Urteil des SozG Berlin vom 22.03.2007

SozG Berlin: erwerbsfähigkeit, abschlag, verfassungskonforme auslegung, entstehungsgeschichte, nummer, gesetzesmaterialien, verminderung, versicherter, unterliegen, niedersachsen

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Gericht:
SG Berlin 15.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 15 R 4430/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung.
Die Beklagte bewilligte dem 1955 geborenen Kläger mit Rentenbescheid vom
22.03.2007 für die Zeit vom 01.10.2003 bis zum 30.06.2007 eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung in Höhe von 663,44 Euro (nach Abzug der Versicherungsbeiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung). Durch Bescheid vom 26.03.2007 stellte die Beklagte
die Rente für die Zeit ab 01.05.2004 unter Berücksichtigung der Verordnungen (EWG) Nr.
1408/71 und Nr. 574/72 neu fest. In den Rentenberechnungen legte die Beklagte zur
Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte einen Zugangsfaktor von 0,898 zu Grunde
und begründete dies damit, dass sich der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat nach
dem 30.04.2015 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63.
Lebensjahres um 0,003 vermindern würde. Danach betrage die Verminderung für 34
Kalendermonate 0,102. Angesichts der Summe aller Entgeltpunkte von 32,9572 würden
daher die persönlichen Entgeltpunkte 28,6051 betragen (siehe Anlage 6 des
Rentenbescheids vom 26.03.2007).
Den Widerspruch des Klägers vom 07.05.2007, mit dem der Kläger sich unter Hinweis
auf das Urteil des BSG vom 16.05.2006, Az. B 4 R 22/05 R, gegen die Kürzung des
Zugangsfaktors in Höhe von 10,2% wandte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 30.05.2007 zurück. Zur Begründung führte sie aus, § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI
enthalte die Grundregel, dass bei Renten wegen Erwerbsminderung, welche vor
Vollendung des 63. Lebensjahres des Versicherten beginnen würden, stets der
Zugangsfaktor zu vermindern sei. Davon seien auch Entgeltpunkte aus vor Vollendung
des 60. Lebensjahres bezogenen Renten erfasst. Zudem enthalte § 77 Abs. 2 Satz 2
SGB VI eine Berechnungsregel, wonach nicht jeder Monat, in dem die
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen
werde, zu einer Reduzierung des Zugangsfaktors führe, sondern dies für die Monate der
Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres ausgeschlossen sei.
Damit werde sichergestellt, dass die Absenkung des Zugangsfaktors stets auf maximal
10,8 % begrenzt sei. Auch § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI enthalte eine weitere
Berechnungsregel, wonach die Monate eines wieder weggefallenen Rentenbezugs, in
denen eine Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres bereits in Anspruch genommen
worden sei, bei der Berechnung des Minderungszeitraums unberücksichtigt bleibe. Diese
Auslegung werde vor allem durch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt. Der
anders lautenden Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16. Mai 2006 (B 4 RA 22/05
R) könne nicht gefolgt werden.
So führe diese Auslegung dazu, dass der Gesetzgeber eine bereits getroffene Regelung
(§ 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) im nächsten Satz der Vorschrift (Satz 3) nochmals
klarstellend wiederholt. Die von der Beklagten vertretene Auslegung der Norm hingegen,
wonach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI eine Ergänzung zu § 77 Abs. 3 sei, erfülle die Norm
mit Inhalt und sei vorzugswürdig. Zudem werde das Urteil des 4. Senats der
Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht gerecht. Bei der Einführung des
verminderten Zugangsfaktors sei die anrechenbare Zurechnungszeit verlängert worden,
um die mit der Verminderung des Zugangsfaktors verbundene Rentenminderung
auszugleichen.
Mit seiner Klage vom 05.06.2007 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er bezieht
sich auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006 und ist der Ansicht, die ermittelten
Entgeltpunkte seien mit dem unverminderten Zugangsfaktor 1,0 zu vervielfältigen, da
die Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI einfachgesetzlich und unter Beachtung von Art. 14
GG dahingehend auszulegen sei, dass Abschläge bei einem Anspruch auf Rente wegen
voller Erwerbsminderung für Bezugszeiten vor Vollendung des 60.Lebensjahres nicht in
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voller Erwerbsminderung für Bezugszeiten vor Vollendung des 60.Lebensjahres nicht in
Betracht kämen. Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien
ließe sich entnehmen, dass eine Kürzung von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung
des 60. Lebensjahres beabsichtigt gewesen sei. Sinn und Zweck des § 77 Abs. 2 SGB VI
sei ausschließlich, ein wegen der Abschläge bei den Altersrenten spekulativ unterstelltes
Ausweichen der Versicherten in die Erwerbsminderungsrente zu verhindern, was
allerdings erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres in Betracht kommen würde. Dies
rechtfertige sich gegenüber den Versicherten, die danach die Rente vor Vollendung des
60. Lebensjahres ungekürzt in Anspruch nehmen könnten, dadurch, dass die
Erwerbsbiographie im Regelfall mit Vollendung des 60. Lebensjahres abgeschlossen sei.
Die Verlängerung des Zurechnungszeitraums sei eingeführt worden, um schuldlos
eingetretene Versicherungslücken zwischen der Vollendung des 55. Lebensjahres bis
zum 60. Lebensjahr zu verhindern. Zudem lege § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI fest, dass die
Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten
nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme gelte.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 26. März 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2007 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen,
dem Kläger ab dem 01. Oktober 2003 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf
der Grundlage von 32,9572 persönlichen Entgeltpunkten zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre Begründungen aus dem angegriffenen Bescheid
und Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI
eine Berechnungsvorschrift zur Bestimmung des vorgenannten und zu jeglichem
Bezugszeitpunkt einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit anzuwendenden
(verringerten) Zugangsfaktor sei. Diese Auslegung werde gestützt durch Satz 3 der
Vorschrift, mit dem die Übernahme eines geminderten Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 3
Satz 1 SGB VI aus einer vor Vollendung des 60. Lebensjahres weggefallenen
Erwerbsminderungsrente in eine spätere Rente verhindert werden sollte. Entgegen der
Auffassung des BSG werde an zahlreichen Stellen des Gesetzes zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 deutlich, dass der Gesetzgeber
auch Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 für Zeiten des Bezuges von
Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres habe einführen wollen.
So werde an zahlreichen Stellen in den Gesetzgebungsmaterialien konkret beziffert, wie
stark sich die durch die Abschläge erlittenen Einbußen mit Hilfe der verlängerten
Zurechnungszeit per saldo vermindere. Letztlich spreche gegen die Auslegung des BSG,
das nur schwer nachvollziehbare Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60.
Lebensjahres abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit für Zeiten des Bezugs ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern
wäre.
Der Kläger hat sich unter dem 13.09.2007, die Beklagte am 18.09.2007 mit einer
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Schriftsätze, die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die auf die Höhe des Rentenanspruchs beschränkte Klage ist als Teilanfechtungs- und
Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 4 SGG). Über sie konnte gemäß § 124
Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die
Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist allerdings unbegründet. Die Beklagte hat bei der Berechnung der
persönlichen Entgeltpunkte des Klägers zu Recht einen auf 0,898 geminderten
Zugangsfaktor in Ansatz gebracht. Der Bescheid der Beklagten vom 23. März 2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Mai 2007 ist nicht rechtswidrig und verletzt
den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die Bewertung des Zugangsfaktors durch die Beklagte beruht auf der Regelung des § 77
Abs. 2 SGB VI i.V.m. § 264 c und Anlage 23 zum SGB VI. Gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von
persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter
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persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des
Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um
0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor
Vollendung des 60. Lebensjahres, ist nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Vollendung des
60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend; bei einem
Rentenbeginn vor dem 01.01.2004 ist dabei gemäß § 264c SGB VI anstelle der
Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 angegebenen
Lebensalters maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60.
Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme (§
77 Abs. 2 S. 3 SGB VI).
Nach Ansicht der Kammer sind die Vorschriften des § 77 Abs. 2 SGB VI dahingehend
auszulegen, dass Erwerbsminderungsrenten nach dem 01. Januar 2004 (vgl. § 253a SGB
VI), die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, auf Grund
des geminderten Zugangsfaktors stets einem Abschlag von 10,8 v. H. unterliegen (so
auch die rentenrechtliche Literatur, vgl. Polster in Kasseler Kommentar,
Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, 2006, § 77 SGB VI, Rn. 21; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI,
§ 77, Rn. 45; Plagemann in jurisPR SozR 20/2006 m. w. N.). Der Abschlag reduziert sich
nach der Vorschrift des § 264 c SGB VI i.V.m. Anlage 23 zum SGB VI, wenn der
Rentenbeginn vor dem 01.01.2004 liegt. Daraus ergibt sich vorliegend der
Zugangsfaktor von 0,892. Die Kammer vermag der Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI,
die der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006 zu Grunde liegt und auf die sich der
Kläger bezieht, nicht zu folgen. Nach diesem Urteil des 4. Senats des BSG unterliegen
Bezieher einer Erwerbsminderungsrente, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch
nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur dann, wenn sie die Rente über das 60.
Lebensjahr hinaus beziehen (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R,
abgebildet in JURIS-online unter http://www.juris.de ).
Nach den Ausführungen des 4. Senats ist allein diese Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI,
die einen verringerten Zugangsfaktor für Bezugszeiten vor Vollendung des 60.
Lebensjahres ausschließt, rechtmäßig und frei von verfassungswidriger Willkür. Denn auf
Grundlage dieser Vorschrift sei eine Durchbrechung des Prinzips der "(Vor-)
Leistungsbezogenheit der Rente" nicht zulässig. Das Prinzip der "(Vor-)
Leistungsbezogenheit der Rente" sei Ausdruck der Beachtung der Vorleistung, die ein
Versicherter für die Rentenversicherung erbracht hat und werde durch den in die
konkrete Rentenberechnung einzustellenden Zugangsfaktor, der grundsätzlich mit 1,0
bewertet ist, gewährleistet. Eine Reduzierung dieses Zugangsfaktors und damit eine
Nichtbeachtung der erbrachten Vorleistungen sei nur möglich, wenn besondere, im
Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe dies
ausnahmsweise erlauben würden. Solche Sachgründe lägen dann vor, soweit eine
gegenüber der nach dem Gesetz "normalen" Inanspruchnahme einer Rente eine
"vorzeitige" Inanspruchnahme mit individuellen Vermögensvorteilen im Vergleich zu
"Normalrentnern" mit gleicher Vorleistung erfolgt, so dass die Nichtberücksichtigung
eines Teils der Vorleistung zum Ausgleich dieser ungerechtfertigten, systemwidrigen
Vermögensvorteile notwendig sei (vgl. Rn. 15 f. des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006,
aaO). Die Zeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gelte gemäß § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI
aber ausdrücklich nicht als vorzeitige Inanspruchnahme. Auch schließe die Regelung des
§ 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI ausdrücklich einen Rentenabschlag für Bezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres aus (vgl. Rn. 25 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006,
aaO).
Diese Auslegung werde zudem durch die Entstehungsgeschichte des EM-ReformG
gestützt. Prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor durch das EM-ReformG war,
die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch
genommenen Altersrenten anzupassen und damit "Ausweichreaktionen von den
Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen
werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken".
Ein Ausweichen der Versicherten vor einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlag in eine
abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente sei aber erst ab dem 60. Lebensjahr möglich
(vgl. Rn. 33 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006). In den Gesetzesmaterialien fänden
sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, die
vor dem vollendeten 60. Lebensjahr begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürfen (vgl. Rn. 34b des Urteil des BSG
vom 16. Mai 2006).
Diese Auslegung der Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG
ergibt sich nach Auffassung der Kammer nicht zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes
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ergibt sich nach Auffassung der Kammer nicht zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes
und ist zudem mit dem Willen des Gesetzgebers und der Gesetzeshistorie nicht
vereinbar. Vielmehr folgt aus der Entstehungsgeschichte der Norm, dass auch
Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden,
mit einem Abschlag zu versehen sind. Mit Blick auf den Wortlaut des § 77 Abs. 2 S. 2
SGB VI ist für die Kammer nicht erkennbar, ob der Zeitpunkt der Vollendung des 60.
Lebensjahres auch insoweit für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist,
dass davor liegende Bezugszeiten keine Rentenabschläge zur Folge haben sollen. Auch
§ 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI stellt lediglich fest, dass die Zeiten des Bezugs einer
Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeiten einer
vorzeitigen Inanspruchnahme gelten, ohne jedoch daraus ausdrücklich den Schluss zu
ziehen, dass die Personengruppe der Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60.
Lebensjahres bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres Rentenabschläge hinnehmen
müssen. Vielmehr ergänzt § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI die Ausgangsregelung des § 77 Abs.
2 S. 1 Nr. 3 SGB VI, welche regelt, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer
Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr zu Abschlägen führt, dabei aber offen
lässt, wann dieser "Vorzeitigkeitszeitraum" beginnt, dahingehend, dass eine
Verminderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente
notwendigerweise zeitlich begrenzt ist auf die Zeit zwischen Vollendung des 60. und 63.
Lebensjahres, d.h. auf maximal 36 Kalendermonate je 0,003. Damit regelt die Vorschrift
des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI eine Untergrenze der in § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI
genannten abschlagsfähigen Kalendermonate; hierzu zählt danach jeder Kalendermonat
der Inanspruchnahme von Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63.
Lebensjahres. Sie stellt zur Überzeugung der Kammer jedoch nicht, wovon die
Entscheidung des 4. Senats scheinbar ausgeht, eine Untergrenze der dem Abschlag
unterliegenden genannten Personengruppe auf die Gruppe der
Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des
63. Lebensjahres dar (vgl. Mey, RVaktuell 2007, S. 44, 46). § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI
modifiziert § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI dahingehend, dass für die Zeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres kein Abschlag erfolgt (so auch LSG Niedersachsen-
Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06).
Diese Auslegung ergibt sich vor allem aus den Gesetzesmaterialien zum EM-ReformG.
Dort findet sich kein Hinweis auf eine beabsichtigte Privilegierung der unter 60-jährigen.
Vielmehr soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Zugangsfaktor für "jeden Monat
des Rentenbeginns vor dem 63. Lebensjahr" um 0,3 %, höchstens um 10,8 % gemindert
werden (BT-Drucksache 14/4230, S. 26, zu Nummer 22 (§ 77)). Hieraus ist zwar nur
indirekt, zur Überzeugung der Kammer aber zwingend zu entnehmen, dass der
Gesetzgeber davon ausging, dass die Verringerung des Zugangsfaktors alle
Erwerbsminderungsrenten erfasst, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch
genommen werden. Denn eine solche Formulierung ist nur dann zu erwähnen ist, wenn
sich ohne eine ausdrückliche entsprechende Formulierung ein höherer Abschlag
errechnen könnte (so auch SG Aachen, Urteil vom 09. Februar 2002, Az.: S 8 R 96/06).
Zwar ist die Ansicht des Klägers zutreffend, dass mit dem EM-ReformG auch
Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen
vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit entgegen gewirkt werden soll, eine solche Ausweichreaktion aber nur
bei Personen zu erwarten ist, die das 60. Lebensjahr vollendet haben. Allerdings war es
das primäre Ziel des Gesetzgebers, eine Anpassung der Höhe der
Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen
Altersrenten bei Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr zu erreichen
(vgl. BT-Drucksache 14/4230, S. 1 und S. 26, zu Nummer 22 (§ 77)).
Auch mit Blick auf die durch das EM-ReformG eingeführte Anhebung der
Zurechnungszeit gemäß § 59 SGB VI vermag sich die Kammer der Auslegung durch das
BSG nicht anzuschließen. Seit dem 01. Januar 2001 endet die Zurechnungszeit gemäß §
59 Abs. 2 S. 2 SGB VI mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Diesbezüglich heißt es in
der Gesetzesbegründung: "Vorteile eines längeren Rentenbezugs werden durch einen
verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen. Um die Wirkung auf die Renten für
erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene zu mildern, wird die Zeit
zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr (Zurechnungszeit), die bisher nur zu einem
Drittel angerechnet wurde, künftig in vollem Umfang angerechnet." (BT-Drs. 14/4230, S.
68). Daraus, dass der Gesetzgeber selbst von Einbußen der unter sechzigjährigen
Erwerbsminderungsrentner ausgeht, wird die eindeutige gesetzgeberische Intention
erkennbar, Erwerbsminderungsrenten auch vor Vollendung des 60. Lebensjahres auf
Grund eines verringerten Zugangsfaktors mit Abschlägen zu versehen. Die
Entscheidung des 4. Senats ignoriert diesen Zusammenhang zwischen Rentenabschlag
und Anhebung der Zurechnungszeit und korrigiert entgegen dem ausdrücklichen Willen
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und Anhebung der Zurechnungszeit und korrigiert entgegen dem ausdrücklichen Willen
des Gesetzgebers einen Teil des Regelungskomplexes im Wege einer
verfassungskonformen Auslegung, während es die damit im Zusammenhang stehende
Änderung des § 59 SGB VI unangetastet lässt. Die Grenze der verfassungskonformen
Auslegung wird indes durch den Gesetzeswortlaut und den Willen des Gesetzgebers
bestimmt (vgl. Plagemann in jurisPR SozR 20/2006, Anm. 4; BVerfGE 100, 1, 43 ff.).
Der von dem Kläger erhobene Hinweis auf eine verfassungskonforme Auslegung des §
77 Abs. 2 SGB VI unter Beachtung von Art. 14 GG führt angesichts der Verlängerung der
Zurechnungszeiten durch den Gesetzgeber des EM-ReformG ebenfalls zu keiner
anderen Beurteilung. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist Voraussetzung für
den Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen, dass die
vermögenswerte Rechtsposition auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des
Versicherten beruht (vgl. BVerfGE 69, 272 (300 f.); Beschluss des BVerfG vom 13. Juni
2006, (1 BvL 9/00)). Bei den Zurechnungszeiten gemäß § 59 SGB VI handelt es sich um
solche dem Kläger zugute kommenden rentenrechtliche Zeiten, welche nicht auf
Beitrags- und Beschäftigungszeiten beruhen und trotzdem einen erheblichen Anteil an
den Entgeltpunkten des Versicherten haben. Jedoch kann eine Minderung des
Zugangsfaktors für vor der Vollendung des 60. Lebensjahres bezogene
Erwerbsminderungsrenten nicht zum Schutz der Rentenanwartschaft gemäß Art. 14 GG
führen, wenn zugleich eine Verlängerung der nicht beitragsgebundenen
Zurechnungszeiten erfolgt. Unter Berücksichtigung der Anhebung der Zurechnungszeit
in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Diese Anhebung der Zurechnungszeit
steht mit dem Abschlag in engem Zusammenhang. Beide Regelungen wurden nicht
unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI schrittweise eingeführt (Kreikebohm
a. a. O., Rn. 13), so dass den Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit auch im
Hinblick auf die Übergangsregelungen Genüge getan ist.
Ebenso ist es mit Blick auf das durch die Erwerbsminderungsrente angestrebte
Versorgungsziel wohl nicht erklärbar, dass ein Versicherter ab dem 60. Lebensjahr eine
deutliche Rentenkürzung hinzunehmen hätte, obwohl seine Hinzuverdienstmöglichkeiten
mit zunehmenden Alter sinken, während der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente,
deren Bezugzeit vor dem 60. Lebensjahr endet, keinen Abschlägen unterliegt (so auch
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06).
Für die von der Kammer vertretene Auffassung spricht letztlich auch das "Gesetz zur
Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung
der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung" v. 20.04.2007 (RV-
Altersgrenzenanpassungsgesetz, abgedruckt in BGBL. I Nr. 16 v. 30.04.2007 S. 554-
575), mit welchem die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben
werden. Aus dem Regelungsinhalt des Gesetzes und der Begründung ist erkennbar,
dass die Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG gerade nicht
dem Willen des Gesetzgebers des EM-ReformG entspricht. Demnach soll bei Beginn
einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit "mit oder vor Vollendung des 62.
Lebensjahres", statt bisher dem 60. Lebensjahr, ein Abschlag von 10,8 % erhoben
werden. Auch sollen die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten i.H. von 10,8 %
entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes und entgegen der
Entscheidung des 4. Senats des BSG in allen Fällen vorgenommen werden, in denen die
Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die
Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird (vgl. BR-Drs. 2/07, vom 05. Januar
2007, S. 91, zu Nummer 23 (§ 77)).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Sprungrevision war gemäß §§ 161 Abs. 1 und 2, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen,
weil das Urteil von der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R,
abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
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