellungsklage setzt ein berechtigtes Interesse als Sonderform des Rechtsschutzbedürfnisses
voraus (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 1991, a.a.O.). Das berechtigte Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder
auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die erstrebte gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des
Klägers zu verbessern (BSG, Urteil vom 23. Juli 1992, SozR 3-7815 Art. 1 § 3 Nr. 4). Das
Fortsetzungsfeststellungsinteresse kann auch durch eine bereits erhobene oder zumindest ernsthaft beabsichtigte
Amtshaftungsklage begründet sein, weil das Zivilgericht an die Entscheidung des Sozialgerichts über die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gebunden ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1958, BSGE 8, 178, 183).
Nach h. M. darf die Amtshaftungsklage allerdings nicht offensichtlich aussichtslos sein (vgl. BSG, Urteil vom 21.
Oktober 1958, a.a.O.). Im vorliegenden Fall ist die fachgerichtliche Prüfung der Normen des
Sozialversicherungsrechts Grundlage für die Prüfung des Schadensersatzanspruchs durch die ordentlichen Gerichte.
Bei der hier gebotenen summarischen Prüfung, sprechen die Umstände auch für das Vorliegen eines
Behördenverschuldens (vgl. zum objektivierten Sorgfaltsmaßstab Bundesgerichtshof, Urteil vom 6. Februar 1997,
VersR 1997, 745).
Die Klage ist auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2004 war
rechtswidrig.
Die Beklagte hat die Klägerin mit der Fusion in nicht mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) zu
vereinbarenden Weise gezwungen, bei der Rechtsnachfolgerin der früheren T. BKK trotz einer erheblichen Erhöhung
des Beitragssatzes Mitglied zu bleiben.
Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn eine Behörde eine gesetzliche Regelung wissentlich unterläuft (vgl.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25. Februar 1981, BVerfGE 56, 216, 240). Im vorliegenden Fall ergibt sich
offensichtlich eine nicht fusionsbedingte Erhöhung des Beitragssatzes. Um den Beitragssatz beider Krankenkassen
auf ein einheitliches Niveau zu bringen, hätte es einer Beitragssatzerhöhung von weniger als 0,1 Prozent bedurft. Im
vorliegenden Fall war die Fusion Mittel zum Zweck, das Sonderkündigungsrecht der Versicherten aus § 175 Abs. 4
Satz 5 SGB V zu unterlaufen, sodass das Behördenhandeln bereits deshalb rechtswidrig war.
Die Klägerin hat von Ihrer Seite mit ihrer Kündigungserklärung innerhalb der Frist des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V das
Erforderliche für ein Kündigung der Mitgliedschaft zum 30. Juni 2004 getan.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Voraussetzungen der Zulassung der Sprungrevision nach § 161 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, da das Gericht nicht
über die grundsätzliche Frage eines Sonderkündigungsrechts bei einer Kassenfusion entschieden hat. Im
vorliegenden Fall beruht die Entscheidung vielmehr maßgeblich auf den Gegebenheiten der Fusion zur T. BKK.