Urteil des SozG Berlin vom 27.10.2004

SozG Berlin: aufnahme einer erwerbstätigkeit, existenzminimum, gegen die guten sitten, arbeitsentgelt, sozialhilfe, tarifvertrag, wichtiger grund, alleinstehende person, elterliche sorge, stundenlohn

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Gericht:
SG Berlin 77.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 77 AL 742/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 144 Abs 1 Nr 2 SGB 3, § 121
Abs 2 SGB 3, § 121 Abs 3 S 1
SGB 3, § 121 Abs 3 S 3 SGB 3, §
138 Abs 1 BGB
Arbeitslosengeld - Sperrzeit - Arbeitsablehnung - zumutbare
Beschäftigung - Sittenwidrigkeit - Arbeitsentgelt - Überprüfung
von Tarifverträgen - soziokulturelles Existenzminimum -
Berechnung der Mindestvergütung - Teilzeitbeschäftigung -
Diskriminierungsverbot
Tenor
1. Die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober 2004 in der Gestalt der
Widerspruchsbescheide vom 3. Februar 2005 werden insoweit aufgehoben, als die
Bewilligung von Arbeitslosengeld in größerem Umfange als für den Zeitraum vom 18.
August bis 7. September 2004 aufgehoben und Erstattung verlangt wurde.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites
zu zwei Dritteln zu erstatten.
4. Die Berufung wird für beide Beteiligte zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld im
Hinblick auf den Eintritt zweier Sperrzeiten wegen Arbeitsablehnung und über die
Erstattung entsprechender Leistungen.
Die 44-jährige geschiedene Klägerin lebt gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen
jugendlichen Söhnen. Sie war mit einer Unterbrechung vom November 2003 bis Januar
2004 seit September 2003 arbeitslos und erhielt von der Beklagten Arbeitslosengeld
(Bewilligungsbescheid vom 21. Januar 2004). Dem Arbeitslosengeld lag eine
Beschäftigung als Haushaltshilfe mit einem Stundenlohn von 11,80 Euro bei 15 Stunden
pro Woche zu Grunde; Bemessungsentgelt: 177 Euro pro Woche. Der Zahlungsanspruch
der Klägerin betrug 13,23 Euro pro Tag (401,31 Euro je Monat).
Die Beklagte unterbreitete der Klägerin in den Monaten Juli und August 2004 mehrere
Stellenangebote. Darunter befand sich das Stellenangebot vom 15. Juli 2004 für eine
Tätigkeit als Hauswirtschaftshelferin im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung bei der
Firma i. GmbH & Co KG (Arbeitgeber). Es sollte Tariflohn (5,93 Euro pro Stunde –
Tarifgebiet Ost) bei einer Vollzeitbeschäftigung von 35 Stunden je Woche gezahlt werden
(Bruttomonatslohn 899,38 Euro, netto: 710,51 Euro). Eine Beschäftigung kam nicht zu
Stande.
Auf ein weiteres Stellenangebot bei der Firma K (Vollzeittätigkeit für ein Monatsgehalt
von 1.500 EUR) leistete die Klägerin im Zeitraum vom 30. August bis 8. September 2004
an insgesamt fünf Arbeitstagen jeweils 5 Stunden "Probearbeit". Es kam sodann nicht
zur Einstellung, weil die Firma die Stelle doch nicht besetzte. Ein drittes Stellenangebot
vom 13. August 2004 für eine Tätigkeit als Kinderfrau und Haushaltshilfe im
Privathaushalt M-Z (Anbieterin) sah eine Tätigkeit von 15 Stunden pro Woche mit einem
Gehalt von 900 EUR vor. Auf diese Stelle bewarb sich die Klägerin am 8. September
2004; die Stelle war zu diesem Zeitpunkt bereits vergeben.
Mit den Schreiben vom 1. und 27. September 2004 hörte die Beklagte die Klägerin an im
Hinblick auf den möglichen Eintritt von Sperrzeiten hinsichtlich der Stellenangebote des
Arbeitgebers und der Anbieterin.
Darauf antwortete die Klägerin mit den Schreiben vom 20. und 29. September 2004 und
gab an, dass sie sich beim Arbeitgeber bereits im Juli 2004, sofort nach Erhalt des
Vermittlungsvorschlages telefonisch gemeldet und ein Vorstellungsgespräch für den 12.
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Vermittlungsvorschlages telefonisch gemeldet und ein Vorstellungsgespräch für den 12.
August 2004 vereinbart habe. Am 12. August 2004 habe sie sich dann persönlich
vorgestellt. Dabei habe man ihr mitgeteilt, dass die Tätigkeit im Schichtdienst mit
Nachtschichten auszuüben sei. Sie habe dazu geäußert, dass sie Nachtdiensten nicht
gewachsen sei und sich vor einer abschließenden Entscheidung mit ihrem Arbeitsberater
besprechen wolle. Das Gespräch am Folgetag mit dem Arbeitsberater habe für sie
ergeben, dass sie die Stelle nicht habe nehmen müssen.
Die Bewerbung und die Probearbeit für die Firma K sei sehr erfolgversprechend
verlaufen, weshalb sie sich sicher gewesen sei, die Stelle zu erhalten. Sie habe deshalb
die anderen Stellenangebote nicht mehr weiterverfolgt. Erst als sie am 8. September
2004 erfahren habe, dass die Stelle doch nicht besetzt würde, sei sie sofort zur
Anbieterin gefahren. Diese habe ihr mitgeteilt, dass die Stelle bereits besetzt sei.
Mit zwei Bescheiden vom 27. Oktober 2004 stellte die Beklagte den Eintritt einer
Sperrzeit vom 20. Juli bis 9. August 2004 im Hinblick auf das Stellenangebot des
Arbeitgebers und einer weiteren Sperrzeit für den Zeitraum vom 18. August bis 28.
September 2004 hinsichtlich des Vermittlungsvorschlages der Anbieterin fest. In diesen
Zeiten ruhe der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld. Trotz Belehrung habe die
Klägerin jeweils die Arbeit nicht angenommen. Eine Schichtdiensttätigkeit mit
Nachtschicht stelle keinen wichtigen Grund für eine Arbeitsablehnung dar. Im anderen
Falle habe sich die Klägerin zu spät beworben und damit das Zustandekommen eines
Beschäftigungsverhältnisses vereitelt, was einer Arbeitsablehnung gleich stehe. Wegen
des Eintritts der ersten Sperrzeit habe die Klägerin zu Unrecht Arbeitslosengeld erhalten
und einen Betrag von 277,83 EUR und wegen der zweiten Sperrzeit 555,66 EUR zu
erstatten.
Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 1. November 2004. Sie
sei am 12. August 2004 15:00 Uhr beim Arbeitgeber gewesen, habe sich jedoch im
Hinblick auf den Nachtdienst noch einmal beraten lassen wollen. Am 13. August 2004
habe sie mit dem Arbeitsvermittler gesprochen. Dieser habe festgestellt, dass die
Nachtdienste im Inserat nicht vermerkt gewesen seien. Bei Kenntnis dieses Umstandes
hätte man das Angebot für die Klägerin nicht genommen. Wegen der weiteren
Einzelheiten der Widerspruchsbegründung wird auf die Verwaltungsakte Bezug
genommen.
Die Widersprüche wies die Beklagte durch die Widerspruchsbescheide vom 3. Februar
2005 zurück. Beide Stellen seien der Klägerin zumutbar gewesen. In beiden Fällen habe
sich die Klägerin jeweils zu spät beim Arbeitgeber gemeldet. Den Vorstellungstermin am
12. August 2004 habe die Klägerin nicht wahrgenommen, sie habe vielmehr am 13.
August 2004 in der Agentur für Arbeit erklärt, dass das Ergebnis der Bewerbung noch
offen sei. Die Klägerin sei jeweils über die Rechtsfolgen belehrt worden. Die Aussicht auf
eine andere Stelle rechtfertige nicht, andere Angebote abzulehnen. Die Aufhebung der
Leistungsbewilligung stütze sich auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Drittes Buch
Sozialgesetzbuch-Arbeitsförderung (SGB III).
Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer Klage vom 28. Februar 2005 (Zugang bei
Gericht am 1. März 2005) weiter. Sie wäre zu ihren diversem psychischen Problemen
(bedingt durch Scheidung und die elterliche Sorge für die pubertierenden Söhne) hinzu
einer weiteren Belastung durch Nachtdienste nicht gewachsen. Sie hat das Attest ihrer
Hausärztin K vom 10. Mai 2005 vorgelegt. Außerdem sei ihr die Vergütung durch den
Arbeitgeber zu niedrig erschienen.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober 2004 in der Gestalt der
Widerspruchsbescheide vom 3. Februar 2005 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat im vorbereitenden Verfahren den Befundbericht der Hausärztin der
Klägerin vom 3. August 2005 eingeholt. Wegen der Ergebnisse der Beweiserhebungen
wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten
vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der
Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die
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Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die
Schriftsätze und den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Beklagte durfte die Bewilligung von Arbeitslosengeld nur für den Zeitraum vom 18.
August bis 7. September 2004 aufheben. Insoweit ist die Entscheidung der Beklagten
rechtmäßig. Allerdings ist beginnend am 20. Juli 2004 keine Sperrzeit eingetreten, die
am 18. August 2004 beginnende Sperrzeit durfte deshalb wegen § 144 Abs. 4 Satz 1 Nr.
1 lit. c SGB III nur einen Umfang von drei Wochen haben. Insoweit verletzen die
Bescheide der Beklagten Rechte der Klägerin und waren deshalb insoweit aufzuheben.
Gemäß § 144 Abs. 1 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer einer
Sperrzeit, wenn der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür
einen wichtigen Grund zu haben (Satz 1). versicherungswidriges Verhalten liegt vor,
wenn der Arbeitslose trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine von der Agentur für
Arbeit unter Benennung des Arbeitgebers und der Art der Tätigkeit angebotene
Beschäftigung nicht annimmt oder nicht antritt oder die Anbahnung eines solchen
Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere das Zustandekommen eines
Vorstellungsgespräches, durch sein Verhalten verhindert (Sperrzeit bei
Arbeitsablehnung – Satz 2 Nr. 2).
Ein wichtiger Grund für die Ablehnung einer Arbeit kann darin bestehen, dass es sich
nicht um eine im Sinne des § 121 SGB III zumutbare Beschäftigung gehandelt hat. Nach
§ 121 Abs. 1 SGB III sind einem Arbeitslosen alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden
Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der
Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen. Nach Absatz 2 der Vorschrift
ist eine Beschäftigung einem Arbeitslosen aus allgemeinen Gründen insbesondere nicht
zumutbar, wenn die Beschäftigung gegen gesetzliche, tarifliche oder in
Betriebsvereinbarungen festgelegte Bestimmungen über Arbeitsbedingungen oder
gegen Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstößt. Eine Beschäftigung ist einem
Arbeitslosen aus personenbezogenen Gründen insbesondere nicht zumutbar, wenn das
daraus erzielbare Arbeitsentgelt erheblich niedriger ist als das der Bemessung des
Arbeitslosengeldes zu Grunde liegende Arbeitsentgelt (Abs. 3 Satz 1). Vom siebten
Monat der Arbeitslosigkeit an ist dem Arbeitslosen eine Beschäftigung nur dann nicht
zumutbar, wenn das daraus erzielbare Nettoeinkommen unter Berücksichtigung der mit
der Beschäftigung zusammenhängenden Aufwendungen niedriger ist als das
Arbeitslosengeld (Abs. 3 Satz 3). Eine Beschäftigung ist nicht schon deshalb
unzumutbar, weil sie befristet ist, vorübergehend eine getrennte Haushaltsführung
erfordert oder nicht zum Kreis der Beschäftigungen gehört, für die der Arbeitnehmer
ausgebildet ist oder die er bisher ausgeübt hat (Abs. 5).
Nach Auffassung der Kammer war die Beschäftigung beim Arbeitgeber der Klägerin aus
allgemeinen Gründen nicht zumutbar weil sie gegen gesetzliche Bestimmungen
verstoßen hätte (§ 121 Abs. 2 SGB III). Insbesondere war die vorgesehene
Arbeitsentgeltregelung im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig. Der Arbeitgeber
kann sich nicht auf den Tarifvertrag berufen, weil dieser bei geltungserhaltender
Auslegung eine günstigere Vergütung vorsah. Der Tarifvertrag hätte anderenfalls gegen
elementare Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde
liegen und in § 138 Abs. 1 BGB gesetzlichen Ausdruck finden, verstoßen und wäre
insofern unwirksam gewesen.
Die Vereinbarung über das Arbeitsentgelt gehört zu den essenziellen Bestandteilen des
Arbeitsvertrages, so dass eine Sittenwidrigkeit der Entgeltregelung auf die Zumutbarkeit
des Stellenangebotes insgesamt durchschlägt. Die Beklagte ist als Träger der
Sozialverwaltung dem Gesetz verpflichtet. Es ist ihr deshalb verwehrt, Arbeitslosen
Stellenangebote zu unterbreiten, die in wesentlicher Hinsicht gegen gesetzliche
Vorgaben verstoßen. Noch weniger darf sie die Realisierung solcher
Vermittlungsvorschläge mittels der ihr eingeräumten Sanktionsbefugnisse durchsetzen.
Die Klägerin kann deshalb von der Beklagten nicht darauf verwiesen werden, eine
Beschäftigung mit einer unwirksamen Arbeitsentgeltregelung zunächst aufzunehmen
und sodann einen rechtmäßigen Lohn arbeitsgerichtlich durchzusetzen.
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Regelung gegen die guten Sitten verstößt, sind
nach zutreffender herrschender Meinung und ständiger höchstrichterlicher
Rechtsprechung die wesentlichen sich aus dem Grundgesetz und der gesetzlichen
Systematik ergebenden Prinzipien zu berücksichtigen (BVerfG Beschluss vom
19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89). Die Gerichte müssen gegebenenfalls im
Rahmen der Generalklausel des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen, wenn der
Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich
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Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich
offensichtlich unangemessen ist. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung
der Privatautonomie und des Sozialstaatsprinzips kommt insbesondere bei gestörter
Vertragsparität in Betracht (BVerfG ebd.). "Das ist bei Abschluss von Arbeitsverträgen
typischerweise der Fall. In einer solchen Lage sind die objektiven Grundentscheidungen
der Verfassung im Grundrechtsabschnitt und im Sozialstaatsgebot durch gesetzliche
Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, zu
verwirklichen." (BVerfG Urteil vom 28.01.1992 Az. 1 BvR 1025/82 – BVerfGE 85, 191-214)
Dieser Funktion dient die Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB. Auch Tarifverträge
müssen sich an den in § 138 Abs. 1 BGB zur Geltung kommenden elementaren
Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen und
sich in Art. 1 (Würde des Menschen), Art. 2 Abs. 1 (freie Entfaltung der Persönlichkeit),
Art. 20 Abs. 1 (Sozialstaatsgebot) Grundgesetz manifestieren, messen lassen. (BAG
Urteil vom 24. März 2004, Az. 56 AZR 303/03, allerdings ohne den Verweis auf Art. 1 GG)
Die durch Art. 9 GG gewährleistete Tariffreiheit schützt keine tarifvertragliche Regelung,
die den Rahmen, den Art. 1 GG und das Sozialstaatsgebot ziehen, verlässt. Die
Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot stellen für unsere Verfassung unverzichtbare
Vorgaben dar, wie sich aus dem besonderen Schutz durch Art. 79 Abs. 3 GG
(Ewigkeitsklausel) ergibt. Sie sind für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung
schlechthin konstituierend. Diese Wertungen sind bei der Anwendung von § 138 Abs. 1
BGB zwingend zu berücksichtigen. An ihnen müssen sich auch die Tarifverträge messen
und ggf. begrenzen lassen.
Dabei respektiert das Gericht, dass jede Überprüfung tarifvertraglicher Arbeitsentgelte
zu beachten hat, dass nach Art. 9 Abs. 3 GG und – dieses Grundrecht umsetzend – §§ 1
und 8 des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11.
Januar 1952 (BGBl. I S. 17) und nach Tarifvertragsgesetz (TVG) die Regelung von
Entgelten grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien durch
Tarifverträge erfolgen soll. Den tarifvertraglich ausgehandelten Löhnen und Gehältern
wird von Verfassungs und Gesetzes wegen im Hinblick auf dieses Verfahren der Bildung
tariflicher Normen eine Richtigkeitsgewähr eingeräumt. Sowohl das Grundgesetz als
auch der Gesetzgeber gehen davon aus, dass die in frei ausgehandelten Tarifverträgen
vereinbarten Arbeitsentgelte den Besonderheiten der Branche Rechnung tragen und
grundsätzlich wirksam sind. (BAG ebd.) Die gerichtliche Überprüfung von Tarifverträgen
hat deshalb strenge Grenzen einzuhalten. Insbesondere hat das Gericht nicht eigene
Angemessenheitserwägungen an die Stelle der Tarifvertragsparteien zu setzen. Deshalb
dürfen die Gerichte nur überprüfen, ob die Regelungen des Tarifvertrages die Grenzen
höherrangigen Rechts, also insbesondere die angesprochenen Grenzen der für unsere
Rechtsordnung wesentlichen Wertentscheidungen wahren. Dabei sind die Verträge
weitestgehend bestandserhaltend rechtskonform, insbesondere verfassungskonform
auszulegen.
Wesentliche Kriterien sind für die Gestaltung von Arbeitsentgelten Art. 1, 2 Abs. 1, 20
Abs. 1 GG sowie Art. 4 Nr. 1 der Europäischen Sozialcharta (EuSC – in der
Bundesrepublik in Kraft seit 26. Februar 1965). Nach Art. 4 Nr. 1 EuSC erkennen die
Vertragsstaaten das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt an, welches
ausreicht, um diesen und deren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu
sichern. Die Vorschrift ist einfaches Bundesrecht auf Gesetzes-, nicht auf
Verfassungsebene. Sie räumt Bürgern zwar keine subjektiven Rechte ein (BAG Urteil
vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03), ist allerdings als Auslegungsmaßstab bei
Wertentscheidungen, wie denen des § 138 Abs. 1 BGB heranzuziehen. Ein nach
Anschauung aller billig und gerecht denkender Menschen auffälliges Missverhältnis
zwischen Arbeitsentgelt und Arbeitsleistung begründet unter Anwendung dieser
grundgesetzlichen und staatsvertraglichen Vorgaben den Vorwurf der Sittenwidrigkeit
(BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03 und Urteil vom 23.05.2001, Az. 5 AZR
527/99). Auch Tarifverträge sind an diesen Maßstäben zu messen, wiewohl insofern nicht
abschließend geklärt ist, ob § 138 BGB unmittelbar auf Tarifverträge anzuwenden ist
(BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03), denn in ihnen kommen elementare
Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen, zur
Geltung (BAG ebd.).
Dies äußert sich auch darin, dass der Gesetzgeber mit § 291 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB
einen Straftatbestand geschaffen hat, der für sittenwidrige Lohnvereinbarungen gilt (vgl.
BAG Urteil vom 23.05.2001, Az. 5 AZR 527/99). Damit bringt der Gesetzgeber ein so
deutliches Unwerturteil für sittenwidrige Lohnvereinbarungen zu Lasten der
Arbeitnehmer zum Ausdruck, dass die darin enthaltene Wertung auch bei anderen
Regelungskomplexen unserer Rechtsordnung Beachtung erheischt. Zwar können
tarifvertragliche Lohnvereinbarungen selbst nicht den strafrechtlichen
Lohnwuchertatbestand erfüllen, weil ihnen der Zwangscharakter fehlt (niemand zwingt
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Lohnwuchertatbestand erfüllen, weil ihnen der Zwangscharakter fehlt (niemand zwingt
eine Gewerkschaft zu einem sittenwidrigen Tariflohn). Jedoch wird auch in der Wertung
des Strafgesetzgebers deutlich, dass er Lohnvereinbarungen, die gegen elementare
Gerechtigkeitsanforderungen verstoßen, für unzulässig hält. Wäre ein bestimmtes
Arbeitsentgelt ohne Tarifgeltung als Wucherlohn zu bewerten, trifft es auch dann das
Unwerturteil unserer Verfassungs- und Rechtsordnung, wenn es tarifliche "Weihe" erlangt
haben sollte. Solch ein Tariflohn erfüllt dann zwar nicht den Straftatbestand, kann aber
dennoch wegen der Wertung des § 138 Abs. 1 BGB und der verfassungsrechtlichen
Vorgaben keine Geltung beanspruchen.
Mit dem Arbeitsgericht Bremen (Urteil vom 30.8.2000, Az. 5 Ca 5152, 5198/00 = ArbuR
2001, 231) und dem Sozialgericht Fulda (Urteil vom 17.03.2004, Az. S 1 AL 77/03 = info
also 2004, 217-219) ist die Kammer der Auffassung, dass das auffällige Missverhältnis,
das die Sittenwidrigkeit begründet, auch anzunehmen ist, wenn der angebotene Lohn
bei Vollzeitarbeit unter dem Sozialhilfeniveau für eine volljährige alleinstehende Person
ohne Unterhaltsverpflichtungen, bei sozialhilferechtlich angemessener Unterkunft und
bei uneingeschränkter Erwerbsfähigkeit liegt.
Dies ergibt sich aus den Vorgaben von Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 des Grundgesetzes
sowie Art. 4 Nr. 1 EuSC. Danach respektiert die bundesdeutsche Verfassungs- und
Rechtsordnung die Würde des Einzelnen und das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit. Daraus ergibt sich mit dem Sozialstaatsgebot, dass auch am
Arbeitsmarkt die Grenzen einzuhalten sind, die im Gegensatz zur völlig freien
Marktwirtschaft eine der Menschenwürde angemessene Existenz des abhängig
Beschäftigten gewährleisten müssen. Unsere Verfassungs- und Rechtsordnung toleriert
keine Arbeitsvergütung, die dem Arbeitnehmer bei vollschichtiger Beschäftigung und
durchschnittlicher Arbeitsleistung die Absicherung der eigenen Existenz nicht erlaubt.
Überdies gilt: das Sozialstaatsgebot – wegen des in ihm enthaltenen Solidargedankens –
erwartet vom Einzelnen auch, dass er selbst für seinen Unterhalt sorgt und sich von
staatlichen Transferleistungen unabhängig macht, sofern er dazu insbesondere
gesundheitlich in der Lage ist. Korrelat dieser Erwartung muss selbstredend sein, dass
durchschnittliche Arbeitsleistung bei voller Beschäftigung zur Sicherung des eigenen
Unterhaltes ausreichend sein muss. Unter durchschnittlicher Arbeitsleistung versteht die
Kammer dabei die Leistung, die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer am konkreten
Arbeitsplatz (nach entsprechender Einarbeitung und ohne Vertragsverletzung) erbringen
würde.
Aus dem Würdegebot und dem Sozialstaatsprinzip folgt dabei, dass Maßstab nicht das
pure Überleben ist (BVerfG Beschluss vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05), sondern
dass das soziokulturelle Existenzminimum gesichert sein muss. Das so verstandene
Existenzminimum hat zu gewährleisten, dass auch wesentliche persönliche, familiäre,
soziale und kulturelle Bedürfnisse auf bescheidenem Niveau befriedigt werden und auf
dem Niveau dieses Existenzminimums lebende Personen in der Umgebung von nicht
leistungsbeziehenden Mitmenschen ähnlich wie diese leben können (BVerwG Urteil vom
11.11.1970, Az. V C 32/70).
Der Preis der Ware Arbeitskraft, der als Arbeitsentgelt durch den Arbeitgeber zu leisten
ist, darf unter diesen verfassungsrechtlichen und staatsvertraglichen Prämissen
keinesfalls unter das soziokulturelle Existenzminimum des Arbeitnehmers sinken, wenn
dieser eine durchschnittliche Arbeitsleistung vollschichtig erbringt. Inwieweit der Markt
und die Produktivität eines Betriebes oder Wirtschaftsbereiches im Vergleich zum
übrigen Markt etwa angesichts einer extremen, strukturellen Massenarbeitslosigkeit eine
andere Preisgestaltung zulassen oder zu gebieten scheinen, ist angesichts der
Wertentscheidung des Grundgesetzes für den Sozialstaat, aber auch des
einfachgesetzlichen Gesetzgebers, wie sie sich in der Ratifizierung der EuSC
widerspiegelt, irrelevant. Die Würde des Einzelnen würde verletzt, könnte dieser aus
einer durchschnittlichen vollschichtigen Arbeitsleistung gerade sein physisches
Überleben sichern, oder selbst das nicht. Er würde in seinem Wert unzulässig auf ein
pures Marktobjekt reduziert, weil ausschließlich die bloße Erhaltung seiner Arbeitskraft
oder noch weniger: der bloße durch geringe Nachfrage und übergroßes Angebot
bestimmte Preis, nicht aber sein Wert entscheidendes Entgeltkriterium wäre. Sein
Menschsein, sein Subjektsein, würde völlig bedeutungslos.
Daher kann die von der bundesdeutschen Verfassungs- und Rechtsordnung
vorgegebene unterste Grenze für die Entlohnung, die auch die Tarifparteien bindet, nicht
die Grenze zum "Hungerlohn" sein. Insoweit vermag die Kammer dem Urteil des BAG
vom 24. März 2004 (Az. 5 AZR 303/03) nicht zu folgen. Der "Hungerlohn" gewährleistet
schon nicht mehr die physische Existenz, sichert nicht mehr das pure Überleben. Selbst
ein Arbeitsentgelt, das gerade noch die physische Existenz, die ganz elementaren
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ein Arbeitsentgelt, das gerade noch die physische Existenz, die ganz elementaren
materiellen Bedürfnisse (Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung) auf essentiellem Niveau
sichert, muss unter den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben als
unzureichend gelten. Das Bundesarbeitsgericht relativiert den von ihm verwendeten
Begriff des "Hungerlohns" dadurch, dass es für eine entsprechende Bewertung die
"Berücksichtigung aller Umstände des räumlichen, fachlichen und persönlichen
Geltungsbereichs des Tarifvertrags sowie der im Geltungsbereich des Tarifvertrags zu
verrichtenden Tätigkeiten" verlangt. Der Begriff verliert dadurch nicht nur jede Klarheit.
Das BAG verkennt dabei, soweit es für die Feststellung eines auffälligen
Missverhältnisses in seiner Entscheidung maßgeblich darauf abstellen will, dass es auf
den Wert der Arbeitsleistung ankomme, die grundgesetzliche Grenzziehung. Diese geht
gerade davon aus, dass die Arbeitsleistung für den Einzelnen einen durch unsere
Rechtsordnung vorgegebenen Mindestwert hat. Dieser entspricht bei vollschichtiger
Tätigkeit einer sozialstaatlich-menschenwürdigen Existenzsicherung. An dieser Grenze
hört nach den Vorgaben des Grundgesetzes die marktgesteuerte Preisbildung auf. Mit
diesem Gedanken beschäftigt sich das BAG nicht ansatzweise.
Die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums hängt von den allgemeinen
wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten
Mindestbedarf ab. Diesen einzuschätzen ist Aufgabe des Gesetzgebers (BVerfG
Beschluss vom 25.09.1992, Az. 2 BvL 5/91 – BVerfGE 87, 153). Soweit der Gesetzgeber
jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem
mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu
decken hat, ist an diesen anzuknüpfen (BVerfG ebd. und BVerfG Beschluss vom
29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 124 – BVerfGE 82, 60). Der
Gesetzgeber hat mit dem BSHG (noch wirksam im hier maßgeblichen Zeitraum),
nunmehr durch die Bestimmungen des SGB II und SGB XII den soziokulturellen
Mindestbedarf bestimmt und dafür einen Regelbedarf zur Grundlage der Bestimmung
des individuellen Existenzminimums vorgesehen. Gesetzliche Funktion des
sozialhilferechtlichen Regelbedarfs ist, in typisierender Weise den notwendigen
Lebensunterhalt zu garantieren, dessen der Einzelne zur Führung eines
menschenwürdigen Lebens bedarf (BVerfG Beschluss vom 26.04.1988 Az. 1 BvL 84/86 –
BVerfGE 78, 104).
Andere gesetzliche Regelungen, die eine Anknüpfung für die hier zu entscheidende
arbeitsrechtliche Frage erlauben, bestehen nicht. Insbesondere bestehen keine
arbeitsrechtlichen Vorgaben, etwa im Sinne gesetzlich geregelter Mindestlöhne oder
durch Allgemeinverbindlicherklärung maßgebende Tarifvorgaben (diese bestehen nur in
vom vorliegenden Fall nicht betroffenen Wirtschaftsbereichen). Es scheiden aber auch
die steuerrechtlichen (Steuerfreibetrag), unterhaltsrechtlichen (Selbstbehalt),
prozessrechtlichen (Prozesskostenhilfe, Pfändungsfreigrenzen) oder anderen
sozialrechtlichen Existenzschutzregelungen als Maßstab aus, weil sie über die
Betrachtung der Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums hinaus auch
noch andere Regelungszwecke verfolgen.
Der Rückgriff auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum für arbeitsrechtliche
Bewertungen kann auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil den Betroffenen durch die
Sozialhilfe bzw. nunmehr durch die Grundsicherung das Existenzminimum, ggf. andere
Einkünfte (z. B. Arbeitsentgelt) ergänzend, gewährleistet wird (so angedeutet BAG Urt.
vom 24. März 2004). Eine solche Argumentation verkennte die doppelte rechtliche
Funktion der Bestimmung der Sozialhilfe durch den Gesetzgeber. Diese besteht zum
einen in der Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat dadurch, dass über das
BSHG bzw. SGB II und SGB XII durch staatliche Gewährung unter Betrachtung des
tatsächlichen Zuflusses von Einkünften ohne Berücksichtigung bestehender Ansprüche
das jeweils aktuelle Existenzminimum gesichert wird. Zum anderen bestimmt der
Gesetzgeber mit der Sozialhilfe/Grundsicherung den Maßstab für die Bestimmung des
soziokulturellen Existenzminimums als sozialstaatlich-menschenwürdeorientierten
Grenzwert, der für alle Rechtsgebiete Bedeutung hat (vgl. BVerfG Beschluss vom
29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 124 – BVerfGE 82, 60 und
BVerfG Beschluss vom 25.09.1992, Az. 2 BvL 5/91 – BVerfGE 87, 153). Dass beide
rechtlichen Funktionen eng miteinander zusammenhängen, darf nicht dazu führen, ihre
rechtliche Funktion nicht zu differenzieren. Die soziale Schutzfunktion der
Sozialhilfe/Grundsicherung zielt genau auf die Gewährleistung des soziokulturellen
Existenzminimums in jeder Lebenslage des Betroffenen, die den Rückgriff auf die
staatliche Unterstützung fordert. Gerade deshalb ist sie als Maßstab der Einhaltung der
verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG geeignet. Mit ihr hat
der Gesetzgeber die auch für die arbeitsrechtliche Bewertung des soziokulturellen
Existenzminimums erforderlichen Bewertungen vorgenommen.
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Die Anspruchsfunktion mit der Maßstabsfunktion zu verwechseln bedeutet in der
Konsequenz auch die Subsidiarität des Sozialhilfeanspruches bei der Klärung vorrangiger
Ansprüche außer Acht zu lassen. So gehen die Ansprüche des Arbeitnehmers gegen
den Arbeitgeber, der seine arbeitsvertraglichen Zahlungspflichten nicht erfüllt und soweit
deshalb Sozialleistungen erforderlich werden auf den Leistungsträger über (§ 115 Abs. 1
SGB X). Zahlt der Arbeitgeber einen Wucherlohn und wird deshalb der Arbeitnehmer
grundsicherungsbedürftig, hat der Leistungsträger – im Umfang der gezahlten
Sozialleistung – den Arbeitgeber notfalls arbeitsgerichtlich in Anspruch zu nehmen. Es
handelt sich dann nicht um einen Wucherlohn, weil der Arbeitnehmer ergänzende
Sozialleistungen bezieht, sondern weil der Lohn gegen elementare Werte der
Verfassungs- und Rechtsordnung verstößt. Der Bezug der Grundsicherungsleistung ist
dann bei vollschichtiger Beschäftigung nur Indiz, nicht Tatbestandsvoraussetzung der
arbeitsrechtlichen Einwendung. Den Anspruch auf Sozialhilfe der Klärung des
Arbeitsentgelts entgegen zu halten, verdrehte schlicht die gesetzliche Rangfolge der
Ansprüche.
Die unterhaltssichernden Leistungen der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) und
auch der Grundsicherung nach SGB II und SGB XII sind nach ihrer bisherigen Struktur
und Zielsetzung ausschließlich Leistungen an Hilfebedürftige mit dem alleinigen Zweck
der Absicherung des soziokulturellen Existenzminimums, bis der Betroffene
insbesondere durch Erwerbstätigkeit wieder für sich selbst sorgen kann. Dies gilt für den
gesamten Leistungsumfang unterhaltssichernder Leistungen, soweit die Freibeträge
ausgeblendet werden, die der Motivation zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dienen.
Insoweit sind die Leistungen nicht (verdeckte) Strukturförderungsmaßnahmen für
Betriebe oder Wirtschaftsbereiche, die aufgrund niedriger Arbeitsproduktivität und/oder
ungünstiger Marktverhältnisse das vom Grundgesetz vorausgesetzte existenzsichernde
und – bezogen auf die Arbeitskraft – werterhaltende Entgelt zumindest teilweise
substituieren.
Dies folgt insbesondere aus dem Abstandsgebot (§ 22 Abs. 4 BSHG, nunmehr § 28 Abs.
4 SGB XII, an welches auch der Regelsatz des SGB II anknüpft). Der Gesetzgeber geht
mit dieser Vorgabe ausdrücklich davon aus, dass die Nettoarbeitsentgelte der unteren
Lohngruppen bei vollschichtiger Arbeit die sozialhilferechtlichen Durchschnittsleistungen
für Familien mit drei Kindern (!) sogar unter Berücksichtigung des Erwerbstätigen-
Freibetrages nach § 82 Abs. 3 SGB XII übersteigen. Daher kann angesichts des
gesamten Regelungssystems der Sozialhilfe/Grundsicherung einschließlich des
Abstandsgebotes nicht ansatzweise angenommen werden, der Gesetzgeber gehe davon
aus, dass eine durchschnittliche vollschichtige Erwerbstätigkeit selbst in Beschäftigungen
der unteren Lohngruppen nicht die eigene Existenz des Arbeitnehmers (also ohne
halbschichtig tätigen Ehegatten und drei Kinder) sichern könne. Nur daran aber orientiert
sich die Kammer.
Von der hier vorgenommenen Argumentation wird gerade berücksichtigt, dass unter
Umständen bei erheblichen Unterhaltsverpflichtungen, bei nur
arbeitszeiteingeschränkter Erwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor, Arbeitslosigkeit oder
aber bei ausbleibenden Zahlungen trotz bestehender Ansprüche eine tatsächliche
Existenzsicherung nicht erfolgen muss und staatliche Transferleistungen beansprucht
werden können. Dass bei schlicht unzureichendem Mittelzufluss (ungeachtet etwa der
arbeits- oder familienrechtlichen Anspruchslage) zum Zwecke der Existenzsicherung
Sozialleistungen erbracht werden, lässt jedoch keinerlei Schluss gegen eine
verfassungsrechtliche absolute Untergrenze für die vertragliche oder tarifliche
Entgeltgestaltung zu. Im Gegenteil: Soweit der Gesetzgeber (gerade zur Förderung
bestimmter Wirtschaftsstrukturen) nicht ausdrücklich anderes gestattet, sind
Vereinbarungen, die keine ausreichende Existenzsicherung für den Arbeitnehmer bei
Vollzeitbeschäftigung erlauben, als unwirksame Verträge zu Lasten Dritter, nämlich der
Solidargemeinschaft des freiheitlichen Sozialstaates, zu behandeln.
Selbstverständlich ist der Gesetzgeber frei, durch verschiedene Maßnahmen im arbeits-,
sozial- oder auch steuerrechtlichen Bereich (Kombilohn, Magdeburger Modell,
Mindestlohnfestlegungen usw.) unmittelbar Grenzen zu ziehen, durch welche der
Rückgriff auf den Maßstab der Grundsicherung überflüssig würde. Diese Regelungen
muss er jedoch ausdrücklich vornehmen. Sie fehlen bisher. Sollte er einen Mindestlohn
festlegen, der unter der bisherigen, durch das sozialhilferechtlich festgelegte
Existenzminimum geregelten Grenze liegt, träfe er damit eine Entscheidung
dahingehend, dass die Löhne hinsichtlich der entsprechenden Differenz staatlich
subventioniert würden. Auch dies wäre sicherlich zulässig, setzt aber auch die
ausdrückliche Entscheidung durch den Gesetzgeber voraus.
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Der hier vertretenen Ansicht kann nicht entgegen gehalten werden, dass die
Sozialhilfe/Grundsicherung in ihrer Höhe von den Mietkosten und den
Unterhaltsverpflichtungen abhängt (so der argumentative Ansatz des BAG vom 24. März
2004). Da die Kammer ausschließlich auf die Existenzsicherung nur des Erwerbstätigen
selbst und auf sozialhilferechtlich angemessene Mietkosten abstellt und auch
Teilzeitarbeit und sonstige Besonderheiten ausblendet, die eine durchschnittliche
Arbeitsleistung verhindern, greift eine solche Argumentation ins Leere. Insofern sei
darauf hingewiesen, dass bereits das ArbG Bremen (Urteil vom 30. August 2000, Az. 5
Ca 5152, 5198/00) diese Prämissen aufgestellt hatte, die vom BAG dann allerdings
schlicht ignoriert wurden, obwohl dieses ausdrücklich gerade gegen die Entscheidung
des ArbG Bremen argumentiert.
Zur Beurteilung der Übereinstimmung einer arbeitsvertraglichen oder tariflichen
Arbeitsentgeltregelung ist mangels anderer gesetzgeberischer Vorgaben deshalb auf
den sozialhilferechtlichen Regelbedarf abzustellen.
Weil es um den untersten verfassungsrechtlich zulässigen Grenzwert geht und weil der
grundgesetzliche Schutz der Tarifautonomie eigene Angemessenheitserwägungen des
Gerichts ausschließt, legt die Kammer einen strengen Maßstab an die Auslegung der
vom Gesetzgeber für die Bestimmung des Existenzminimums vorgegebenen
Regelungen an.
Deshalb lässt die Kammer das in § 22 Abs. 4 BSHG, nunmehr § 28 Abs. 4 SGB XII
geregelte Abstandsgebot (abweichend von ArbG Bremen Urteil vom 30. August 2000,
Az. 5 Ca 5152, 5198/00), unberücksichtigt. Nach diesem muss die Regelsatzbemessung
gewährleisten, dass bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern die
Regelsätze zusammen mit Durchschnittsleistungen nach §§ 29 und 31 SGB XII und unter
Berücksichtigung eines durchschnittlich abzusetzenden Betrages nach § 82 Abs. 3 SGB
XII unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer
Lohngruppen bleiben. Damit will der Gesetzgeber einen Abstand zwischen Sozialhilfe und
unteren Einkommen gewährleisten. Berücksichtigt man die verfassungsrechtliche
Funktion der Sozialhilfe als Maßstab des soziokulturellen Existenzminimums folgt daraus
auch die Vorstellung des Gesetzgebers, dass untere Lohn- und Gehaltsgruppen immer
noch einen ausreichenden Abstand vom Existenzminimum einhalten. Das
Abstandsgebot ist deshalb nicht nur an den Verordnungsgeber der Regelsätze sondern
wegen der besonderen Intention des Gesetzgebers auch an die zur Entgelt-Preisbildung
Berufenen adressiert. Da das Abstandsgebot keinen Regelungsgehalt hinsichtlich der
Bestimmung der absoluten Höhe des Existenzminimums enthält und hier ein strenger
Maßstab anzulegen, darf es bei der hier vorzunehmenden Betrachtung jedoch nicht
berücksichtigt werden.
Die Kammer lässt (abweichend von ArbG Bremen a. a. O. und Spindler in info also 2003,
56, 59) weiter außer Betracht, dass mit § 76 Abs. 2 a BSHG bzw. nunmehr § 82 Abs. 3
SGB XII und § 30 SGB II ein Freibetrag für Erwerbstätige auch mit dem Ziel der Motivation
der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gewährt wird. Zu den zwei Funktionen des
Freibetrages nach § 76 Abs. 2 a BSHG hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt,
"dass der abzusetzende Betrag zum einen der Deckung eines durch Erwerbsarbeit
entstehenden zusätzlichen Bedarfs und zum anderen als Anreiz zu Erwerbsarbeit dient"
(BVerwG Urteil vom 21.12.2001, Az. 5 C 27/00). Es handele sich nicht mehr (im Vergleich
zum früheren Recht) um eine Mehrbedarfsleistung, sondern um einen
"Einkommensabsetzungsbetrag". Das BVerwG hielt einen Einkommensfreibetrag für
angemessen, der ausgehend von einem Achtel des Regelsatzes (Grundfreibetrag)
zuzüglich zehn Prozent des übersteigenden Einkommens (Steigerungsbetrag) und der
Gesamtsumme nach begrenzt auf höchstens 1/3 des Regelsatzes zu bestimmen war
(BVerwG ebd.). Die Neuregelungen in SGB II und SGB XII räumen deutlich großzügigere
Freibeträge ein. Die Kammer berücksichtigt, weil der gesetzgeberische Zweck eines
Anreizes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht auf die Sicherstellung des
Existenzminimums abzielt, nur den angemessenen Anteil des Freibetrages, der
pauschal erhöhte Aufwendungen durch die Erwerbstätigkeit, soweit sie nicht bereits
durch andere Freibeträge berücksichtigt werden, ausgleichen soll.
Bei dem Teil des Absetzungsbetrages, der dem Ausgleich des durch Erwerbsarbeit
entstehenden zusätzlichen Bedarfs dienen soll, ist jedoch zu beachten, dass die mit der
Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben bereits nach § 76 Abs.
2 Nr. 4 BSHG abzusetzen waren. "Da die Aufzählung solcher Ausgaben in § 3 Abs. 4 der
Verordnung zur Durchführung des § 76 BSHG nicht abschließend ist ("vor allem"), sind
bereits nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG eigentlich alle notwendigen Aufwendungen wegen
des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs abzusetzen. Deshalb
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des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs abzusetzen. Deshalb
verbleiben für den Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG nur diejenigen
erwerbsbedingten (kleineren) Mehraufwendungen, deren Einzelnachweis
unverhältnismäßig aufwändig wäre". (BVerwG Urteil vom 21.12.2001, Az. 5 C 27/00).
Nach der Methode der Ermittlung des Freibetrages, wie sie vom BVerwG ausdrücklich
bestätigt wurde, entspricht der Grundfreibetrag von einem Achtel des Regelsatzes der
Abdeckung des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs und die
prozentual an der Höhe des Einkommens bemessene Erhöhung um den
Steigerungsbetrag der Anreizfunktion. Die Kammer wird deshalb den Steigerungsbetrag
(der deutlich höhere Anteil am Freibetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG) nicht
berücksichtigen. Sie wird den Grundfreibetrag zur Hälfte berücksichtigen, um
sicherzustellen, dass nur diejenigen erwerbsbedingten (kleineren) Mehraufwendungen,
deren Einzelnachweis unverhältnismäßig aufwändig wäre, in die Feststellung des
Existenzminimums bei Erwerbstätigkeit einfließen. Ein Sechzehntel des Regelsatzes
betrug 2004 in Berlin 18,50 Euro.
Bei Anwendung eines strengen Maßstabes geht die Kammer für 2004 von einem Betrag
des arbeitsrechtlich maßgeblichen Existenzminimums für alleinstehende Erwerbstätige
in Berlin in Höhe von 780,20 Euro aus.
Dieser setzt sich zusammen aus dem Regelsatz einschließlich typischer notwendiger
Einmalleistungen, den Kosten einer angemessenen Unterkunft (§ 12 BSHG) und den
vom Einkommen abzusetzenden Ausgaben, Aufwendungen wegen der Erwerbstätigkeit
und Beiträgen zu öffentlichen oder privaten Versicherungen, soweit die Beiträge nach
Grund und Höhe angemessen sind (§ 76 Abs. 2 Nr. 3, 4, Abs. 2 a BSHG). Nach der
Regelungsstruktur zählen zwar die von § 76 Abs. 2 Nr. 3, 4, Abs. 2 a BSHG erfassten
Positionen nicht zum notwendigen Lebensunterhalt nach § 12 BSHG. Sie reduzieren
jedoch das erzielbare Nettoeinkommen und dienen teilweise (§ 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG)
der Absicherung existenzieller Bedürfnisse des Erwerbstätigen. Sie müssen deshalb zum
notwendigen Lebensunterhalt hinzugerechnet werden, um einen Maßstab für das
arbeitsrechtlich maßgebliche minimale Nettoeinkommen zu ermitteln.
Der Regelsatz betrug 2004 (wie auch 2006) unter Berücksichtigung von einmaligen
Sozialhilfeleistungen 345,00 Euro. Dieser Wert ergibt sich aus dem Regelsatz des
Arbeitslosengeldes II, wie er 2004 bereits durch Bekanntmachung des SGB II im
Dezember 2003 verkündet war.
Für die Kosten der angemessenen Unterkunft berücksichtigt die Kammer einen Wert von
297,00 Euro. Dem liegt eine Nettokaltmiete von 197,10 Euro zugrunde. Dabei geht die
Kammer von der durchschnittlichen Wohnfläche eines Einpersonenhaushalts mit
geringstem verfügbarem Einkommen, wie sie im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung mitgeteilt wurde, aus: 45 m². Die Kammer berechnet die
Nettokaltmiete für eine solche Wohnfläche mit einem unteren Mittelwert für einfache
Wohnlagen in Berlin nach dem maßgeblichen Mietspiegel 2005 (4,38 Euro pro m²).
Nebenkosten und Heizung errechnet die Kammer nach den aktuellen
Orientierungswerten für das SGB II mit 2,22 Euro pro m² (Stand: 7. Juni 2005).
Damit geht die Kammer von der Unterkunft eines durchschnittlichen
Grundsicherungsempfängers aus und nicht von den Vorgaben für eine angemessene
Unterkunft nach den 2004 geltenden sozialhilferechtlichen Ausführungsvorschriften in
Berlin (vom 16. Juni 2003), die eine (um 10 Prozent überschreitbare – Nr. 2.2. der
Ausführungsvorschriften) Nettokaltmiete von immerhin ca. 225 Euro (Bruttowarmmiete:
335 Euro) noch als angemessen angesehen haben. Derzeit gilt in Berlin für
alleinstehende Berechtigte nach dem SGB II ein Richtwert von 360 Euro (warm), der ggf.
um 10 Prozent überschritten werden darf. Zwar hält es die Kammer für zulässig, die
Kosten für angemessenen Wohnraum an den zugelassenen Höchstwerten zu orientieren
(das Existenzminimum lag bei einem solchen Maßstab für 2004 bei 813 Euro (entspricht
Bruttolohn von 1060 Euro; 2006: 835 Euro Existenzminimum, 1100 Euro
Monatsbruttolohn, entspricht bei 38-Stunden-Woche einem Stundenlohn von 6,71
Euro)). So ist jedenfalls eine durchschnittliche Unterkunft eines Sozialhilfeberechtigten
für die Bestimmung des Grenzwertes das unterste Kriterium für die hier anzustellende
Betrachtung. Eine unterdurchschnittliche Unterkunft, wobei der Durchschnitt bereits auf
Sozialhilfeempfänger bezogen wird, kann nach Auffassung der Kammer nicht mehr
maßgeblich sein. Da die Kammer einen strengen Maßstab anlegt, soll der
Durchschnittswert und nicht die Richtwerte für angemessenen Wohnraum angewandt
werden. Das BVerfG hält sogar eine Orientierung am Durchschnitt für eher ungeeignet,
wenn dadurch in einer größeren Zahl von Fällen das Existenzminimum nicht gedeckt wird
(BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 117 –
BVerfGE 82, 60). Auch dies spricht dafür, dass die Kammer hier einen eher zu strengen
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BVerfGE 82, 60). Auch dies spricht dafür, dass die Kammer hier einen eher zu strengen
Maßstab anlegt.
Als mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Aufwendungen nach § 76
Abs. 2 Nr. 4 BSHG setzt die Kammer die BVG-Monatskarte mit 64 Euro (2006: 67 Euro)
und den Pauschalbetrag nach § 3 Abs. 5 der Verordnung zur Durchführung von § 76
BSHG für Arbeitsmittel von 5,20 Euro an.
Als Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen
im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG wertet die Kammer die auf das Einkommen
bezogenen förderungsfähigen Beiträge zur "Riester-Rente" mit 20,20 Euro und Beiträge
zu den existenzsichernden Versicherungen, die als angemessen zu betrachten sind
(Haftpflicht, Unfall, Hausrat) in Höhe von 30,30 Euro.
Die Abzugsfähigkeit der "Riesterrente" als ähnliche Einrichtung (Beiträge 2004 2 % des
Bruttoverdienstes: 20,20 Euro; 2006 3 %: 30,30 Euro) ergibt sich nach §§ 82 Abs. 2 Nr. 3
SGB XII und 11 Abs. 2 Nr. 4 SGB II unmittelbar aus dem Gesetz. Sie muss wegen der
Verkündung des SGB II im Dezember 2003 auch im Rahmen des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG
im Jahre 2004 als angemessen beurteilt werden.
Der Wert für die Beiträge der Versicherungen lehnt sich an § 3 Abs. 2 Arbeitslosenhilfe-
VO 2002 an, wonach ein Satz von 3 Prozent des Bruttoeinkommens als angemessen
galt. Die "Angemessenheit" von Vorsorgeaufwendungen beurteilt sich sowohl danach, für
welche Lebensrisiken (Grund) und in welchem Umfang (Höhe) Bezieher von Einkommen
knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze solche Aufwendungen zu tätigen pflegen (BVerwG
Urteil vom 27.06.20025 C 43/01 – BVerwGE 116, 342). Das BVerwG hat als durch die
Aufgabe der Sozialhilfe im Rahmen von § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG gerechtfertigt
angesehen, wenn die Versicherung im Ergebnis, wenn auch nicht notwendig zum Wegfall,
so doch wenigstens zu einer Entlastung der Sozialhilfe führt. Dabei hat das BVerwG es
genügen lassen, dass eine Verbesserung irgendwann eintreten kann (BVerwG ebd.).
Die Kammer berücksichtigt ausschließlich existenzsichernde Versicherungen, wie
Haftpflicht-, Unfall- und Hausratversicherung, die die Absicherung existenzieller Risiken,
insbesondere auch im Hinblick auf die Risiken der Erwerbstätigkeit, und der
hauswirtschaftlichen Absicherung (Hausrat) dienen und auch bislang dem Grunde nach
abzugsfähig erschienen. In diesem Betrag mag sich auch der Beitrag für eine
Gewerkschaftsmitgliedschaft oder eine arbeitsrechtliche Rechtsschutzversicherung
wiederfinden. Entsprechende Beiträge sind mithin dem Grunde nach
berücksichtigungsfähig. Der Ansatz der Kammer ist auch hinsichtlich der Höhe
gerechtfertigt, weil die der Festlegung der Dreiprozentregelung der Arbeitslosenhilfe-VO
2002 zugrunde liegenden Werte bereits 1998 erhoben wurden (also vor Einführung der
"Riester-Rente"). Überdies zeigt der Streit um den Prozentwert (der letztendlich zur
Aufhebung der Regelung durch das BSG führte, Urteil vom 9.12.2004, B 7 AL 24/04 R),
dass der Wert streng gesetzt war, für den Zweck der hier anzustellenden Betrachtung
also noch geeignet erscheint.
Schließlich ist der Freibetrag nach § 76 Abs. 2 a Nr. 1 BSHG in Höhe von 18,50 Euro zu
berücksichtigen (s. o.).
Es ergibt sich der Gesamtbetrag von 780,20 Euro (345 + 297 + 64 + 5,2 + 20,2 + 30,3
+ 18,5) für ein Existenzminimum in Berlin 2004 (2006: 795). Es handelt sich dabei um
einen äußerst strengen Wert, der nach Auffassung der Kammer nicht mehr (für Berliner
Verhältnisse) unterschritten werden darf (siehe den Hinweis bei den Unterkunftskosten
auf BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs.
117 – BVerfGE 82, 60). Im Hinblick auf die Berücksichtigung der anderen Werte hält die
Kammer den Betrag von 780,20 Euro für gerade noch verfassungsgemäß.
Dem entsprach ein Bruttogehalt von 1010 Euro (netto: 782,84 Euro; 2006: 1050 Euro
brutto = 796,69 Euro netto) bei einem Krankenversicherungsbeitrag von 14,3 Prozent,
wie ihn § 133 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III zu Grunde legt, und Steuerklasse I (für
Alleinstehende ohne Kinder). Diesem Bruttogehalt entspricht ein Stundenlohn von 6,16
Euro (2006: 6,40 Euro) im Rahmen einer 38-Stunden-Woche (Bundesdurchschnitt ist
eine Wochenstundenzahl von 37,7). Bei einer 40-Stunden-Woche beträgt der
Stundenlohn für dieses Bruttogehalt 5,84 Euro (2006: 6,07 Euro) und bei einer 35-
Stunden-Woche 6,64 Euro (2006: 6,91 Euro).
Der Klägerin war bei einer nach Tarifvertrag vollschichtigen Beschäftigung mit einer 35-
Stunden-Woche bei einem Stundenlohn von 5,93 Euro ein monatlicher Bruttoverdienst
von 899,38 Euro angeboten worden. Dieser Monatslohn erreicht nicht das von der
Kammer streng bemessene Existenzminimum von 1010 Euro. Es handelt sich deshalb
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Kammer streng bemessene Existenzminimum von 1010 Euro. Es handelt sich deshalb
um ein sittenwidriges Lohnangebot.
Der Arbeitgeber kann sich insofern auch nicht auf den Tarifvertrag vom 29. Mai 2003 –
Entgelttarifvertrag Zeitarbeit (IGZ und DGB-Gewerkschaften) berufen. Dieser Tarifvertrag
sah in § 2 als Eingangsstundenlohn für die geringste Entgeltgruppe 6,85 Euro vor. Dieser
Stundenlohn liegt über sämtlichen für 2004 errechneten Stundenlöhnen auf
Existenzsicherungsebene, ist insofern also nicht zu beanstanden. Er verstößt nicht
gegen die wesentlichen Verfassungsprinzipien.
Nach § 3 des Tarifvertrages wurde ein Abschlag in Höhe von 13,5 Prozent auf die
Entgelte der Eingangs-, Haupt- und Zusatzstufe für Arbeitnehmer, die in Betriebe in den
Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt,
Thüringen und Sachsen überlassen werden, vereinbart. Bei uneingeschränkter
Wirksamkeit dieser Vorschrift würde sich eine Reduzierung des Stundenlohnes der
Eingangsstufe der geringsten Entgeltgruppe auf die der Klägerin angebotenen 5,93 Euro
ergeben.
Nach Auffassung der Kammer ist § 3 des Tarifvertrages vom 29. Mai 2003 derart
auszulegen, dass die Absenkung nur insoweit erfolgen darf, als für Arbeitnehmer aus
Berlin bei vollschichtiger Beschäftigung ein Monatsbruttolohn von 1010 Euro und für
Arbeitnehmer aus den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg,
Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen ein Bruttomonatslohn von 950 Euro gesichert
wird. Der Grenzwert von 950 Euro ergibt sich dabei aus einer entsprechenden
Anwendung der oben entwickelten Grundsätze. (Regelsatz von 331 Euro,
Unterkunftskosten von 277,20 Euro (42 m² – siehe 2. Armutsbericht), Versicherungen
28,5 Euro, Riester-Rente 19,00 Euro, Fahrtkosten und Arbeitsmittel unverändert,
Freibetrag nach § 76 Abs. 2 a BSHG von 17,75 Euro – ergibt 742,65 Euro, entspricht
brutto: 950 Euro, Stundenlohn bei 38-Stunden-Woche: 5,79 Euro.) Das der Klägerin
unterbereitete Angebot liegt demnach selbst unter dem relevanten "ostdeutschen"
Existenzminimum.
Eine solche Auslegung erscheint aus den folgenden Gründen möglich und im Ergebnis
dann auch notwendig.
Nach § 4 Abs. 3 Var. 2 TVG sind Abweichungen zu Gunsten des Arbeitnehmers stets
möglich. § 3 des Tarifvertrages kann also in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Var. 2 TVG als
Maximalreduzierung für das Beitrittsgebiet gelesen werden, die dem Arbeitgeber einen
Spielraum im Sinne einer Sollvorschrift einräumt. Danach wäre die Absenkung
regelmäßig vorzunehmen, im Ausnahmefall, dass das Existenzminimum nicht erreicht
würde, dürfte nur allerdings nur eine eingeschränkte Absenkung anzuwenden.
Dass die Tarifvertragsparteien keine sittenwidrige Vereinbarung treffen wollten, ergibt
sich aus den geregelten Stundenlöhnen bezogen auf die typische Wochenarbeitszeit von
38 Stunden, wobei im Beitrittsgebiet die durchschnittliche Arbeitszeit bei 40 Stunden
liegt. Unter diesen Voraussetzungen liegen selbst die abgesenkten Werte sogar der
niedrigsten Entgeltgruppe in der Eingangsstufe regelmäßig über dem Existenzminimum.
Es lässt sich mithin der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer verfassungskonformen
Entlohnung feststellen. Unter diesen Umständen gebietet sich eine geltungserhaltende
Auslegung auch für den Fall, dass allein wegen der Reduzierung der Wochenarbeitszeit
auf die vom Tarifvertrag vorgesehene Untergrenze von 35 Wochenstunden für eine
vollzeitige Beschäftigung das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum nicht
erreicht würde.
Dabei ist auf den Bruttomonatslohn abzustellen, weil gerade bei Leiharbeit in Vollzeit die
zeitliche Flexibilität des Arbeitnehmers in besonderem Maße gefragt ist und sich
regelmäßig eine zusätzliche Nebentätigkeit verbietet. Die Bewertung der
Tarifvertragsparteien, dass eine 35-Stunden-Woche bei Leiharbeit einer Vollzeittätigkeit
entspreche, ist von der Kammer nicht zu beanstanden. Dies gilt insbesondere, wenn
man die Besonderheiten der Leiharbeit (wechselnde Entleiher, unterschiedliche
Fahrtwege usw.) berücksichtigt.
Kann sich der Arbeitgeber hinsichtlich des Lohnangebotes nicht auf den Tarifvertrag
stützen, erscheint sein Angebot nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, verstieß damit
gegen gesetzliche Vorgaben im Sinne von § 121 Abs. 2 Var. 1 SGB III. Die Beklagte
durfte der Klägerin das Angebot deshalb nicht unterbreiten. Die Klägerin war nicht
Gewerkschaftsmitglied, so dass der Tarifvertrag ohnehin nicht für das Arbeitsverhältnis
im Sinne von § 121 Abs. 2 Var. 2 SGB III zwingend gewesen wäre.
Die Beschäftigung war der Klägerin nach Auffassung der Kammer aber auch aus
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Die Beschäftigung war der Klägerin nach Auffassung der Kammer aber auch aus
personenbezogenen Gründen nach § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III nicht zuzumuten. Das
angebotene Arbeitsentgelt war erheblich niedriger als das der Bemessung des
Arbeitslosengeldes zugrunde liegende Arbeitsentgelt von 11,80 Euro pro Stunde. Zwar
scheint Satz 3 der Vorschrift gegen eine personenbezogene Unzumutbarkeit zu
sprechen, weil das angebotene Nettoentgelt abzüglich der notwendigen Aufwendungen
deutlich über dem der Klägerin gewährten Arbeitslosengeld lag.
Indes würde § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III zur bloßen Leerformel ohne regulativen Gehalt
(so allerdings Valgolio in Hauck/Noftz: SGB III, § 121 Rn. 43: es handele sich um einen
nichts sagenden Programmsatz), wollte man in ihr nicht eine Auffangregelung im Sinne
einer Generalklausel erblicken. Als solche kann § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III insbesondere
dann zu Geltung kommen, wenn schwerwiegende Gründe dafür sprechen, die Regelung
des Satzes 3 für den Betroffenen günstiger auszulegen. Eine solche günstigere
Auslegung kommt insbesondere in Betracht, wenn der Arbeitslosengeld-Anspruch durch
Teilzeitarbeit erworben wurde, während nach Wegfall der Gründe für die Beschränkung
auf Teilzeitarbeit wieder eine vollschichtige Tätigkeit des Arbeitslosen in Betracht kommt.
(Vgl. zur Notwendigkeit günstigerer Auslegung des § 121 im Hinblick auf Art. 12 GG:
Steinmeyer in Gagel: SGB III, § 121 Rn. 23 ff.) Dies gilt gerade in Fällen, in denen
alleinerziehende Mütter von einer Teilzeitbeschäftigung ihre Erwerbstätigkeit auf
Vollzeitbeschäftigung steigern. In solchen Fällen erscheint es auch im Hinblick auf das
europarechtliche Gleichbehandlungsgebot bedenklich, wenn man es bei dem von § 121
Abs. 3 Satz 3 SGB III geforderten Vergleich von Nettoeinkommen abzüglich
Werbungskosten zur Leistung belassen wollte. Bei strenger Anwendung von § 121 Abs. 3
Satz 3 SGB III wären damit regelmäßig Frauen darauf verwiesen, Vollzeitbeschäftigungen
mit erheblich geringeren Stundenverdiensten als zumutbar hinzunehmen. Insofern
erscheint die hier bevorzugte Auslegung unter Rückgriff auf den in Satz 1 geregelten
Grundsatz geeignet, eine indirekte Diskriminierung von Frauen zu vermeiden, ohne dass
Wortlaut und Regelungssystematik des § 121 Abs. 3 SGB III überstrapaziert würden.
Insofern lässt sich auf einen fiktiven Leistungsbezug unter Zugrundelegung einer
vollschichtigen Vorbeschäftigung abstellen, der sodann mit den Bedingungen der
angebotenen Vollzeit-Tätigkeit verglichen werden kann.
Nach diesen Grundsätzen war die angebotene Arbeit der Klägerin nicht zuzumuten. Die
alleinerziehende Klägerin betreute zwei minderjährige Söhne. In der Erziehungsleistung
ist ein hinreichender Grund zu sehen, lediglich einer Erwerbstätigkeit in Teilzeit
nachzugehen und sodann auf eine Vollzeit-Beschäftigung zu wechseln. Die Klägerin war
seit 1994 stets in Teilzeitbeschäftigungen von maximal 25 Wochenstunden mit einem
regelmäßigen Stundenlohn von 10,00 Euro, in der letzten Beschäftigung von 11,80 Euro
tätig. Nachdem die Söhne ein aus Sicht der Klägerin entsprechendes Alter erreicht
hatten, war die Klägerin zur Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung bereit. Zum Ende
ihrer letzten Tätigkeit war ihr jüngster Sohn inzwischen 14 Jahre alt geworden.
Bei einer vollschichtigen Beschäftigung als Grundlage des Arbeitslosengeld-Anspruches
mit einem Umfang von 35 Wochenstunden hätte die Klägerin eine Leistung von ca. 824
Euro erhalten. Das der Klägerin angebotene Arbeitsverhältnis lag mit seinem
Nettolohnangebot deutlich darunter, wie sich auch aus dem Vergleich der Stundenlöhne
ergibt (bei solchem Vergleich handelt sich praktisch eine Halbierung). Diese erscheint im
Lichte von § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III unzumutbar.
Es konnte deshalb beginnend am 20. Juli 2004 keine Sperrzeit wegen Ablehnung des
Stellenangebotes des Arbeitgebers eintreten.
Gesundheitliche personenbedingte Gründe für eine Unzumutbarkeit der Arbeitsstelle
konnte die Kammer nicht annehmen, weil sich ein entsprechender medizinischer
Sachverhalt nicht feststellen ließ. Ausweislich des Befundberichtes der behandelnden
Hausärztin hatte die Klägerin medizinische Hilfe bereits seit März 2003 nicht mehr in
Anspruch genommen. Dies spricht gegen eine Gefährdung durch eine entsprechende
Tätigkeit auf dem von der Klägerin behaupteten Niveau.
Inwieweit Nachtdienste der Klägerin im Hinblick auf die Betreuung ihrer Söhne nicht
zuzumuten waren, kann die Kammer wegen der Unzumutbarkeit der Beschäftigung nach
§ 121 Abs. 2 SGB III offen lassen.
Für den Zeitraum vom 18. August bis 7. September 2004 ist eine Sperrzeit eingetreten,
weil die Klägerin durch ihr Verhalten das Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses mit
der Anbieterin vereitelt hatte. Sie hatte sich insbesondere zu spät bei der Anbieterin
gemeldet. Einen wichtigen Grund für die Verspätung hatte sie nicht. Insoweit folgt die
Kammer der zutreffenden Begründung des Widerspruchsbescheides und sieht von einer
weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
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Allerdings verkürzt sich die Dauer der Sperrzeit nach § 144 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 lit. c) SGB
III auf drei Wochen, weil es sich um die erstmalige Ablehnung einer Arbeit handelte. Die
Ablehnung des Angebotes des Arbeitgebers kann hierbei nicht berücksichtigt werden. Es
handelt sich um die kürzeste gesetzlich vorgesehene Sperrzeitdauer bei
Arbeitsablehnung, so dass die Gründe der Klägerin für die verspätete Vorstellung bei der
Anbieterin unberücksichtigt bleiben müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den überwiegenden
Erfolg der Rechtsverteidigung.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache war die Berufung für die Beklagte
zuzulassen. Sofern die Klägerin sich auf die durch die "Probearbeit" gestützte Erwartung
der Einstellung auf das zweite Stellenangebot zur Vermeidung der zweiten Sperrzeit
beruft, sieht die Kammer ebenfalls eine grundsätzliche Bedeutung der Angelegenheit
und lässt auch für die Klägerin die Berufung zu.
Rudnik
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