Urteil des SozG Berlin vom 24.09.2007
SozG Berlin: erwerbsfähigkeit, abschlag, verfassungskonforme auslegung, nummer, entstehungsgeschichte, anpassung, gesetzesmaterialien, niedersachsen, drucksache, versicherter
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Gericht:
SG Berlin 15.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 15 R 6682/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Leitsatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2007 - S 15
R 1830/07 -, das vollständig dokumentiert ist.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Rente wegen voller
Erwerbsminderung.
Dem am 05.02.1967 geborenen Kläger bewilligte die Beklagte im Wege der Abhilfe
gegen den ablehnenden Bescheid vom 10.08.2006 mit Bescheid vom 10.07.2007 vom
01.08.2007 bis zum 30.06.2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von
893,76 Euro (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen). Dabei legte
die Beklagte zur Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte einen Zugangsfaktor von
0,892 zu Grunde und begründete dies damit, dass sich der Zugangsfaktor für jeden
Kalendermonat nach dem 28.02.2027 bis zum Ablauf des Kalendermonats der
Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 vermindern würde. Danach betrage die
Verminderung für 36 Kalendermonate 0,108. Angesichts der Summe aller Entgeltpunkte
von 33,4572 sowie aller Entgeltpunkte (Ost) von 10,0972 würden daher die persönlichen
Entgeltpunkte 29,8438 und die persönlichen Entgeltpunkte (Ost) 9,0067 betragen (siehe
Anlage 6 des Rentenbescheids vom 10.07.2007).
Mit seinem Widerspruch vom 18.07.2007, begehrte der Kläger unter Hinweis auf das
Urteil des BSG vom 16.05.2006, Az. B 4 R 22/05 R, die Anwendung eines Zugangsfaktors
von 1,0. Nach diesem Urteil sei die Anwendung eines niedrigeren Zugangsfaktors als 1,0
bei einer vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommenen Rente wegen
Erwerbsminderung gesetzes- und grundrechtswidrig.
Unter dem 07.08.2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers durch
Widerspruchsbescheid zurück. Gemäß der Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI sei bei
Renten wegen Erwerbsminderung, welche vor Vollendung des 63. Lebensjahres des
Versicherten beginnen würden, stets der Zugangsfaktor zu vermindern. Der
Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 werde nicht gefolgt. Dagegen spreche sowohl
die Intention des Gesetzgebers bei Einführung des Gesetzes zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, mit dem mit einer Übergangszeit
vom 01.01.2001 bis 31.12.2003 die Abschläge für die vorzeitige Inanspruchnahme von
Erwerbsminderungsrenten gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI eingeführt worden sei,
als auch die Verlängerung des Zugangsfaktors nach § 59 SGB VI durch das gleiche
Gesetz. Durch letztere würden die hinzunehmenden Rentenkürzungen kompensiert.
Mit seiner Klage vom 05.09.2007 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er vertieft die
Begründung seines Widerspruchs unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 16.
Mai 2006. Eine Kürzung der Renten komme lediglich für einen Rentenbeginn ab dem 60.
Lebensjahr in Betracht, um ein Ausweichen der Versicherten in die
Erwerbsminderungsrente anstelle der möglichen Altersrente zu verhindern.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 07. August 2007 zu ändern und die Beklagte zu
verurteilen, dem Kläger vom 01. Juli 2007 bis zum 30. Juni 2008 eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung auf der Grundlage von 33,4572 persönlichen Entgeltpunkten sowie
von 10,0972 persönlichen Entgeltpunkten (Ost) zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre Begründungen aus dem angegriffenen Bescheid
und Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI
eine Berechnungsvorschrift zur Bestimmung des vorgenannten und zu jeglichem
Bezugszeitpunkt einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit anzuwendenden
(verringerten) Zugangsfaktor zu interpretieren sei. Dies werde gestützt durch Satz 3 der
Vorschrift, mit dem die Übernahme eines geminderten Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 3
Satz 1 SGB VI aus einer vor Vollendung des 60. Lebensjahres weggefallenen
Erwerbsminderungsrente in eine spätere Rente verhindert werden sollte. Entgegen der
Auffassung des BSG werde an zahlreichen Stellen des Gesetzes zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 deutlich, dass der Gesetzgeber
auch Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 für Zeiten des Bezuges von
Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres habe einführen wollen.
So werde an zahlreichen Stellen in den Gesetzgebungsmaterialien konkret beziffert, wie
stark sich die Einbuße durch die Abschläge durch die verlängerte Zurechnungszeit per
saldo vermindere. Letztlich spreche gegen die Auslegung des BSG, dass nur schwer
nachvollziehbare Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60. Lebensjahres abschlagsfrei
in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Zeiten des
Bezugs ab Vollendung des 60. Lebensjahres zu mindern wäre. Auf den Inhalt des
Schriftsatzes der Beklagten vom 02.11.2007 wird wegen der Einzelheiten Bezug
genommen.
Der Kläger hat sich unter dem 01.10.2007 und die Beklagte unter dem 02.11.2007 und
03.12.2007 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2
SGG einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Schriftsätze, die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die auf die Höhe des Rentenanspruchs beschränkte Klage ist als Teilanfechtungs- und
Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 4 SGG).
Über sie konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
entschieden werden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.
Das Begehren des Klägers, unter Abänderung des Bescheides die
Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge festzustellen, war dahingehend auszulegen,
dass er die Berücksichtigung von 33,4572 persönlichen Entgeltpunkten sowie von
10,0972 persönlichen Entgeltpunkten (Ost) bei der Berechnung der Rente begehrt. Denn
dies entspricht der Anwendung des Zugangsfaktors von 1,0.
Die Klage ist allerdings unbegründet. Die Beklagt hat bei der Berechnung der
persönlichen Entgeltpunkte des Klägers zu Recht einen auf 0,892 geminderten
Zugangsfaktor in Ansatz gebracht. Der Bescheid der Beklagten vom 10.07.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.08.2007 ist nicht rechtswidrig und verletzt
den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die Bewertung des Zugangsfaktors durch die Beklagte beruht auf der Regelung des § 77
Abs. 2 SGB VI. Gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für
Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente
waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für
den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in
Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist nach § 77 Abs. 2
Satz 2 SGB VI die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des
Zugangsfaktors maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60.
Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme (§
77 Abs. 2 S. 3 SGB VI).
Nach Ansicht der Kammer sind die Vorschriften des § 77 Abs. 2 SGB VI dahingehend
auszulegen, dass Erwerbsminderungsrenten nach dem 01. Januar 2004 (vgl. § 253a SGB
VI), die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, auf Grund
des auf 0,892 geminderten Zugangsfaktors stets einem Abschlag von 10,8 v. H.
unterliegen (so auch die rentenrechtliche Literatur, vgl. Polster in Kasseler Kommentar,
Sozialversicherungsrecht, Bd. 1, 2006, § 77 SGB VI, Rn. 21; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI,
§ 77, Rn. 45; Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 m. w. N.). Der Abschlag reduziert sich
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§ 77, Rn. 45; Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006 m. w. N.). Der Abschlag reduziert sich
nach der Vorschrift des § 264 c SGB VI i.V.m. Anlage 23 zum SGB VI nur, wenn der
Rentenbeginn vor dem 01.01.2004 liegt; im Falle des Klägers wurde der Zugangsfaktor
danach zutreffend auf 0,892 reduziert.
Die Kammer vermag sich der Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI, die der Entscheidung
des BSG vom 16. Mai 2006 zu Grunde liegt und auf die sich der Kläger bezieht, nicht
anzuschließen. Nach dem Urteil des 4. Senats des BSG unterliegen Bezieher einer
Erwerbsminderungsrente, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, Rentenabschlägen nur dann, wenn sie die Rente über das 60. Lebensjahr hinaus
beziehen. Auch die Entscheidung des 4. Senats bezieht sich auf den Rentenanspruch
einer Versicherten, deren zeitlich befristete Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des
60. Lebensjahres begann und vor Vollendung des 60. Lebensjahres endet (vgl. BSG,
Urteil vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R, abgebildet in JURIS-online unter
http://www.juris.de).
Nach den Ausführungen des 4. Senats ist allein diese Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI,
die einen verringerten Zugangsfaktor für Bezugszeiten vor Vollendung des 60.
Lebensjahres ausschließt, rechtmäßig und frei von verfassungswidriger Willkür. Denn auf
Grundlage dieser Vorschrift sei eine Durchbrechung des Prinzips der „(Vor-)
Leistungsbezogenheit der Rente“ nicht zulässig. Das Prinzip der „(Vor-)
Leistungsbezogenheit der Rente“ sei Ausdruck der Beachtung der Vorleistung, die ein
Versicherter für die Rentenversicherung erbracht hat und werde durch den in die
konkrete Rentenberechnung einzustellenden Zugangsfaktor, der grundsätzlich mit 1,0
bewertet ist, gewährleistet. Eine Reduzierung dieses Zugangsfaktors und damit eine
Nichtbeachtung der erbrachten Vorleistungen sei nur möglich, wenn besondere, im
Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe dies
ausnahmsweise erlauben würden. Solche Sachgründe lägen vor, soweit eine gegenüber
der nach dem Gesetz "normalen" Inanspruchnahme einer Rente eine "vorzeitige"
Inanspruchnahme mit individuellen Vermögensvorteilen im Vergleich zu
"Normalrentnern" mit gleicher Vorleistung erfolgt, so dass die Nichtberücksichtigung
eines Teils der Vorleistung zum Ausgleich dieser ungerechtfertigten, systemwidrigen
Vermögensvorteile notwendig sei (vgl. Rn. 15 f. des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006,
aaO). Die Zeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gelte gemäß § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI
aber ausdrücklich nicht als vorzeitige Inanspruchnahme. Auch schließe die Regelung des
§ 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI ausdrücklich einen Rentenabschlag für Bezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres aus (vgl. Rn. 25 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006,
aaO).
Diese Auslegung werde zudem durch die Entstehungsgeschichte des EM-ReformG
gestützt. Prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor durch das EM-ReformG war,
die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch
genommenen Altersrenten anzupassen und damit "Ausweichreaktionen von den
Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen
werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken".
Ein Ausweichen der Versicherten vor einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlag in eine
abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente sei aber erst ab dem 60. Lebensjahr möglich
(vgl. Rn. 33 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006). In den Gesetzesmaterialien fänden
sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten, die
vor dem vollendeten 60. Lebensjahr begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürfen (vgl. Rn. 34b des Urteil des BSG
vom 16. Mai 2006).
Diese Auslegung der Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG
ergibt sich nach Auffassung der Kammer nicht zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes
und ist zudem mit dem Willen des Gesetzgebers und der Gesetzeshistorie nicht
vereinbar. Vielmehr folgt aus der Entstehungsgeschichte der Norm, dass auch
Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden,
mit einem Abschlag zu versehen sind.
Mit Blick auf den Wortlaut des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI ist für die Kammer nicht
erkennbar, ob der Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres auch insoweit für die
Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, dass davor liegende Bezugszeiten
keine Rentenabschläge zur Folge haben sollen. Auch § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI stellt
lediglich fest, dass die Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung
des 60. Lebensjahres nicht als Zeiten einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten, ohne
jedoch daraus ausdrücklich den Schluss zu ziehen, dass die Personengruppe der
Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des
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Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des
63. Lebensjahres Rentenabschläge hinnehmen müssen.
Vielmehr ergänzt § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI die Ausgangsregelung des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr.
3 SGB VI, welche regelt, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer
Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr zu Abschlägen führt, dabei aber den
Beginn dieses „Vorzeitigkeitszeitraums“ offen lässt, und zwar dahingehend, dass eine
Verminderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente
notwendigerweise zeitlich begrenzt ist auf die Zeit zwischen Vollendung des 60. und 63.
Lebensjahres, d.h. auf maximal 36 Kalendermonate je 0,003. Damit regelt die Vorschrift
des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI eine Untergrenze der in § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI
genannten abschlagsfähigen Kalendermonate; hierzu zählt danach jeder Kalendermonat
der Inanspruchnahme von Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63.
Lebensjahres. Sie stellt zur Überzeugung der Kammer jedoch nicht, wovon die
Entscheidung des 4. Senats scheinbar ausgeht, eine Untergrenze der dem Abschlag
unterliegenden genannten Personengruppe auf die Gruppe der
Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des
63. Lebensjahres dar (vgl. Mey, RVaktuell 2007, S. 44, 46). Danach modifiziert § 77 Abs.
2 S. 3 SGB VI die Vorschrift des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI dahingehend, dass für die
Zeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres kein Abschlag erfolgt (so auch LSG
Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06).
Diese Auslegung ergibt sich vor allem aus den Gesetzesmaterialien zum EM-ReformG.
Dort findet sich kein Hinweis auf eine beabsichtigte Privilegierung der unter 60-jährigen.
Vielmehr soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Zugangsfaktor für „jeden Monat
des Rentenbeginns vor dem 63. Lebensjahr“ um 0,3 %, höchstens um 10,8 % gemindert
werden (BT-Drucksache 14/4230, S. 26, zu Nummer 22 (§ 77)). Hieraus ist zwar nur
indirekt, zur Überzeugung der Kammer aber zwingend zu entnehmen, dass der
Gesetzgeber davon ausging, dass die Verringerung des Zugangsfaktors alle
Erwerbsminderungsrenten erfasst, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch
genommen werden. Denn eine solche Formulierung ist nur dann zu erwähnen ist, wenn
sich ohne eine ausdrückliche entsprechende Formulierung ein höherer Abschlag
errechnen könnte (so auch SG Aachen, Urteil vom 09. Februar 2002, Az.: S 8 R 96/06).
Zwar ist zutreffend, dass mit dem EM-ReformG auch Ausweichreaktionen von den
Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen
werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegen gewirkt
werden soll, eine solche Ausweichreaktion aber nur bei Personen zu erwarten ist, die das
60. Lebensjahr vollendet haben. Allerdings war es das primäre Ziel des Gesetzgebers,
eine Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in
Anspruch genommenen Altersrenten bei Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum 60.
Lebensjahr zu erreichen (vgl. BT-Drucksache 14/4230, S. 1 und S. 26, zu Nummer 22 (§
77)).
Auch mit Blick auf die durch das EM-ReformG eingeführte Anhebung der
Zurechnungszeit gemäß § 59 SGB VI vermag sich die Kammer der Auslegung durch das
BSG nicht anzuschließen. Seit dem 01. Januar 2001 endet die Zurechnungszeit gemäß §
59 Abs. 2 S. 2 SGB VI mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Diesbezüglich heißt es in
der Gesetzesbegründung: „Vorteile eines längeren Rentenbezugs werden durch einen
verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen. Um die Wirkung auf die Renten für
erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene zu mildern, wird die Zeit
zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr (Zurechnungszeit), die bisher nur zu einem
Drittel angerechnet wurde, künftig in vollem Umfang angerechnet.“ (BT-Drs. 14/4230, S.
68). Daraus, dass der Gesetzgeber selbst von Einbußen der unter sechzigjährigen
Erwerbsminderungsrentner ausgeht, wird die eindeutige gesetzgeberische Intention
erkennbar, Erwerbsminderungsrenten auch vor Vollendung des 60. Lebensjahres auf
Grund eines verringerten Zugangsfaktors mit Abschlägen zu unterwerfen. Die
Entscheidung des 4. Senats ignoriert diesen Zusammenhang zwischen Rentenabschlag
und Anhebung der Zurechnungszeit und korrigiert entgegen dem ausdrücklichen Willen
des Gesetzgebers einen Teil des Regelungskomplexes im Wege einer
verfassungskonformen Auslegung, während es die damit im Zusammenhang stehende
Änderung des § 59 SGB VI unangetastet lässt. Die Grenze der verfassungskonformen
Auslegung wird indes durch den Gesetzeswortlaut und den Willen des Gesetzgebers
bestimmt (vgl. Plagemann in jurisPR-SozR 20/2006, Anm. 4; BVerfGE 100, 1, 43 ff.).
Auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI unter Beachtung von
Art. 14 GG führt angesichts der Verlängerung der Zurechnungszeiten durch den
Gesetzgeber des EM-ReformG zu keiner anderen Beurteilung. Nach ständiger
Rechtsprechung des BVerfG ist Voraussetzung für den Eigentumsschutz
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Rechtsprechung des BVerfG ist Voraussetzung für den Eigentumsschutz
sozialversicherungsrechtlicher Positionen, dass die vermögenswerte Rechtsposition auf
nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht (vgl. BVerfGE 69, 272 (300
f.); Beschluss des BVerfG vom 13. Juni 2006, (1 BvL 9/00)). Bei den Zurechnungszeiten
gemäß § 59 SGB VI handelt es sich um solche dem Kläger zugute kommenden
rentenrechtliche Zeiten, welche nicht auf Beitrags- und Beschäftigungszeiten beruhen
und trotzdem einen erheblichen Anteil an den Entgeltpunkten des Versicherten haben.
Jedoch kann eine Minderung des Zugangsfaktors für vor der Vollendung des 60.
Lebensjahres bezogene Erwerbsminderungsrenten nicht zum Schutz der
Rentenanwartschaft gemäß Art. 14 GG führen, wenn zugleich eine Verlängerung der
nicht beitragsgebundenen Zurechnungszeiten erfolgt. Unter Berücksichtigung der
Anhebung der Zurechnungszeit in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Diese
Anhebung der Zurechnungszeit steht mit dem Abschlag in engem Zusammenhang.
Beide Regelungen wurden nicht unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI
schrittweise eingeführt (Kreikebohm a. a. O., Rn. 13), so dass den Anforderungen an
deren Verhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf die Übergangsregelungen Genüge getan
ist.
Ebenso ist es mit Blick auf das durch die Erwerbsminderungsrente angestrebte
Versorgungsziel wohl nicht erklärbar, dass ein Versicherter ab dem 60. Lebensjahr eine
deutliche Rentenkürzung hinzunehmen hätte, obwohl seine Hinzuverdienstmöglichkeiten
mit zunehmenden Alter sinken, während der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente,
deren Bezugzeit vor dem 60. Lebensjahr endet, keinen Abschlägen unterliegt (so auch
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06).
Für die von der Kammer vertretene Auffassung spricht letztlich auch das „Gesetz zur
Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung
der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung“ vom 20.04.2007
(RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz, abgedruckt in BGBL. I Nr. 16 v. 30.04.2007 S. 554-
575), mit welchem die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben
werden. Aus dem Regelungsinhalt des Gesetzes und der Begründung ist erkennbar,
dass die Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG gerade nicht
dem Willen des Gesetzgebers des EM-ReformG entspricht. Demnach soll bei Beginn
einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit „mit oder vor Vollendung des 62.
Lebensjahres“, statt bisher dem 60. Lebensjahr, ein Abschlag von 10,8 % erhoben
werden. Auch sollen die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten i.H von 10,8 %
entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes und entgegen der
Entscheidung des 4. Senats des BSG in allen Fällen vorgenommen werden, in denen die
Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die
Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird (vgl. BR-Drs. 2/07, vom 05. Januar
2007, S. 91, zu Nummer 23 (§ 77)).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Sprungrevision war gemäß §§ 161 Abs. 1 und 2, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen,
weil das Urteil von der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R,
abweicht und auf dieser Abweichung beruht.Urteil:
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