Urteil des SozG Berlin vom 13.03.2017
SozG Berlin: adipositas, operation, ohne aussicht auf erfolg, unter ärztlicher kontrolle, gefährdung der gesundheit, resektion, gesellschaft, körperliche unversehrtheit, plastische chirurgie
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Gericht:
SG Berlin 72.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 72 KR 667/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1 S 2 SGB 5, § 12 Abs 1 SGB
5, § 27 Abs 1 S 1 SGB 5, § 27
Abs 1 S 2 Nr 5 SGB 5, § 39 Abs
1 S 2 SGB 5
Krankenversicherung - Adipositaschirurgie als
Krankenbehandlung - Kostenübernahme einer operativen
Resektion einer abdominalen Fettschürze, einer Rekonstruktion
der Bauchwand bei ausgeprägter Umbilicalhernie sowie eines
bariatrischen Eingriffs - BMI von mehr als 40 kg/ m² - zunächst
Ausschöpfung der konservativen Behandlungsmethoden
Leitsatz
1. In Anwendung der Grundsätze der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum
krankenversicherungsrechtlichen Begriff der Krankheit (vgl zuletzt BSG, Urteil vom
28.09.2010, B 1 KR 5/10 R) kann einer Fettschürze selbst ein Krankheitswert zukommen. Dies
ist insbesondere dann der Fall, wenn die Fettschürze ein solches Ausmaß erreicht hat, dass
ihr eine entstellende Wirkung zukommt.
2. Auch bei einem body mass index von mehr als 40 kg/m² (hier 63,7 kg/m²) kommt eine
chirurgische Behandlung der Adipositas zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung als
ultima ratio grundsätzlich nur nach Ausschöpfung der konservativen
Behandlungsmöglichkeiten in Betracht.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2009 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 18.03.2010 wird insoweit aufgehoben, als die
Beklagte die Übernahme der Kosten für eine Resektion der abdominalen
Fettschürze und eine Rekonstruktion der Bauchwand bei ausgeprägter
Umbilicalhernie abgelehnt hat.
Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine Resektion der abdominalen
Fettschürze und eine Rekonstruktion der Bauchwand bei ausgeprägter
Umbilicalhernie zu übernehmen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu zwei
Dritteln.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer operativen Resektion der abdominalen
Fettschürze, Rekonstruktion der Bauchwand sowie einer bariatrischen Operation.
Der am ….1961 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet an
Adipositas per magna bei einem body mass index (BMI) von ca 63,7 kg/m
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(Körpergewicht ca. 230 kg bei einer Körpergröße von 190 cm) mit einer chronisch
entzündlich veränderten abdominalen Fettschürze mit mechanischer Behinderung der
Hüftgelenksflexion. Weiterhin besteht ein massiver Lymphstau sowie Rötung der
gesamten Bauchhaut, die rezidivierende intertriginöse Ekzeme und rezidivierende
erysipeloide Entzündungen aufweist. Als weitere Diagnosen bestehen arterielle
Hypertonie, Bauchdecken- und Nabelhernie, degenerative Skelettveränderungen,
rezidivierende Depressionen und Verdacht auf eine hyperphage Essstörung.
Nach einer Untersuchung in der Sch-Klinik beantragte Frau Dr. M im November 2009 die
Übernahme der Kosten einer operativen Resektion der abdominalen Fettschürze, einer
Rekonstruktion der Bauchwand bei ausgeprägter Umbilicalhernie sowie einer
bariatrischen Operation. Ausweislich des dem Antrag beigefügten Befundberichts kam
wiederholt zu Entzündungen der Bauchhaut und bestand eine maximale Gehstrecke von
5 bis 10 Metern.
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Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK). Herr Dr. D kam in seinem Gutachten nach Aktenlage vom
18.11.2009 zu dem Ergebnis, dass vorrangig konservative Behandlungsmaßnahmen
durchzuführen seien. Es sei nicht ersichtlich, in wieweit derartige Therapieversuche
bereits erfolgt seien.
Gestützt auf das MDK-Gutachten lehnte die Beklagte die beantragten Eingriffe durch
Bescheid vom 27.11.2009 ab. Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch wies
die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.03.2010 zurück, nachdem sie zuvor ein
Zweitgutachten vom MDK erfordert hatte, das Herr R N am 16.02.2010 wiederum nach
Aktenlage erstellte. Adipositas-chirurgische Maßnahmen kämen nur als ultima ratio nach
Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel in Betracht. Voraussetzung hierfür
sei, dass eine konservative Therapie möglichst unter ärztlicher Anleitung oder im
Rahmen von Selbsthilfegruppen über mindestens ein Jahr und unter Beachtung
entsprechender Qualifikationsanforderungen erfolglos versucht worden sei. Zusätzlich
müsse das Ernährungsverhalten langfristig geändert werden. Des weiteren müsse die
Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung gegeben sein sowie
ausreichend Motivation des Patienten vorliegen. Die Magenbandoperation könne nur als
unterstützende Maßnahme im Rahmen eines intensiven, allgemeinen interdisziplinären
Gesamtkonzepts verstanden werden. Ausdrücklich fordere die Leitlinie der Deutschen
Adipositas-Gesellschaft, dass vor Indikationsstellung für eine adipositas-chirurgische
Maßnahme wenigstens eine sechs- bis zwölfmonatige konservative Behandlung
stattgefunden haben sollte. In der Leitlinie der chirurgischen Fachgesellschaft werde
analog festgestellt, dass adipositas-chirurgische Maßnahmen erst bei solchen Patienten
in Betracht gezogen werden sollten, bei denen unter ärztlicher Kontrolle durchgeführte
konservative Behandlungsmaßnahmen nachweislich nicht erfolgreich waren. Nach der
gutachterlichen Einschätzung des MDK seien diese Voraussetzungen beim Kläger nicht
erfüllt. Aus den vorgelegten Unterlagen gehe nicht hervor, ob und in welcher Weise der
Kläger bisher konservative Maßnahmen zur Gewichtsreduktion durchgeführt habe. Die
Basisbehandlung einer Adipositas bestehe in jedem Stadium in einer Ernährungs-,
Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Eine chirurgische Behandlung könne erst nach
Scheitern der konservativen Behandlungsversuche in Betracht gezogen werden.
Vorrangig sei die Fortführung des im Rahmen der Ernährungsberatung Erlernten,
ergänzt mit einem Bewegungsprogramm in einem über sechs bis zwölf Monate
angelegten strukturierten Programm. Hinsichtlich der Hautveränderung im Bereich der
Fettschürze sei eine lokalchirurgische Maßnahme nicht sinnvoll.
Dagegen hat der Kläger am 20.04.2010 Klage erhoben. Er weist darauf hin, dass er seit
ca. 2 Jahren unter extremem Übergewicht von ca. 230 kg leide und daraus erhebliche
gesundheitliche Probleme folgten. Insbesondere sei es in der Vergangenheit mehrfach
zu akuten und inzwischen chronischen Entzündungen der Bauchdecke gekommen, mit
der beständigen Gefahr der Entwicklung einer lebensbedrohlichen Sepsis. Dem Kläger
sei daher dringend zu einer chirurgischen Behandlung geraten worden, wobei als erste
dringende Maßnahme die Entfernung der Bauchfettschürze mit Bauchdeckenstraffung
erfolgen solle, um die konservative als auch ggf. operative weitere Behandlung
vorzubereiten. Der Kläger sei zu den von der Beklagten geforderten konservativen
Behandlungsmaßnahmen nicht in der Lage. Zum einen fehle die Zeit für die einjährigen
Maßnahmen, die nicht ohne weitere Gefährdung der Gesundheit erfolgen könnten; zum
anderen könne er sich kaum in der eigenen Wohnung ohne Hilfe bewegen und schon gar
nicht versorgen. Deshalb erhalte er Pflegeleistungen nach der Pflegestufe 1. Er sei auch
nicht in der Lage, die Wohnung zwecks Teilnahme an Ernährungskursen oder
Selbsthilfeberatung zu verlassen. Die behandelnden Ärzte hätten angeraten, zunächst
durch eine operative Entfernung des überschüssigen Bauchfettes die
Bewegungsfähigkeit des Klägers wieder herzustellen und ihn so in die Lage zu versetzen,
an der weiter notwendigen Gewichtsreduzierung aktiv mitzuwirken. Vorrangig gehe es
dem Kläger um die chirurgische Resektion der abdominalen Fettschürze und
Rekonstruktion der Bauchwand. Hauptziel sei dabei die Verhinderung weiterer
gefährlicher Infektionen der Bauchhaut, die bereits zweimal aufgetreten seien. Darüber
hinaus sei aber auch die Indikation für die operative Einbringung eines Magenbandes mit
dem Ziel einer dauerhaften weiteren Gewichtsreduzierung gegeben. Bei dem extremen
Übergewicht des Klägers und einem BMI von 64 sei das Magenband auch ohne
vorangegangene konservative Maßnahmen als ultima ratio anzusehen, denn bei einem
Gewicht von 230 kg könne ein Normalgewicht allein mit konservativen Maßnahmen nicht
erreicht werden. Etwas anderes folge auch nicht aus dem von der Beklagten in Bezug
genommenen Adipositasprogramm des Klinikums St. Georg gGmbH, Leipzig. Weder sei
aus dessen Veröffentlichung die Zahl der Teilnehmer mit einem BMI von 63,7 ersichtlich,
noch der von dieser Personengruppe erzielte Erfolg. Außerdem sei die Vergleichbarkeit
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noch der von dieser Personengruppe erzielte Erfolg. Außerdem sei die Vergleichbarkeit
sonstiger Ausgangspositionen wie Beweglichkeit oder Fettverteilung am Körper nicht
erkennbar.
Der Kläger beantragt (in sachgemäßer Auslegung des Klagantrags),
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.11.2009 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2010 zu verurteilen, die Kosten für operativen
Resektion der abdominalen Fettschürze, Rekonstruktion der Bauchwand bei
ausgeprägter Umbilicalhernie sowie einer bariatrischen Operation zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verbleibt nach Einholung weiterer Stellungnahmen des MDK, die sämtlich nach
Aktenlage ergingen, bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen
Rechtsauffassung. Vor Inbetrachtziehen einer adipositas-chirurgischen Maßnahme seien
dringend alle konservativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dazu zählten ein Programm
mit Bewegungstherapie und Herz-Kreislauftraining zum Abnehmen unter ärztlicher
Aufsicht sowie eine Änderung der Ess- und Bewegungsgewohnheiten. Auch sei zu prüfen,
ob eine seelische Störung vorliege, die zuerst behandelt werden müsse. Gegen das vom
Gericht eingeholte Sachverständigen-Gutachten von Herrn Prof. Dr. B wendet die
Beklagte ein, dass dieses keine ausführliche Analyse der Essgewohnheiten des Klägers
beinhalte. Das Gutachten sei auch hinsichtlich der Motivation des Klägers unklar.
Außerdem seien die Aussagen zur Fettschürze nicht schlüssig, da der Sachverständige
einerseits auf Entzündungen und Druckulzera hinweise und andererseits ausführe, dass
die Fettschürze erst nach erfolgter Gewichtsreduktion zu entfernen sei. Objektivierbare
Unterlagen zu Abnehm- oder Diätversuchen des Klägers würden nicht benannt.
Nachweise über eine Ernährungsumstellung seien jedoch insbesondere im Hinblick
darauf wichtig, dass auch nach einer adipositas-chirurgischen Maßnahme eine
dauerhafte Lebensstiländerung unumgänglich sei. Die Beklagte verweist auf erste
Ergebnisse des Adipositasprogramms des Klinikums St. Georg gGmbH, Leipzig. Dies
zeige, dass selbst bei Patienten mit einem BMI von 109 kg/m² durch eine multimodale
Behandlung im Verlauf nur eines Jahres ein erheblicher Gewichtsverlust erreicht werden
könne.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das Gericht ärztliche Befundberichte von der
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Frau R, von Frau Dr. M, Chefärztin Abteilung Plastische
Chirurgie der Sch… Klinik und von Dr. B, Oberarzt der C…, Universitätsklinik für
Anästhesiologie und operative Intensivmedizin eingeholt. Weiterhin hat das Gericht ein
Sachverständigengutachten von Prof. Dr. B, Arzt für Plastische und Ästhetische
Chirurgie, eingeholt, der im Gutachten vom 20.10.2010 eine medizinische Indikation für
sämtliche beantragten Leistungen feststellt. Zum Inhalt der eingeholten ärztlichen
Stellungnahmen und des Sachverständigengutachtens wird auf die Gerichtsakte
verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der
Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne
mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zuvor ihr Einverständnis damit
erklärt hatten.
Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) ist
im tenorierten Umfang begründet. Der angefochtene Bescheid vom 27.11.2009 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2010 ist insoweit rechtswidrig, als die
Beklagte dem Kläger die Kostenübernahme für eine operative Entfernung der
Fettschürze (hierzu unter Ziff. 1) und eine operative Behandlung des Nabelbruchs
(hierzu unter Ziff. 2) versagt hat. Hingegen hat die Beklagte zu Recht die Bewilligung der
beantragten bariatrischen Operation abgelehnt. Insoweit ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht
feststellbar, dass diese zur Beseitigung einer Krankheit medizinisch erforderlich ist (vgl.
hierzu Ziff. 3).
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1.
Rechtsgrundlage für die mit der Klage beanspruchte operative Fettschürzenresektion ist
§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung,
wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
a)
In der Rechtsprechung wird Krankheit definiert als regelwidriger Körper- oder
Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder - zugleich oder
allein - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Als regelwidrig wird ein Zustand angesehen, der
von der Norm, also vom Leitbild des gesunden Menschen, abweicht (vgl. BSG, Urteil vom
19.02.2003, B 1 KR 1/02 R m.w.N.). Krankheitswert im Rechtssinne kommt dabei nicht
jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in
seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom
Regelfall leidet, die entstellend wirkt (stRspr, vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 28.09.2010, B 1
KR 5/10 R m.w.N.). Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede
körperliche Anormalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit
handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit
und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht,
zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der
Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben
in der Gesellschaft gefährdet ist. Dabei muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen
Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen
Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des
Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl. BSG, Urteil vom 28.02.2008, B 1 KR
19/07 R).
Die ausgeprägte Fettschürze Grad V des Klägers stellt als solche eine
behandlungsbedürftige Krankheit dar (vgl. dazu, dass einer Fettschürze als solcher
Krankheitswert zukommen kann BSG, Beschluss vom 01.03.2011, B 1 KR 118/10 B).
Bereits aus dem vorliegenden Bildmaterial ist zweifelsfrei ersichtlich, dass der
Fettschürze eine entstellende Wirkung im Sinne der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts zukommt. Diese Einschätzung wird auch durch die Ausführungen
des Sachverständigen Herrn Prof. Dr. B in seinem Gutachten vom 20.10.2010
untermauert. Nach den Feststellungen des Herrn Prof. Dr. B im Rahmen der körperlichen
Untersuchung am 19.10.2010 leidet der Kläger an einer massiven Haut-Fettschürze mit
rezidivierenden Entzündungen und entzündlichen Scheuerstellen in Baubereich und
Leisten. Die Fettschürze ist im Vergleich zum übrigen adipösen Körperbau
unverhältnismäßig stark ausgeprägt und prall mit Wasser und Lymphflüssigkeit gefüllt
und hat ein sehr großes Gewicht; sie erreicht in vertikaler Länge das Kniegelenk. Nach
der Überzeugung der Kammer hat die Fettschürze des Klägers ein solches Ausmaß
erreicht, dass der Kläger – wenn er in der Lage wäre, seine Wohnung zu verlassen und
sich in die Öffentlichkeit zu begeben – die Blicke der Menschen auf sich ziehen würde und
negative Reaktionen erhalten würde.
Darüber hinaus beeinträchtigt die Fettschürze den Kläger auch in seinen
Körperfunktionen. Nach den nachvollziehbaren und schlüssigen Darlegungen des Herrn
Prof. B sowie den Ausführungen der Frau R als die den Kläger regelmäßig betreuende
Ärztin steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Fettschürze ursächlich ist für
die massiven Bewegungseinschränkungen des Klägers. Hierzu hat Frau R in ihrem
Befundbericht vom 09.07.2010 näher ausgeführt, dass der Kläger seit Wochen nicht
mehr gehfähig ist, sich nur noch sitzend sich auf die Seite drehen kann, nicht stehen
kann und im Sitzen oder auf Knien, mit dem Oberkörper auf dem Sofa gestützt, schläft.
Herr Prof. Dr. B hat darauf hingewiesen, dass sich an der Vorderseite beider Knie des
Klägers eine ausgeprägte rötlich veränderte Hornhaut mit Ulcerationen befindet, die
wohl auf die Schlafposition des Klägers und die Art seiner Fortbewegung in der Wohnung
(„Vier-Füssler-Gang“) zurückzuführen sind. Angesichts dieser Ausführungen vermögen
die Einwände des Herrn N vom MDK in seiner Stellungnahme vom 17.08.2010 nicht zu
überzeugen. Sofern Herr N in dieser Stellungnahme darauf hinweist, dass aus den
Unterlagen nicht hervorgehe, aus welchen Gründen die Mobilität des Klägers
eingeschränkt sei, dass insbesondere auch kardiale oder orthopädische Probleme in
Betracht zu ziehen seien, ist klarzustellen, dass die Stellungnahme – wie sämtliche
vorliegende Stellungnahmen des MDK – allein nach Aktenlage erfolgte; auf eine
körperliche Untersuchung des Klägers hat der MDK verzichtet. Bereits aus diesem
Grunde hält die Kammer die Ausführungen des MDK nicht für geeignet, die
Feststellungen des Sachverständigen und der behandelnden Ärztin des Klägers zu
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Feststellungen des Sachverständigen und der behandelnden Ärztin des Klägers zu
erschüttern. Hinzu kommt, dass aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen weder
kardiale noch orthopädische Probleme des Klägers als Ursachen der schweren
Mobilitätseinschränkungen ersichtlich sind. Die Einschätzung des MDK beschränkt sich
damit auf bloße Mutmaßungen.
Schließlich kommt der Fettschürze selbst ein Krankheitswert auch insoweit zu, als diese
chronisch entzündlich verändert ist und ein massiver Lymphstau sowie eine Rötung der
gesamten Bauchhaut besteht, die rezidivierende intertriginöse Ekzeme und
rezidivierende erysipeloide Entzündungen aufweist.
b)
Gem. § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V umfasst die Krankenbehandlung auch
Krankenhausbehandlung. Die operative Resektion der Fettschürze ist als Teil der
Krankenbehandlung gem. § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V geeignet, mindestens ein
Behandlungsziel des § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V zu verwirklichen. Namentlich wird durch die
Entfernung der Fettschürze die bestehende Entstellung beseitigt und damit die hierin
bestehende Krankheit geheilt. Weiterhin kann ein weiteres Anwachsen der Fettschürze
dadurch verhindert und damit eine Verschlimmerung der Krankheit verhütet werden.
Außerdem kann nach den Feststellungen der behandelnden Ärzte und des
Sachverständigen die bestehende Mobilitätsbeeinträchtigung des Klägers durch eine
Resektion der Fettschürze deutlich verbessert werden, was zu einer Linderung
bestehender Krankheitsbeschwerden führt. Schließlich erachten sowohl Herr Prof. Dr. B
als auch Frau R, Frau Dr. M und Herr Dr. B die Beseitigung der Gefahr einer drohenden
Infektexacerbation mit Blutvergiftung aufgrund der wiederkehrenden erysipeloiden
Entzündungen der Bauchhaut als vorrangiges Behandlungsziel. Frau R hat hierzu in
ihrem Befundbericht angegeben, dass sie beim Kläger regelmäßig prophylaktische
Antibiotikabehandlungen durchführt. Prof. Dr. B bezeichnet den Kläger als Hoch-Risiko-
Patienten. Frau Dr. M und Herr Dr. B gehen – nach allerdings nur einmaliger
Untersuchung des Klägers Anfang September 2009 – davon aus, dass eine akute Gefahr
einer Infektexacerbation mit einer möglichen lebensbedrohenden Sepsis besteht. Die
Entfernung der Fettschürze dient insoweit der Verhütung einer Verschlimmerung der
Hauterkrankung.
c)
Bei dem Kläger ist weiterhin auch die Indikation für eine operative Resektion der
Fettschürze gegeben, d.h. eine vollstationäre chirurgische Behandlung ist unter
Berücksichtigung von Behandlungsalternativen notwendig und wirtschaftlich (§ 12 Abs 1,
§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB V).
Nach § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung
in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch
das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor-
und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege
erreicht werden kann. Die Krankenhausbehandlung umfasst im Rahmen des
Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und
Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im
Krankenhaus notwendig sind (§ 39 Abs. 1 S. 3 SGB V). Eine stationäre operative
Maßnahme ist danach erst dann angezeigt, wenn das Behandlungsziel nicht auf
anderem Wege erreicht werden kann (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 20.03.2009, Az.:
L 5 KR 182/08). Lässt sich eine erforderliche medizinische Behandlung in ebenso guter
Weise auch außerhalb eines Krankenhauses durchführen, so besteht kein Anspruch auf
Krankenhausbehandlung. Hierunter fällt neben der Behandlung in der Arztpraxis auch
die ärztliche Krankenbehandlung in der Wohnung des Versicherten, ggf. in Kombination
mit häuslicher Krankenpflege (§ 37 SGB V). Ferner gehört dazu die ärztliche Versorgung
und sonstige medizinische Betreuung der Bewohner von Pflegeheimen, von
Einrichtungen der Behindertenhilfe und von sonstigen Heimen oder Anstalten. Ein
Anspruch auf Krankenhausbehandlung ist außerdem ausgeschlossen, wenn keine akute
medizinische Behandlung einer Krankheit erforderlich, sondern medizinische
Rehabilitation oder dauerhafte Pflege ausreichend ist (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.2004, B
3 KR 18/03 R).
Entgegen der Auffassung der Beklagten geht die Kammer davon aus, dass konservative
Behandlungsmöglichkeiten, die zu einer Reduzierung der Fettschürze innerhalb eines
unter Berücksichtigung der jederzeitigen Gefahr einer Infektexacerbation vertretbaren
Zeitrahmens führen würden, nicht bestehen. Dabei hält die Kammer die Ausführungen
der behandelnden Ärzte und des Herrn Prof. Dr. B betreffend die Hauterkrankungen auf
der Fettschürze und die Gefahr einer Infektexacerbation mit Sepsis für nachvollziehbar
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der Fettschürze und die Gefahr einer Infektexacerbation mit Sepsis für nachvollziehbar
und schlüssig. Der unsubstantiierte Hinweis von Herrn N in seiner Stellungnahme vom
01.09.2010, dass kein dermatologischer Befund hinsichtlich der Bauchhaut vorliege und
- da offensichtlich infektfreie Intervalle erzielbar seien - anhand der Unterlagen nicht
abgeleitet werden könne, dass konservative dermatologische Maßnahmen zur
Beherrschung der Bauchhautinfektion nicht ausreichen würden, ist nicht geeignet, die
Einschätzungen der behandelnden Ärzte und des Sachverständigen zu erschüttern. Es
mangelt auch insoweit an einem konkreten, mit medizinischen Befunden unterlegten
Vortrag, welche konservativen Maßnahmen in welchem Umfang ausreichend sein sollen.
Soweit die Beklagte den Kläger unter Hinweis auf die Stellungnahmen der Gutachter des
MDK auf eine multimodale Adipositastherapie verweisen will, ist nach den
nachvollziehbaren Ausführungen von Herrn Prof. Dr. B und Frau R davon auszugehen,
dass der Kläger nicht in der Lage ist, an einem solchen Therapiekonzept teilzunehmen,
so dass hierdurch eine relevante Gewichtsreduzierung innerhalb eines überschaubaren
Zeitrahmens nicht zu erreichen ist. Denn eine derartige integrierte Therapie besteht
nach den Leitlinien zur Prävention und Therapie der Adipositas (herausgegeben von der
Deutschen Adipositas-Gesellschaft, der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung und der Deutschen Gesellschaft für
Ernährungsmedizin, vom 25.05.2007, im Folgenden: Leitlinien zur Prävention und
Therapie der Adipositas) aus den Elementen der Ernährungs-, Bewegungs- und
Verhaltenstherapie (Punkt 6.4). Weiterhin gehören danach regelmäßige strukturierte
Schulungen in der Gruppe zu den Qualitätskriterien eines ambulanten
Adipositasprogramms (Tabelle 5, S. 20). Für die Kammer ist nicht ersichtlich, wie es dem
Kläger angesichts der glaubhaft geschilderten starken Mobilitätseinschränkungen
möglich sein soll, die nach den Leitlinien zur Prävention und Therapie der Adipositas
geforderten Bewegungseinheiten und Gruppenschulungen wahrzunehmen.Auch in den
S3-Richtlinien wird darauf hingewiesen, dass insbesondere schwer adipöse Patienten – zu
denen der Kläger gehört - häufiger gewichtsbedingte körperliche Einschränkungen
aufweisen, welche ihnen nur eine eingeschränkte oder gar keine Teilnahme an
Bewegungsprogrammen erlauben (vgl. 13 f.). Herr N legt demgegenüber in seiner
Stellungnahme vom 01.09.2010 dar, dass auch bei einem BMI von mehr als 60 eine
relevante Gewichtsabnahme durch eine multimodale Therapie erreicht werden könne.
Diese Ausführung ist allerdings zu pauschal und unsubstantiiert, um die konkreten
Darlegungen des Herrn Prof. Dr. B und der Frau R zu erschüttern. Insbesondere benennt
Herr N keine konkreten Bewegungstherapieoptionen. Hierzu wird auf die Rechtsprechung
des BSG hingewiesen, nach der es nicht ausreichend ist, theoretisch vorstellbare
Behandlungsalternativen aufzuzeigen. Vielmehr ist hinsichtlich der
Behandlungsalternativen eine konkrete Betrachtungsweise erforderlich:
(BSG, Urteil vom 13.05.2004, B 3 KR
18/03 R)
Dieser Unterrichtungspflicht ist die Beklagte hier nicht nachgekommen. Ihre
Ausführungen hinsichtlich der Vorrangigkeit konservativer Behandlungsmethoden,
insbesondere der vorrangigen Durchführung einer multimodalen Therapie bei Adipositas
mögen grundsätzlich zutreffend sein, sie lassen jedoch eine angemessene
Berücksichtigung der besonderen Situation des Klägers nicht erkennen. Auch die
wiederkehrenden Hinweise der Gutachter des MDK, ernsthafte Diätversuche des Klägers
seien nicht ersichtlich und es fehle an Ernährungsprotokollen, machen dies deutlich.
Auch wenn der Kläger in den letzten Jahren einen ernsthaften Versuch der
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Auch wenn der Kläger in den letzten Jahren einen ernsthaften Versuch der
Gewichtsreduktion nicht unternommen haben und sich auch weiterhin falsch ernähren
sollte, kann dies nach Auffassung der Kammer nicht dazu führen, dass ihm aus diesem
Grund die notwendige medizinische Behandlung versagt wird. Dass die Fettschürze allein
mittels einer Ernährungsumstellung therapiert werden kann, machen weder die Beklagte
noch die Gutachter des MDK geltend. Soweit die Beklagte den Kläger in ihrem
Widerspruchsbescheid vom 18.03.2010 auf vermehrtes Schwimmen und Training im
Oberarmbereich verweist, stellt sich die Frage, wie der Kläger angesichts der
bestehenden Bewegungseinschränkungen ein Schwimmbad aufsuchen soll. Zum
Oberarmtraining hat Herr Prof. B nachvollziehbar dargelegt, dass hierdurch eine
hinreichende Gewichtsreduktion nicht zu erreichen ist.
Dass sonstige Behandlungsalternativen vorlägen, etwa eine medikamentöse Therapie,
hat die Beklagte nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Angesichts der
Auswirkungen der Erkrankung des Klägers, insbesondere auch unter Berücksichtigung
von dessen gegenwärtigen Lebensumständen und des zu erwartenden
Krankheitsverlaufs bei Nichtdurchführung der Operation, steht auch das bestehende
hohe Operationsrisiko einer Kostenübernahme durch die Beklagte nicht entgegen.
Hierauf weist Herr Prof. Dr. B in seinem Gutachten nachvollziehbar und überzeugend hin.
Demnach ist die operative Entfernung der Fettschürze zur Krankenbehandlung
erforderlich.
2.
Gleiches gilt für die begehrte Rekonstruktion der Bauchwand bei ausgeprägter
Umbilicalhernie. Hierzu hat Herr Prof. B ausgeführt, dass es infolge des Nabelbruchs, der
eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn darstellt, zu einer Einklemmung
von Darm in der Bruchlücke kommen kann, was eine lebensbedrohliche Notfallsituation
darstellt. Auch Herr Dr. D vom MDK stellt in seiner Stellungnahme vom 18.11.2009 eine
ausgeprägte Umbilicalhernie fest. Soweit er eine Operationsindikation erst nach erfolgter
Gewichtsreduzierung sieht, hält die Kammer diese Einschätzung angesichts der
nachvollziehbaren Ausführungen des Herrn Prof. Dr. B für nicht überzeugend.
3.
Soweit der Kläger schließlich eine bariatrische Operation begehrt, nach den Darlegungen
des Herrn Prof. Dr. B wahlweise in Form eines Magenbypasses, eines Schlauchmagens
oder einer biliopankreatischen Diversion, vermag die Kammer zum jetzigen Zeitpunkt
eine medizinische Notwendigkeit nicht festzustellen. Zwar liegt auch insoweit eine
Krankheit des Klägers vor (hierzu unter a) und kann mit dem begehrten Eingriff auch ein
zulässiges Behandlungsziel erreicht werden (hierzu unter b). Jedoch kann gegenwärtig
nicht festgestellt werden, dass das Behandlungsziel nicht auch auf anderem Weg
erreicht werden kann (hierzu unter c).
a)
Nach Auffassung der Kammer stellt neben der bestehenden Fettschürze auch die
Adipositas per magna als solche eine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des §
27 Abs. 1 S. 1 SGB V dar. Zwar ist umstritten, ob eine Adipositas als solche als Krankheit
im krankenversicherungsrechtlichen Sinn anzusehen ist (bejahend BSG, Urteil vom
19.02.2003, B 1 KR 1/02 R, a.A. zuletzt SG Dortmund, Urteil vom 31.08.2010, S 40 KR
313/07 m.w.N.). Die ablehnende Auffassung stützt sich jedoch darauf, dass geringfügige
Störungen ohne wesentliche funktionelle Beeinträchtigungen nicht genügen würden.
Persönliche Eigenarten, die schon durch Änderung der Lebensführung oder einfache
Maßnahmen der Gesunderhaltung behoben werden können und nicht der ärztlichen
Behandlung bedürfen, stellten daher keine Erkrankung dar. Die Adipositas selbst sei
keine Erkrankung, sondern lediglich ein Risikofaktor für das Auftreten von Erkrankungen
wie Diabetes mellitus oder arterieller Hypertonie. Sie lasse sich durch Maßnahmen der
Gewichtsreduktion beseitigen, die gemäß § 1 S. 2 SGB V grundsätzlich der
Eigenverantwortung der Versicherten zugewiesen sind (vgl. SG Dortmund, a.a.O.,
m.w.N.). Der Kläger leidet jedoch unter einer Adipositas per magna. Angesichts eines
BMI von ca. 63,7 und einer Fettschürze Grad V kann von einer geringfügigen Störung
ohne wesentliche funktionelle Beeinträchtigung nicht gesprochen werden. Weiterhin wird
die Adipositas ausweislich der S3-Leitlinie: Chirurgie der Adipositas der Chirurgischen
Arbeitsgemeinschaft für Adipositastherapie (CA-ADIP) in Zusammenarbeit mit der
Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), der Deutschen Gesellschaft für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und der Deutschen Gesellschaft für
Ernährungsmedizin (Stand Juni 2010, im folgenden: S3-Leitlinie) üblicherweise als
krankhaft (morbid) bezeichnet bei einem BMI von mindestens 40 kg/m² (vgl. Einführung,
S. 2 der S3-Leitlinien). Hinzu kommt, dass bereits Folgeerkrankungen aufgetreten sind.
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S. 2 der S3-Leitlinien). Hinzu kommt, dass bereits Folgeerkrankungen aufgetreten sind.
Es besteht danach kein Zweifel, dass eine medizinische Behandlung der Adipositas
erforderlich ist.
b)
Die bariatrische Operation dient dem Ziel der Gewichtsreduzierung und damit der
Beseitigung der Adipositas. Sie ist folglich auf das Behandlungsziel der Heilung einer
Krankheit gerichtet.
c)
Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt kann jedoch nicht festgestellt werden, dass die
bariatrische Operation zur Erreichung des Behandlungsziels erforderlich ist.
Dass der Magen des Klägers als solcher krank ist, ist nicht ersichtlich. Weder Herr Prof.
Dr. B noch die behandelnden Ärzte des Klägers haben bei diesem eine Funktionsstörung
des Magens diagnostiziert. Wird durch eine Operation in ein funktionell intaktes Organ
eingegriffen und dieses regelwidrig verändert, wie das bei einer bariatrischen Operation
geschieht, bedarf die mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die
Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu
erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung
gegeneinander abzuwägen sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R
m.w.N.). Danach kommt es darauf an, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung
unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätische Therapie,
Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und
wirtschaftlich ist. Sodann ist zu untersuchen, ob nach dem aktuellen Stand der
wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine
chirurgische Intervention gegeben sind (vgl. hierzu BSG, a.a.O.; LSG Baden-
Württemberg, Urteil vom 01.03.2011, L 11 KR 3560/09).
Bei der extremen Adipositas kommt eine chirurgische Behandlung zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung als ultima ratio nur bei Patienten in Betracht, die eine
Reihe von Kriterien erfüllen (so die einheitliche Rechtsprechung unter Bezugnahme auf
die vorliegenden Leitlinien der Fachgesellschaften, vgl. z.B. BSG, Urteil vom 19.02.2003,
Az.: B 1 KR 1/02 R; BSG, Urteil vom 16.12.2008, Az.: B 1 KR 2/08 R; LSG Baden-
Württemberg, Urteil vom 01.03.2011, L 11 KR 3560/09, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil
vom 12.11.2009, Az.: L 9 KR 11/08):
1. es muss ein BMI von mindestens 40 kg/m² oder ein BMI ab 35 kg/m² mit erheblichen
Begleiterkrankungen vorliegen;
2. der chirurgische Eingriff muss die ultima ratio sein; zuvor müssen alle konservativen
Behandlungsmöglichkeiten erschöpft sein (z. B. diätische Therapie, Bewegungstherapie,
medikamentöse Therapie, Psychotherapie);
3. das Operationsrisiko muss tolerabel sein;
4. der Versicherte muss ausreichend motiviert sein;
5. es darf keine manifeste psychiatrische Erkrankung vorliegen;
6. es muss die Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung bestehen.
Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger nicht vor. Zum jetzigen Zeitpunkt kann eine
Ausschöpfung der konservativen Behandlungsmöglichkeiten nicht festgestellt werden.
Die insoweit von der Beklagten vorgeschlagenen konservativen
Behandlungsmöglichkeiten, namentlich eine multimodale Therapie halten sowohl die
behandelnden Ärzte Frau R, Frau Dr. M und Herr Dr. B als auch Herr Prof. Dr. B deshalb
gegenwärtig für nicht durchführbar, weil dem Kläger die hierfür erforderliche Mobilität
fehlt. Nach der Einschätzung dieser Ärzte wird die Mobilität des Klägers nach der
Entfernung der Fettschürze jedoch gesteigert. Herr Prof. Dr. B führt hierzu in seinem
Gutachten aus, dass dieser Eingriff alleine beim Kläger schon zu einer erheblichen
Erleichterung führen könne, so dass die Motivation zur Gewichtsreduktion gebahnt sei.
Dementsprechend führt Frau R im Befundbericht vom 09.07.2010 aus, dass die
Beseitigung der abdominalen Fettschürze im Vordergrund stehe und über die
bariatrische Operation später entschieden werden solle.
Soweit Herr Prof. Dr. B auch die Notwendigkeit einer bariatrischen Operation bereits zum
jetzigen Zeitpunkt feststellt, vermögen seine Ausführungen nicht zu überzeugen.
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jetzigen Zeitpunkt feststellt, vermögen seine Ausführungen nicht zu überzeugen.
Zunächst weist er darauf hin, dass aus der Literatur bekannt sei, dass ein konservativer
Behandlungsversuch bei einem BMI von mehr als 40 mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nicht zum Erfolg führen werde. Diese Einschätzung steht im
Widerspruch zu den einschlägigen Leitlinien der Fachgesellschaften. Nach der S 3 –
Leitlinie ist auch bei Patienten mit einem BMI von mehr als 40 ohne Kontraindikationen
erst bei Erschöpfung der konservativen Therapie nach umfassender Aufklärung eine
bariatrische Operation indiziert (Ziff. 3.2., S. 12). Auf Seite 14 der S 3 – Leitlinie wird
ausgeführt:
Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass auch bei einem BMI von mehr als 40 eine
konservative Therapie jedenfalls in Form eines ärztlich koordinierten und geleiteten
Gesamttherapiekonzepts, welches Diätmaßnahmen, eine Schulung des Ess- und
Ernährungsverhaltens, eine Bewegungstherapie, ggfs. pharmakologisch-ärztliche
Behandlung und eine kombinierte psychotherapeutische Intervention umfasst und als
Langzeitbehandlung auch konsequent und nachhaltig durchgeführt und dokumentiert
wird, nicht von vornherein aussichtslos ist (hiervon geht auch das LSG Baden-
Württemberg in seinem Urteil vom 01.03.2011, L 11 KR 3560/09, aus, in dem es über die
Notwendigkeit einer bariatrischen Operation bei einer Klägerin mit einem BMI von 47 zu
entscheiden hatte). Nach den S 3 – Leitlinien kann eine primäre chirurgische Intervention
in Ausnahmefällen dann durchgeführt werden, wenn Art und/oder Schwere der Krankheit
bzw. psychosoziale Gegebenheiten bei Erwachsenen annehmen lassen, dass eine
chirurgische Therapie nicht aufgeschoben werden kann oder die konservative Therapie
ohne Aussicht auf Erfolg ist; die Indikation hierzu ist durch einen in der
Adipositastherapie qualifizierten Arzt und einen bariatrischen Chirurgen gemeinsam zu
stellen (vgl. 3.2, S. 16). Insoweit ist die Einschätzung des Herrn Prof. B als bariatrischem
Chirurgen schon nicht hinreichend. Weiterhin steht der Annahme eines Ausnahmefalles
hier jedoch auch entgegen, dass Herr Prof. Dr. B selbst darauf hingewiesen hat, dass
allein schon durch die Fettschürzenresektion mit einer erheblichen Erleichterung und
einer hinreichenden Motivation zur Gewichtsabnahme beim Kläger zu rechnen sei.
Hinzu kommt, dass nach der bereits genannten Leitlinie zur Prävention und Therapie der
Adipositas bei Patienten mit Verdacht auf Depression, Psychose, Suchterkrankung oder
Essstörung zwingend ein Psychiater oder Psychotherapeut hinzugezogen werden muss
(vgl Nr 6.4.7, S 17). Vorliegend hat Frau R in ihrem Befundbericht vom 09.07.2010 darauf
hingewiesen, dass beim Kläger eine Depression bekannt ist. Ausweislich des
Verlegungsberichts von Dr. B und Herrn A von August 2009 über den stationären
Aufenthalt des Klägers vom 25.08. bis 26.08.2009 besteht beim Kläger der Verdacht auf
eine hyperphage Essstörung. Dies zeigt, dass vor einer bariatrischen Operation eine
psychologische bzw psychotherapeutische Therapie notwendig ist.
Soweit Herr Prof. Dr. B daneben davon ausgeht, dass das bei der Entfernung der
Fettschürze bestehende Operationsrisiko geringer wäre, wenn zunächst der bariatrische
Eingriff durchgeführt würde, vermag auch dies die Notwendigkeit eines bariatrischen
Eingriffs nicht zu begründen. Zum einen steht diese Feststellung im Widerspruch zur
Einschätzung von Frau Dr. M und Herrn Dr. B, die in ihrem Befundbericht ausgeführt
haben, dass durch die Entfernung der abdominalen Fettschürze die gesundheitlichen
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haben, dass durch die Entfernung der abdominalen Fettschürze die gesundheitlichen
Risiken weiterer Operationen reduziert würden. Zum anderen weist Herr Prof. Dr. B
selbst darauf hin, dass auch bei einem vorrangig durchgeführten bariatrischen Einriff ein
hohes Operationsrisiko besteht. Der Kläger unterliegt damit bei einem chirurgischen
Eingriff in jedem Fall einem hohen Operationsrisiko.
Letztendlich ergibt sich ein Leistungsanspruch des Klägers auch nicht aus einer
grundrechtskonformen Auslegung des SGB V. Die Grundrechte auf Leben und
körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes (GG) können in
besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung
der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Dies gilt
insbesondere in der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen
Erkrankung, denn das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen
Ordnung dar (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR
347/998, BVerfGE 115, 25; vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.02.2010, L 9 KR
10/08). Die Voraussetzungen für eine grundrechtskonforme Auslegung des
Leistungsanspruchs nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V in diesem Sinne liegen hier
indes nicht vor. Denn nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen folgt der
lebensbedrohliche Zustand des Klägers allein aus der akuten Gefahr der
Infektexacerbation und möglichen Folge einer Sepsis. Anhaltspunkte dafür, dass sich das
Übergewicht des Klägers allein in absehbarer Zeit lebensbedrohend auswirken könnte,
sind hingegen nicht ersichtlich.
Nach alledem lässt sich die medizinische Notwendigkeit der Durchführung einer
bariatrischen Operation nach Ansicht der Kammer zum jetzigen Zeitpunkt nicht
feststellen. Sofern auch nach Durchführung der Fettschürzenresektion und
Rekonstruktion der Bauchwand eine konservative Therapie aus medizinischen Gründen
nicht durchgeführt werden kann, ist die Notwendigkeit eines bariatrischen Eingriffs erneut
zu prüfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des
Rechtsstreites.
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