Urteil des SozG Berlin vom 20.12.2006

SozG Berlin: stiefvater, nettoeinkommen, miete, unterhalt, vergleich, stiefeltern, leistungsanspruch, ausbildung, selbstbehalt, offenkundig

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 20.12.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 37 AS 11401/06 ER
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Monate Dezember 2006 bis Mai 2007 monatlich 276,-
EUR Alg II zu gewähren. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Der Antragsteller (Ast.) lebt mit seiner Mutter und deren Ehemann in einer gemeinsamen Wohnung zusammen. Er
hatte nach Abschluss einer Ausbildung zunächst Alg I bezogen und wegen Fortdauer der Arbeitslosigkeit am 1.9.2005
Alg II beantragt. Letztmalig war ihm für den Bewilligungsabschnitt März bis August 2006 Alg II in Höhe von 345,- EUR
Regelsatz plus 128,24 EUR (=1/3 der Gesamtmiete) Kosten der Unterkunft gewährt worden.
Seinen Fortzahlungsantrag wies der Antragsgegner (Ag.) mit der Begründung zurück, aufgrund einer seit dem
1.7.2006 geltenden Gesetzesänderung gehöre der Ast. als selbst nicht antrags-berechtigtes Kind zu der aus Mutter,
Stiefvater und ihm gebildeten Bedarfsgemeinschaft (BG).
Hiergegen wandte die Mutter des Ast. ein, dass ihr Sohn weder von ihr noch dem Stiefvater irgendwelche
Zuwendungen erhalte. Jeder wirtschafte notgedrungen für sich selbst, sie müsse mit dem schmalen Unterhalt ihres
Mannes auskommen.
Nach Zugang eines an den Ast. gerichteten Ablehnungsbescheides vom 17.10.2006 mit der Begründung einer
fehlenden Antragsbefugnis stellte die Mutter des Ast. einen Alg II-Antrag für den Ast ... Dieser Antrag ist noch
unbeschieden.
Der Ast. wies den Ag. in einem Schreiben vom 1.11.2006 darauf hin, dass er völlig mittellos sei und daher schon
wegen einer Notfallkostenübernahme vorgesprochen habe, worauf ihm eine Abschlagszahlung von 100,- EUR
ausgezahlt wurde.
Am 12.Dezember 2006 hat der Ast. das Sozialgericht Berlin um einstweiligen Rechtsschutz angerufen; die
ausbleibenden Leistungen hätten zu erheblichen Spannungen in der Familie geführt, da sein Stiefvater zu keiner
Unterstützung bereit sei und seine Mutter über keine eigenen Einkünfte verfüge.
Nach Fax-Auskunft der Mutter des Ast. vom 20.12.2006 erzielt der Stiefvater ein monatliches Nettoeinkommen von
2000,- EUR, von dem seit 2002 Bankschulden in Höhe von 660,- EUR monatlich getilgt werden. Dazu kämen diverse
Versicherungen (106,- EUR), eine Kreditrate für einen Autokauf im Jahr 2000 (110,- EUR) sowie die vom Stiefvater
getragene Miete von 422,05 EUR.
II.
Der Eilantrag ist als Vornahmeantrag nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang auch begründet. Dabei kann dahinstehen, ob in dem Schreiben des Ast. vom 1.11.2006 bei sachdienlicher
Auslegung ein fristgerechter Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.10.2006 gesehen werden kann; denn selbst
wenn dies nicht so sein sollte, hinderte der Ablehnungsbescheid vom 17.10.2006 nicht an einer materiellrechtlichen
Entscheidung über die Hilfebedürftigkeit bzw. einen Leistungsanspruch. Der Inhalt des Bescheides vom 17.10.2006
beschränkt sich nämlich auf die Behauptung, der Ast. sei als "Kind" der BG nicht antragsbefugt. Dies ist
offensichtlich unrichtig. Mit der eigenen Antragstellung hat der Ast. die Vermutung des § 38 SGB II aufgehoben, so
dass er kraft Beteiligungsfähigkeit nach den §§ 10, 11 SGB X seinen trotz BG-Mitgliedschaft eigenständigen
Leistungsanspruch geltend machen und gerichtlich durchsetzen kann.
Überdies könnte sich der Ast. unter Bezugnahme auf den (fehlerhaften) Rechtsstandpunkt des Ag. darauf berufen,
dass er mit dem Eilantrag nach § 86 b SGG den noch unbeschiedenen Alg II-Antrag der vermeintlichen BG-Vertreterin
(seiner Mutter) verfolge.
In der Sache geht es um das Problem, in welchem Umfang der Stiefvater für den Lebens-unterhalt des Ast.
aufkommen muss. Nach der bis zum 31.7.2006 geltenden Fassung von § 9 Abs. 2 SGB II war der Stiefvater nach
einhelliger Auffassung der Landessozialgerichte nur in den Grenzen der Verwandtenhaftung des § 9 Abs. 5 SGB II zur
Unterstützung verpflichtet, sofern diese Unterstützungserwartung nicht widerlegt wird.
Daran gemessen wäre der Stiefvater bei dem angegeben Nettoeinkommen von bereinigt 880,- EUR (Nettoeinkommen
abzüglich des Freibetrages nach § 30 SGB II) nach Abzug der Kreditver-bindlichkeiten (vgl. dazu OVG NRW, Urteil
vom 24.11.2003 – 24 A 335/91), der von ihm übernommenen Miete (aktuell 422,05 EUR), des Freibetrages nach § 1
Abs. 2 Alg II-VO (= 690,- EUR) sowie der unwiderlegbar verlangten Unterstützung der Ehefrau (= 311 EUR) zu keiner
weiteren Unterstützung des Ast. verpflichtet.
Daran hat sich mit der Neufassung von § 9 Abs. 2 SGB II durch das Fortentwicklungsgesetz nichts geändert. Denn
zur Vermeidung einer ansonsten offensichtlich verfassungswidrigen Überspannung des Einkommenseinsatzes für das
nichtleibliche "Kind" in der BG muss die Vorschrift verfassungskonform so ausgelegt werden, dass zwar keine
Widerlegung der Unterstützung möglich ist, die unwiderlegbare Unterstützungserwartung aber nach wie vor erst bei
einem den Freibetrag des § 9 Abs. 5 SGB II i.V.m. § 1 Abs. 2 Alg II-VO übersteigenden Einkommen einsetzt.
Da § 9 Abs. 2 SGB II nur von Einkommensberücksichtigung spricht, ohne selbst den Umfang der
Einkommensberücksichtigung festzulegen und die Gesetzesbegründung zu § 9 Abs. 2 n.F. allein auf die
Gleichstellung verheirateter gegenüber unverheirateten Einstandpartnern einer BG abstellt (BT-Drs. 16/1440, S. 51),
lässt das Gesetz Spielraum für einen unterschiedlichen Einkommenseinsatz der leiblichen Eltern im Vergleich zum
Stiefelternteil/Stiefpartner.
Die Landessozialgerichte hatten auch zur früheren Gesetzesfassung keine Bedenken gesehen, die Auslegungshürde
zu überwinden, dass Stiefeltern und Partnerkinder unstreitig in einer BG mit der zwingenden Unterstützungserwartung
des § 2 Abs. 2 Satz 2 SGB II leben, wohingegen § 9 Abs. 5 SGB II auf eine Haushaltsgemeinschaft Bezug nimmt.
Die bereits unter Geltung der früheren Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II von den Landes-sozialgerichten
herausgestellte Verfassungswidrigkeit eines vollen Einkommenseinsatzes des Stiefelternteils/partners hat sich mit
dem Konstrukt der um junge Erwachsene erweiterten BG noch verschärft und wird insbesondere an den folgenden drei
Punkten offenkundig:
Nach Rechtsprechung des BVerfG darf der Einkommenseinsatz leiblicher Eltern gegenüber ihren minderjährigen
Kindern die Selbstbehalt-Grenze des doppelten Sozialhilfe-Regelsatzes nicht überschreiten; anderenfalls werde Art. 2
GG (Handlungsfreiheit) verletzt (Entscheidung vom 20.8.2001 – 1 BvR 1509/97). Es ist kein sachlicher Grund dafür
erkennbar, Stiefeltern oder gar Partner schlechter zu stellen als die gesteigert unterhaltspflichtigen Eltern. Der
Einwand, dass das Existenzminimum über aufstockende SGB II-Leistungen gesichert werde, greift nicht, da es gegen
Art. 1 GG verstößt, einen selbst nicht Hilfebedürftigen zum Empfän-ger einer Fürsorgeleistung zu machen (BVerwG.
Urteil vom 26.11.1998 – BVerwGE 108, S. 35 ff).
Ein voller Einkommenseinsatz des Stiefelternteils/partners führte außerdem zu einer willkürlichen Schlechterstellung
gegenüber SGB XII-Leistungsberechtigten. Nach §§ 20, 36 SGB XII gilt im SGB XII eine – widerlegbare -
Unterstützungserwartung bei Überschreitung eines Selbstbehalts von mindestens dem doppelten Regelsatz mit einer
im Vergleich zu gesteigert Einsatzpflichtigen großzügigeren Einkommensbereinigung (vgl. dazu OVG NRW,
Beschluss vom 9.2.2004 – 12 E 833/02).
Schließlich verletzte eine volle Einkommensheranziehung auch Art. 6 GG, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt
einer Familiensprengenden Einstandshaftung (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 24.11.2003 – 24 A 335/91) als auch
eines Eingriffs in das Erziehungsrecht zum leiblichen Kind des Stiefelternteils/partners, das außerhalb der BG lebt.
Unter der Forderung einer vollen Einsatzhaftung für die BG-Kinder ginge dem leiblichen Elternteil die Möglichkeit
verloren, sein Kind ohne titulierten Unterhaltsanspruch (nur dieser ist nach § 11 Abs. 2 Nr. 7 SGB II absetzbar)
finanziell zu unterstützen.
Auf einen Unterhaltsanspruch gegen seine Mutter kann der Ast. nicht verwiesen werden. Zwar hat der BGH jüngst
entschieden, dass auch die Hausfrau/der Hausmann bei Unterstützung durch den neuen Partner zumindest den
Taschengeldanspruch nach §§ 1360, 1360a BGB für den Unterhalt der leiblichen Kinder einsetzen muss (Urteil vom
5.10.2006 – XII ZR 197/02), zivilrechtlich ist der Ast. nach Abschluss einer Ausbildung jedoch nur unter besonderen,
hier nicht gegebenen Umständen überhaupt noch unterhaltsberechtigt.
Es steht somit fest, dass der Ast. von seinem Stiefvater über die Mietzahlung hinaus keine Unterstützung verlangen
kann. Ihm steht daher der abgesenkte Regelsatz von 276,- EUR nach § 20 Abs. 3 SGB II in der ab 1.7.2006
geltenden Fassung zu.
Im Übrigen ist vollstreckungsrechtlich für den nur seiner Ehefrau gegenüber unterhalts-verpflichteten Stiefvater das
einen Monatsbetrag von 1359,99 EUR übersteigende Einkommen nicht vor einem Zugriff der Banken geschützt (vgl.
zu diesem Aspekt der Stiefelternhaftung LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.7.2005 – L 14 B 48/05 AS ER).
zu diesem Aspekt der Stiefelternhaftung LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.7.2005 – L 14 B 48/05 AS ER).
Nach Zahlung der Miete und des fiktiven SGB II-Bedarfs der Ehefrau (311,- EUR) verbleiben somit vom unbereinigten
Nettoeinkommen nur noch 626,- EUR, also ein Betrag unterhalb des von Art. 2 GG geschützten Mindestselbstbehalts.
Ob die Familienverhältnisse bereits so zerrüttet sind, dass der Ast. als bloßer Mitbewohner mit vollem
Regelsatzanspruch zu gelten hat (Auflösung jeder Form des gemeinsamen Wirtschaf-tens), muss der weiteren
Sachverhaltsaufklärung im Hauptsachverfahren vorbehalten bleiben. Hier ist dann auch zu klären, ob die volle
Mietübernahme nur eine die Hilfebedürftigkeit nicht beseitigende Nothilfe wegen der eingestellten SGB II-Leistungen
darstellt.
Hinsichtlich des Beschlusszeitraums hat das Gericht unter Beachtung des Grundsatzes, dass die Hauptsache nur
soweit vorweggenommen werden darf, wie es die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gebietet, den Monat des
Antragseingangs bei Gericht mit der Dauer eines regulären Bewilligungsabschnitts genommen. Erkennbare
Änderungen, die zu einer Schmäle-rung des Anspruchs führen, sind im genannten Zeitraum nicht ersichtlich
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.