Urteil des SozG Berlin vom 09.11.2010

SozG Berlin: zumutbare tätigkeit, firma, kündigung, berufskrankheit, vollrente, merkblatt, arbeitsbedingungen, arbeitsvermittler, ausbildung, bäcker

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Gericht:
SG Berlin 68.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 68 U 144/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 3 Abs 2 S 1 BKV, § 3 Abs 2 S 2
BKV, § 54 Abs 2 S 2 SGG
Gesetzliche Unfallversicherung - Übergangsleistung - fehlerhafte
Ermessensentscheidung: komplette Einstellung der Leistung
wegen Kündigung des Arbeitsverhältnisses - Verstoß gegen
Schadensminderungspflicht - Leistungskürzung - kausaler
Minderverdienst - Leistungshöhe: Differenz zwischen einem
Zwölftel der Vollrente des Klägers und dem fiktiven
Nettoeinkommen
Leitsatz
Wenn der Versicherte nach einer berufskrankheitsbedingten Aufgabe seiner bisherigen
Tätigkeit in unberechtigter Weise eine von dem Unfallversicherungsträger vermittelte zweite
Tätigkeit aufgibt, entfällt der Anspruch des Versicherten auf Übergangsleistungen gemäß § 3
Abs 2 BKV nicht bereits dem Grunde nach. Der Versicherungsträger kann die unberechtigte
Aufgabe der zweiten Tätigkeit jedoch als einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht
des Versicherten in das Ermessen bezüglich der Höhe der dem Versicherten zu gewährenden
Übergangsleistungen einfließen lassen.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 30. November 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2008 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, über die Höhe der dem Kläger im vierten
und fünften Laufjahr zustehenden Übergangsleistungen unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung und Rückforderung von
Übergangsleistungen.
Der im Jahr 1966 geborene Kläger gab am 3. November 2003 seine Tätigkeit als Bäcker
aus gesundheitlichen Gründen auf. Mit Bescheid vom 3. Mai 2004 erkannte die Beklagte
die Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 4301 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) an. Der Bescheid enthielt das Merkblatt für
Übergangsleistungen gemäß § 3 Abs. 2 BKV. Im Merkblatt wurde ausgeführt, dass der
Kläger ein Anspruch auf die Gewährung von Übergangsleistungen habe, über dessen
Höhe die Beklagte im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens entscheide.
Die Beklagte gewährte dem Kläger im Folgenden ab dem 4. November 2003
Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV, zuletzt mit Bescheid vom 31. Oktober 2006
für das vierte Laufjahr vom 1. November 2006 bis 31. Oktober 2007 in Höhe von
monatlich 604,70 Euro.
Der Kläger war nach Aufgabe seiner Tätigkeit als Bäcker zunächst arbeitslos. Auf
Vermittlung der Beklagten schloss der Kläger am 3. September 2007 einen
Arbeitsvertrag mit der Leiharbeitnehmer-Firma F… GmbH & Co.KG. Der Vertrag sah eine
Probearbeit vom 10. September 2007 bis zum 7. Oktober 2007 sowie daran
anschließend eine Probezeit bis zum 9. März 2008 vor. Als Entgelt war ein Bruttolohn in
Höhe von 875,14 Euro im Monat vereinbart.
Mit Schreiben vom 4. September 2007 teilte der Arbeitsvermittler D… der Beklagten
mit, dass der Einsatz des Klägers für die Probearbeit in G… erfolgen solle. Dort werde
der Kläger unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen im Lager
eingearbeitet. Er werde dabei den Staplerschein erhalten. Der Arbeitsort sei gut mit
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eingearbeitet. Er werde dabei den Staplerschein erhalten. Der Arbeitsort sei gut mit
öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Arbeitskleidung werde gestellt. Nach
erfolgreicher Einarbeitung sei nach der Probearbeit ein Einsatz als Kommissionierer im
Lager einer Kaffeerösterei in B N vorgesehen.
In Anbetracht der bevorstehenden Arbeitsaufnahme wurde die Auszahlung des
Übergangsgeldes für Oktober 2007 zunächst zurückgestellt.
Der Kläger nahm das Arbeitsverhältnis am 10. September 2007 auf und kündigte es
zwei Tage später am 12. September 2007. Als Grund gab er an, dass ihm die Arbeit
nicht liege.
Mit Schreiben vom 12. September 2007 teilte der Arbeitsvermittler D… der Beklagten
mit, dass der Kläger bei der Arbeit nach Aussage der Firma F.. einen sehr schlechten
und unmotivierten Eindruck gemacht habe. Er sei am 12. September 2007 erst um 8:30
Uhr anstatt wie vereinbart um 6:00 Uhr zur Arbeit erschienen. Er habe sich zudem
beschwert, dass die Ausbildung zum Staplerfahrer nach drei Arbeitstagen noch nicht
begonnen habe.
Mit Bescheid vom 30. November 2007 führte die Beklagte aus:
„Die Berechnung für das 4. Laufjahr der Übergangsleistung gemäß § 3 BKV
wurde fertiggestellt.
Sie haben vom 04.11.06 bis 30.09.07 Übergangsleistung 2 erhalten. Der
Anspruch ist hiermit abgegolten. Am 10.09.2007 haben Sie eine durch die Job-BG
vermittelte Stelle aufgenommen Es handelt sich dabei um eine nicht schädigende und
Ihnen zumutbare Tätigkeit. Diese Tätigkeit haben Sie mit Datum 12.09.2007 aus
persönlichen Gründen aufgegeben. Damit sind Sie ihrer Schadensminderungspflicht
nicht nachgekommen. Ein innerer Zusammenhang zwischen dem jetzt entstandenen
Minderverdienst und der Berufskrankheit besteht nicht mehr. Die Grundvoraussetzung
für die Übergangsleistung gemäß § 3 BKV ist folglich nicht mehr erfüllt. Wir stellen
hiermit die Leistung ein und fordern den Ihnen bereits ausgezahlten Betrag für
September 2007 anteilig ab dem 12. September 2007 zurück. Sie sind verpflichtet, den
Rückforderungsbetrag in Höhe von 382,98 Euro an eins unserer unten genannten
Konten zurückzuleisten.“
Mit Schreiben vom 14. Dezember 2007 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 30.
November 2007 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, der Arbeitgeber habe
die Absprachen nicht eingehalten. Zudem habe es sich um eine Leiharbeitnehmerfirma
gehandelt. Der damit einhergehende ständige Einsatzortwechsel sei mit seiner
Berufskrankheit nicht zu vereinbaren. Er beziehe seit Oktober 2007 Hartz IV. Daher sei
er auch nicht in der Lage, einen Betrag in Höhe von 382,89 Euro zurückzuzahlen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2008 wies die Beklagte den Widerspruch des
Klägers als unbegründet zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Ablehnung
der Tätigkeit sei aus rein persönlichen Gründen erfolgt. Ein Nachweis, dass
gesundheitliche Gründe bestehen, sei von dem Kläger nicht erbracht worden. Diese
seien in der kurzen Zeit auch nicht aufgetreten. Die Arbeitsbedingungen seien dem
Kläger bei Abschluss des Arbeitsvertrages bekannt gewesen.
Mit seiner am 25. Januar 2008 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Zur Klagegründung führte der Prozessbevollmächtigte des Klägers ergänzend aus, dass
der Kläger für eine einfache Strecke zu seinem Einsatzort 70-80 Minuten gebraucht
habe. Diese Entfernung sei dem Kläger unzumutbar gewesen. Der Kläger sei am 12.
Oktober 2007 zwar zu spät zur Arbeit erschienen, jedoch nur 20 Minuten. Dem Kläger sei
absprachewidrig auch keine Berufskleidung gestellt worden. Auch sei eine Einarbeitung
nicht erfolgt. Dem Kläger sei zudem mitgeteilt worden, dass nicht sicher sei, ob
überhaupt eine Ausbildung zum Gabelstapler erfolge.
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 30. November 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2008 aufzuheben.
2. Die Beklagte zu verurteilen, über die Höhe der dem Kläger im 4. und im 5.
Laufjahr zustehenden Übergangsleistungen unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt die Beklagte ergänzend vor, mit Aufgabe der Tätigkeit bei der
Firma F… sei bereits der Grundanspruch auf Übergangsleistungen erloschen, da es nach
der Kündigung an einer Kausalität zwischen der Berufskrankheit und dem
Minderverdienst fehle. Dem Kläger seien die Art und der Ort der Arbeit bei
Vertragsschluss bekannt gewesen. Die Vertragsbedingungen seien dem Kläger
zumutbar. Anderenfalls hätte er den Vertrag auch nicht unterzeichnet. Nach zwei Tagen
an einem neuen Arbeitsplatz sei ein Arbeitnehmer noch nicht in der Lage, die
tatsächlichen Verhältnisse der Tätigkeit realistisch einzuschätzen.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte haben vorgelegen. Wegen der Einzelheiten
wird auf sie ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
zulässig und begründet.
Streitgegenstand der vorliegenden Klage ist der Anspruch des Klägers auf
Übergangsleistung gemäß § 3 Abs. 2 BKV über den 12. September 2007 hinaus. Über
diesen Anspruch hat die Beklagte mit Bescheid vom 30. November 2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2008 entschieden. Der Regelungsgehalt
dieses Bescheids bedarf jedoch der Auslegung. Die Beklagte hat im Rahmen der
mündlichen Verhandlung ausgeführt, mit dem Bescheid sei über den Anspruch des
Klägers auf Übergangsleistung dem Grunde nach entschieden und festgestellt worden,
dass der Anspruch mit Aufgabe der vermittelten Tätigkeit dem Grunde nach erloschen
sei.
Diese Auslegung vermag die Kammer nicht zu überzeugen. Wie das Bundessozialgericht
(BSG) mit Urteil vom 12. Januar 2010 – B 2 U 33/08 R – ausgeführt hat, regelt § 3 Abs. 2
BKV bei Vorliegen der dort genannten Tatbestandsvoraussetzungen einen gebundenen
Anspruch auf Übergangsleistung, deren Höhe, Dauer und Zahlungsart allerdings im
Ermessen des Unfallversicherungsträgers steht. § 3 Abs. 2 Satz 1 BKV sieht vor, dass
Versicherte, die die gefährdende Tätigkeit unterlassen, weil die Gefahr fortbesteht, zum
Ausgleich hierdurch verursachter Minderungen des Verdienstes oder sonstiger
wirtschaftlicher Nachteile gegen den Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf
Übergangsleistungen haben. Der Kläger hätte aus der vermittelten Tätigkeit bei der
Firma F… einen Nettolohn erzielt, der deutlich hinter einem Zwölftel der ihm
zustehenden Vollrente zurückgeblieben wäre. Warum die Aufgabe der Tätigkeit vor
diesem Hintergrund dazu führen soll, dass bereits der von § 3 Abs. 2 Satz 1 BKV als
Tatbestandsvoraussetzung geforderte kausale Minderverdienst nicht mehr gegeben sein
soll und der gebundene Grundanspruch erlischt, ist für die Kammer nicht
nachvollziehbar. Die Frage, in welchem Umfang, dem Kläger während der 5-jährigen
Laufzeit auch über den 12. September 2007 hinaus Übergangsleistungen zu zahlen sind,
ist aus Sicht der Kammer ausschließlich eine Frage nach der Höhe der dem Kläger zu
bewilligenden Leistungen. Bei sachdienlicher Auslegung ist der Bescheid vom 30.
November 2007 somit dahingehend zu verstehen, dass die Beklagte mit dem Bescheid
allein den Umfang der dem Kläger noch zustehenden Übergangsleistungen festlegen
wollte. Hierfür spricht im Übrigen auch die Formulierung in dem Bescheid, die davon
spricht, dass die „Berechnung“ für das vierte Laufjahr fertig gestellt worden sei. In
Anbetracht des Umstandes, dass die Beklagte in dem Bescheid weiter ausgeführt hat,
dass der Anspruch nunmehr abgegolten sei, erfasst der Regelungsgehalt des Bescheids
vom 30. November 2007 über seinen ausdrücklichen Wortlaut hinaus aus Sicht der
Kammer jedoch auch bereits das 5. Laufjahr und legt insofern als Höhe der zu leistenden
Übergangsleistungen sinngemäß den Wert „0 Euro“ fest.
Der so verstandene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Beklagte hat von dem ihr durch § 3 Abs. 2 Satz 2 BKV eingeräumten Ermessen in
einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht, §
54 Abs. 2 Satz 2 SGG.
Zwar ist aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in Bezug auf die
Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers von einem Verstoß gegen die
Schadensminderungspflicht des Klägers ausgeht, der die Beklagte berechtigt, die dem
Kläger zu gewährenden Übergangsleistungen zu kürzen. Die Kammer stimmt mit der
Beklagten überein, dass der Kläger die Arbeitsbedingungen bei der Firma F… nach
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Beklagten überein, dass der Kläger die Arbeitsbedingungen bei der Firma F… nach
Ablauf von zwei Tagen noch nicht realistisch bewerten konnte. Dies gilt umso mehr, als
zu Beginn einer Anstellung regelmäßig Abstimmungsprobleme auftreten und sich ein
geregelter Arbeitsablauf erst einstellen muss. Sofern der Kläger ausgeführt hat, dass
Absprachen nicht eingehalten worden seien, ist dem entgegenzuhalten, dass allenfalls
die Befürchtung bestand, dass dem so sein könnte. Der Kläger hätte die Einhaltung von
Absprachen zudem zunächst von der Firma einfordern müssen.
Ermessensfehlerhaft war die Entscheidung der Beklagten aus Sicht der Kammer jedoch
insoweit, als sie infolge der Kündigung durch den Kläger die Gewährung von
Übergangsleistung komplett eingestellt hat. Dies kommt einem Sanktionstatbestand
gleich, den § 3 Abs. 2 BKV nicht kennt. Die Beklagte wäre im Rahmen ihrer
Ermessensausübung vielmehr gehalten gewesen, gerade auch über denjenigen
Anspruch des Klägers auf Übergangsleistung zu entscheiden, der sich aus der Differenz
zwischen einem Zwölftel der Vollrente des Klägers und dem (fiktiven) Nettoeinkommen
ergibt, dass der Kläger bei Fortsetzung seiner Tätigkeit für die Firma F… erzielt hätte.
Warum dem Kläger dieser Betrag nicht mehr als Übergangsleistung zustehen soll,
obwohl er auch dann angefallen wäre, wenn der Kläger seiner
Schadensminderungspflicht vollumfänglich nachgekommen wäre und die Tätigkeit
fortgesetzt hätte, geht aus dem Bescheid vom 30. November 2007 auch in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2008 nicht hervor. Insofern liegt ein
Ermessensausfall vor.
Dass der Kläger vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen zwingend einen
Anspruch auf die volle Höhe der Differenz hat, ist für die Kammer jedoch ebenfalls nicht
ersichtlich. Da eine Ermessensreduzierung auf Null damit ausscheidet, war die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheids vom 30. November 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2008 allein zur Neubescheidung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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