Urteil des SozG Berlin vom 10.11.2010
SozG Berlin: aufschiebende wirkung, zusammenleben, eheähnliche gemeinschaft, gemeinsames konto, öffentliches interesse, anfechtungsklage, hauptsache, haushalt, wohnung, auflage
Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 10.11.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 128 AS 33271/10 ER
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 14. Juni 2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27. September 2010 wird angeordnet. 2. Der Antragsgegner wird im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie
Leistungen für Unterkunft und Heizung ab dem 29. Oktober 2010 bis zum 30. April 2011 in Höhe von monatlich 608,-
EUR als Darlehen zu bewilligen und auszuzahlen. 3. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. 4. Dem Antragsteller wird
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin S S, Str ..., 1 B , bewilligt. 5. Der Antragsgegner hat dem
Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten zur Hälfte zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II).
Der 1969 geborene Antragsteller wohnt bei Frau H S (S) seit dem 1. März 2009. Beide schlossen einen
Untermietvertrag am 25. Februar 2009, nach dem der Antragsteller Wohnzimmer, Küche, Bad, Arbeitszimmer,
Schlafzimmer und Keller – wohl zur Mitbenutzung – anmietete. Der monatliche Mietzins inklusive
Betriebskostenvorauszahlung (85,- EUR) beträgt 355,- EUR. Daneben ist eine Vorauszahlung für Strom und Gas in
Höhe von monatlich 20,- EUR und 4,- EUR vereinbart worden. Der Antragsteller erzielt aus Beschäftigung ein
monatliches Einkommen von 100,- EUR.
Der Antragsteller bezieht vom Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Anlässlich eines
Fortzahlungsantrags des Antragstellers für die Zeit ab dem 1. April 2010 forderte der Antragsgegner den Antragsteller
mit Schreiben vom 2. März 2010 auf, "ausgefüllte Anlagen für [seine] Partnerin" vorzulegen. Hierbei handelte es sich
um die Anlagen KDU, EK, VM, VE, SV, MEB und UH. Unter dem 9. März 2010 erklärte der Antragsteller, dass weder
in der Vergangenheit noch jetzt eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft vorliege. Es liege keine
Wirtschaftsgemeinschaft vor, denn jeder zahle seine Forderungen auf eigene Rechnung und jeder bestreite für sich
den Lebensunterhalt. Es seien auch keine gemeinsamen Konten vorhanden und es existierten auch keine
wechselseitigen Vollmachten.
Mit Bescheid vom 18. März 2010 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller letztmals Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts für die Monate April und Mai 2010 in Höhe von monatlich 707,36 EUR (Regelleistung 359,- EUR
zuzüglich Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 348,36 EUR). Der Antragsgegner beauftragte seinen
Außendienst mit einer Überprüfung der Wohnverhältnisse zur Klärung, ob eine eheähnliche Gemeinschaft zwischen
dem Antragsteller und S vorliege. Ausweislich des Prüfberichts vom 20. April 2010 bewohnt der Antragsteller das
Arbeitszimmer, das mit Couch, Fernseher, Schreibtisch und PC ausgestattet ist. Daneben würden Wohn- und
Schlafzimmer gemeinsam benutzt. Im Schlafzimmer befinde sich ein Doppelbett; hierzu habe der Antragsteller erklärt,
er und S seien ein Paar und würden auch in einem Bett schlafen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das
genannte Protokoll Bezug genommen.
Mit Schreiben an den Antragsteller vom 13. Juni 2010 forderte der Antragsgegner diesen auf, eine "ausgefüllte Anlage
für [seine] Partnerin" vorzulegen. Würden diese nicht bis zum 13. Juni 2010 eingereicht, würden die Geldleistungen
ganz versagt werden.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2010 versagte der Antragsgegner Leistungen ab dem 1. Juni 2010 ganz. Grundlage für die
Entscheidung seien die §§ 60, 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Ohne die angeforderten Unterlagen
könne über den Leistungsanspruch nicht entschieden werden. Der Bescheid enthielt auch Ermessenserwägungen.
Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein, mit dem er unter anderem vortrug, mit S in einer
Wohngemeinschaft zu leben. Durch Widerspruchsbescheid vom 27. September 2010 wies der Antragsgegner den
Widerspruch zurück. Hiernach wurde vom Antragsteller die Vorlage einer Einkommenserklärung der S verlangt.
Ausweislich des Prüfberichts würden der Antragsteller und S zusammen leben und wirtschaften. Die Entscheidung sei
auch "ermessensgerecht", denn das Ermessen sei hier auf Null reduziert.
Hiergegen hat der Antragsteller am 29. Oktober 2010 Klage erhoben (S 128 AS 33271/10) und einen Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er habe Schulden machen müssen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu
können. Zudem habe er ein kleines Darlehen aufgenommen, das bis Dezember 2010 gestundet worden sei. S sei
nicht bereit, die angeforderten Auskünfte zu erteilen und sei vom Antragsgegner auch nicht direkt angeschrieben
worden. Es bestehe zwischen ihm und S nur ein Untermietverhältnis, da S die Wohnung alleine zu teuer sei. S
beziehe keine Sozialleistung, da sie arbeite.
Der Antragsteller beantragt schriftlich,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, umgehend Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts sowie Unterkunfts- und Heizkosten ab dem 1. Juni 2010 ohne Berücksichtigung einer
Einstehensgemeinschaft fortlaufend zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt schriftlich,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller und S bildeten eine Bedarfsgemeinschaft.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakte, der Gerichtsakte S 128
AS 33271/10 sowie der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen. Er war Gegenstand der
Entscheidungsfindung.
II.
Der Antrag ist im tenorierten Umfang erfolgreich.
Der Antragsteller wendet sich in der Hauptsache gegen den Versagungsbescheid vom 14. Juni 2010. Für den in
Anspruch genommenen Eilrechtsschutz ist zum einen § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
einschlägig, wonach das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und
Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen
kann. Vorliegend hat der Antragsgegner den Bescheid vom 14. Juni 2010 auf § 66 SGB I gestützt. Gegen diesen
kann sich der Antragsteller im Klageverfahren grundsätzlich zulässigerweise allein mit der isolierten Anfechtungsklage
wehren (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R - SozR 4-
1200 § 66 Nr. 5). In Anfechtungssachen ist das Eilverfahren nach § 86b Abs. 1 SGG einschlägig. Die Klage gegen
den Versagungsbescheid hat hier keine aufschiebende Wirkung. Denn nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung
mit § 39 Nr. 1 SGB II entfällt die aufschiebende Wirkung. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben,
zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die Versagung
von Leistungen nach § 66 SGB I wird daher zwar von den in § 39 Nr. 1 SGB II bezüglich einer Leistungsverweigerung
aufgeführten Fallvarianten nach dem Wortlaut der Norm nicht erfasst; denn eine Leistungsversagung ist gerade nicht
auf die Aufhebung einer bereits bestehenden Leistungsbewilligung gerichtet. Gleichwohl ist der Gesetzgeber davon
ausgegangen, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Versagung von Leistungen keine aufschiebende
Wirkung haben (vgl. BT-Drs. 16/10810, S. 50). Entsprechend dem gesetzgeberischen Willen ist daher die
aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ausgeschlossen (wie hier Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-
Bremen, Beschluss vom 8. März 2010 - L 13 AS 34/10 B ER – juris; a. A. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
8. April 2010 - L 7 AS 304/10 ER-B – juris.).
Maßstab für eine Entscheidung in einem Eilverfahren, ob die aufschiebende Wirkung durch das Gericht angeordnet
wird, ist gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG eine umfassende Abwägung des privaten Aufschubinteresses des
Antragstellers einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Vor
allem dann, wenn der Verwaltungsakt bereits nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist, kann
schlechterdings ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehbarkeit nicht bestehen, so dass das
Aufschubinteresse Vorrang hat. In den anderen Fällen verbleibt es bei der gesetzlichen Anordnung des Entfallens der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage. Dem Gesetz ist ein Regel-Ausnahme-
Verhältnis zu Lasten des Suspensiveffektes zu entnehmen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung als
Regelfall angeordnet hat. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss daher eine mit gewichtigen Argumenten
zu begründende Ausnahme bleiben (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. März 2009 - L 16 (11) B 4/07 R
ER - juris).
Hier ist der Versagungsbescheid offensichtlich rechtswidrig, so dass das Aufschubinteresse Vorrang hat. Grundlage
für den Versagungsbescheid ist § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder
erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des
Sachverhalts erheblich erschwert, kann danach der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur
Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung
nicht nachgewiesen sind. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Antragsteller hat aber gegen keine
Mitwirkungspflichten verstoßen.
Der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 27. Mai 2010 vom Antragsteller verlangt, eine ausgefüllte Anlage - wohl
eine Erklärung über Einkommen - für S zu übersenden. Der Antragsgegner kann aber als Mitwirkungshandlung vom
Antragsteller nicht verlangen, Dokumente Dritter vorzulegen. Es ist dem Antragsteller nicht möglich, Unterlagen eines
Dritten vorzulegen, insbesondere wenn dieser das – wie wohl hier – verweigert (vgl. Sozialgericht (SG) Bremen,
Beschluss vom 26. Juni 2009 - S 18 AS 884/09 ER – Beschluss vom LSG Niedersachsen-Bremen vom 14. Januar
2008 - L 7 AS 772/07 ER – jeweils bei juris). § 60 Abs. 4 SGB II ermöglicht es vielmehr dem Grundsicherungsträger,
sich unmittelbar an den Dritten - hier also S - zu wenden. Nach § 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB II hat der Partner der
Agentur für Arbeit auf Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit Einkommen oder Vermögen des Partners zu
berücksichtigen sind. Während § 60 Abs 1 Nr. 1 SGB I nur den Antragsteller oder Leistungsempfänger selbst betrifft,
erfasst § 60 SGB II Auskunftspflichten Dritter, die für den Leistungsanspruch des Antragstellers von Bedeutung sein
können. Hierbei erfasst § 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB II die Fälle einer Partnerschaft nach § 7 Abs 3 Nr. 3 SGB II
(vgl. zu Vorstehendem BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R - SozR 4-1200 § 66 Nr. 5). Die Kammer lässt
offen, ob § 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB II auch bei streitiger Partnerschaft einschlägig ist (vgl. hierzu Schoch in LPK-
SGB II, § 60, Rn. 29). Jedenfalls dann, wenn der Grundsicherungsträger – wie hier – vom Vorliegen einer
Partnerschaft und einer Bedarfsgemeinschaft ausgeht, muss er sich an den Dritten direkt werden.
Die aufschiebende Wirkung seiner Klage hilft dem Antragsteller hier indes allein nicht weiter, weil daraus keine
einstweilige Leistungsgewährung durch den Grundsicherungsträger folgt. Deshalb ist in derartigen Fällen der
Leistungsversagung auch die Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs nach § 86b Abs. 2 SGG zu bejahen. Denn ein
Hilfebedürftiger kann im Fall der Leistungsversagung nicht schlechter stehen als ein solcher, dessen Antrag auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts noch gar nicht verbeschieden wurde (im Ergebnis wie hier LSG
Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. April 2010 - L 7 AS 304/10 ER-B – a. a. O.; a. A. angedeutet von LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 8. März 2010 - L 13 AS 34/10 B ER – a. a. O.).
Der zulässige Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist im tenorierten Umfang begründet. Eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
(Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Das ist dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere oder
unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 25. Oktober 1988
- 2 BvR 745/88 - BVerfGE 79, 69 ff.). Eine solche Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller einen
Anordnungsgrund, das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit, und einen Anordnungsanspruch, das ist der materiell-
rechtliche Anspruch, auf den sich ihr Begehren stützt, glaubhaft gemacht hat (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG in
Verbindung mit den §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO)). Bei der erforderlichen Überprüfung der
Sach- und Rechtslage ist im Bereich der Leistungen nach des SGB II die Erfolgsaussicht der Hauptsache nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breith
2005, 803-808). Ist dem Gericht allerdings im Eilverfahren trotz Amtsermittlungsgrundsatz eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so muss anhand der Folgenabwägung entschieden werden.
Hierbei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers einzubeziehen.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nach der
hier gebotenen summarischen Prüfung glaubhaft gemacht. Er hat nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II 1. das 15.
Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht, 2. ist erwerbsfähig und hat 4. seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Er ist auch hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer
seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem
nicht 1. durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, 2. aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen
sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer
Sozialleistungen erhält.
Der Antragsteller hat kein bedarfsdeckendes Einkommen und ausweislich des vorgelegten Kontoauszugs auch kein
Vermögen. Zwar ist nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das
Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Der Antragsteller wohnt seit dem 1. März 2009 bei S.
Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe c SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft auch eine Person, die mit dem
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger
Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander
einzustehen.
Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird nach § 7 Abs. 3a
SGB II vermutet, wenn Partner 1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind
zusammenleben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen oder
Vermögen des anderen zu verfügen.
Hier liegen der Kammer keine ausreichenden Erkenntnisse darüber vor, ob der Antragsteller und S in einer
Bedarfsgemeinschaft leben und ob, sollte dies so sein, S Einkommen erzielt und wenn ja, in welcher Höhe (anders im
Verfahren der Kammer S 128 AS 14550/10 ER – juris). Die fehlende Sachverhaltsaufklärung beruht auf einem
erheblichen Ermittlungsmangel des Antragsgegners und ist im Rahmen eines Eilverfahrens nicht nachzuholen. Denn
es fehlen praktisch jegliche Erkenntnisse, die eine Beurteilung ermöglichen würden, ob eine Verantwortungs- und
Einstehensgemeinschaft vorliegt. Hierzu Folgendes:
Für die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe c SGB
II müssen drei Voraussetzungen gegeben sein. Neben einer auf Dauer angelegten eheähnlichen oder nicht
eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und dem wechselseitigen Willen, Verantwortung füreinander zu
tragen und füreinander einzustehen, ist auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt im Sinne einer
Wohn- und Wirtschaftgemeinschaft erforderlich (vgl. Hänlein in Gagel, SGB III, § 7 SGB II, Rn. 46 ff.; Spellbrink in
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 7, Rn. 44 ff., LSG Sachsen, Beschluss vom 10. September 2009 - L 7
AS 414/09 B ER - juris). Für ein Zusammenleben ist ein auf Dauer angelegtes gemeinsames Wohnen notwendig (vgl.
BSG, Urteil vom 17. Oktober 2007 - B 11a/7a AL 52//06 R - SozR 4-4300 § 144 Nr. 16). Der Begriff der
Wirtschaftsgemeinschaft wird gegenüber der Wohngemeinschaft dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder nicht
nur vorübergehend in einer Wohnung leben, sondern einen gemeinsamen Haushalt in der Weise führen, dass sie aus
einem "Topf" wirtschaften (vgl. zur Haushaltsgemeinschaft BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 - B 4 AS 68/07 R -
BSGE 102, 258-263). Die Anforderungen an das gemeinsame Wirtschaften gehen daher über die gemeinsame
Nutzung von Bad, Küche und gegebenenfalls Gemeinschaftsräumen hinaus. Auch der in Wohngemeinschaften häufig
anzutreffende gemeinsame Einkauf von Grundnahrungsmitteln, Reinigungs- und Sanitärartikeln aus einer von allen
Mitgliedern zu gleichen Teilen gespeisten Gemeinschaftskasse begründet noch keine Wirtschaftsgemeinschaft (vgl.
ebenfalls zur Haushaltsgemeinschaft BSG, Urteil vom 27. Januar 2009 - B 14 AS 6/08 R - SozR 4-4200 § 9 Nr. 6).
Die letztgenannten Entscheidungen des BSG zur Haushaltsgemeinschaft gelten für die Bedarfsgemeinschaft erst
Recht. Denn der Begriff der Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 5 SGB II ist nicht so weitgehend wie der
einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die darüber hinaus eine enge Bindung der Partner in Form einer
Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft voraussetzt (vgl. Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008,
§ 9, Rn. 52).
Bei der Auslegung des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe c und Abs. 3a SGB II sind schließlich auch die Ausführungen des
BVerfG im Urteil vom 17. November 1992 (1 BvL 8/87 - SozR 3-4100 § 137 Nr. 3) zu beachten. Danach "war es von
Verfassungs wegen nicht geboten, eine generelle Gleichstellung von eheähnlichen Gemeinschaften und Ehen ...
vorzunehmen, um der ... festgestellten Benachteilung von Ehegatten gegenüber Partnern eheähnlicher
Gemeinschaften abzuhelfen. Verfuhr der Gesetzgeber jedoch in dieser Weise, durfte er nur solche Gemeinschaften
erfassen, in denen die Bindungen der Partner so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not-
und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr
füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr
persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht dauernd
getrennt lebender Ehegatten im Hinblick auf die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung vergleichbar." Des Weiteren könnte
sich das Regelungskonzept des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II "tendenziell in Richtung Verfassungswidrigkeit verschieben,
je weiter der Begriff der Bedarfsgemeinschaft gefasst und je unkritischer Personen zu Bedarfsgemeinschaften
zwangsverklammert werden" (vgl. Spellbrink, NZS 2007, 121, 127).
Die Kammer verkennt zwar nicht, dass der Antragsteller und S über eineinhalb Jahre in einer Wohnung leben und
dass der Antragsteller gegenüber einem Außendienstmitarbeiter des Antragsgegners erklärt haben mag, er und S
seien ein "Paar". Auch sprechen die Wohnverhältnisse und die Tatsache, dass der Antragsteller und S in einem
Doppelbett schlafen, eher für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft. Diese Erwägungen reichen aber nicht aus. Es
fehlt hier am Zusammenleben im Sinne auch einer Wirtschaftsgemeinschaft.
Hier spricht gegen das Bestehen einer Wirtschafts- und damit auch einer Einstehens- und
Verantwortungsgemeinschaft bereits, dass der Antragsteller und S einen Untermietvertrag geschlossen haben und der
Antragsteller die Miete ausweislich der vorgelegten Kontoauszüge auch tatsächlich per Dauerauftrag – soweit möglich
- monatlich überweist. Das Bestehen eines (wirksamen) Mietvertrages zwischen zwei Personen schließt die Annahme
einer Bedarfsgemeinschaft aus, weil ein "Wirtschaften aus einem Topf", wie dies für eine Bedarfsgemeinschaft
kennzeichnend ist, nicht angenommen werden kann, wenn einer dem anderen Mietzins zahlen muss (vgl. für die
Haushaltsgemeinschaft LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - L 8 AS 3441/05 ER-B – juris).
Dass ein Untermietverhältnis hier im Übrigen nur zum Schein abgeschlossen worden sein könnte, ist einerseits nicht
erkennbar und wird andererseits offenbar auch vom Antragsgegner nicht angenommen, der die
Unterkunftsaufwendungen aus dem Untermietvertrag bis einschließlich Mai 2010 übernommen hat.
Die Frage, wann das wie bei Ehepaaren übliche "Wirtschaften aus einem Topf", vorliegt, kann im Übrigen nicht
generell und für alle Fälle abschließend beantwortet werden (vgl. hierzu und zum Folgenden BSG, Urteil vom 24. März
1988 - 7 RAr 81/86 - BSGE 63, 120). Es kommt stets auf die Umstände des Einzelfalles an. Hierbei ist der Erkenntnis
Rechnung zu tragen, dass in der eheähnlichen Gemeinschaft die gesamte Bandbreite von Gestaltungsformen möglich
ist, wie sie auch bei zusammenlebenden Ehegatten vorkommen. Ebenso wie bei Ehen, in denen das Zusammenleben
der Ehegatten weitgehend deren Disposition überlassen bleibt, sind auch bei eheähnlichen Gemeinschaften aufgrund
ihrer von den Partnern bestimmten individuellen Ausgestaltung die vielfältigsten Erscheinungsformen denkbar. Diese
Vielfalt hat zur Folge, dass im Einzelfall die besonderen Gestaltungen der gemeinsamen Lebensführung festzustellen
sind, um daraus, gegebenenfalls indiziell, auf das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft im Sinne einer Wohn-
und Wirtschaftsgemeinschaft schließen zu können. Notwendig ist dabei nicht, dass sämtliche in Betracht kommenden
Merkmale oder Indizien in jedem Einzelfall vorliegen; ausreichend ist es, wenn im Einzelfall genügend Anhaltspunkte
vorhanden und festgestellt sind, die trotz des Fehlens anderer Merkmale den Schluss auf das Bestehen einer
ehetypischen gemeinsamen Haushalts- und Wirtschaftsführung rechtfertigen.
Hier hat der Antragsteller mehrfach versichert, nicht mit S aus einem "Topf" zu wirtschaften. Hierfür gibt es auch
keinerlei Anhaltspunkte. Der Antragsteller und S verfügen über kein gemeinsames Konto; es ist auch nicht erkennbar,
dass sie anderweitig die Möglichkeit haben, über das Vermögen des jeweils anderen zu verfügen. Die festgestellten
Wohnverhältnisse lassen keinen Schluss über ein gemeinsames Wirtschaften zu. Wenn der Antragsgegner im
Übrigen den Beteuerungen des Antragstellers keinen Glauben schenkt, ist er gehalten, nach § 20 des Zehnten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) umfassend zu ermitteln und beispielsweise nach § 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X
Beteiligte anzuhören und Zeugen zu vernehmen.
Für den Antragsgegner streitet auch nicht die Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II. Zwar leben der
Antragsteller und S mehr als ein Jahr "unter einem Dach". Dies bedeutet aber nicht, dass sie im Sinne des § 7 Abs.
3a Nr. 1 SGB II zusammenleben. Denn nicht jede Form des Zusammenlebens, sondern nur ein qualifiziertes
Zusammenleben im Sinne auch einer Wirtschaftsgemeinschaft löst die Vermutung nach § 7 Abs. 3a SGB II aus (vgl.
LSG Sachsen, Beschluss vom 10. September 2009 - L 7 AS 414/09 B ER – juris). Auch ist für ein Zusammenleben
ein auf Dauer angelegtes gemeinsames Wohnen notwendig (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 9. Dezember
2009 - L 16 AS 779/09 B ER – juris). Diese Voraussetzungen liegen aber nach dem Gesagten hier nicht vor.
Da kaum Anhaltspunkte für das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft ermittelt worden sind und da die wenigen
bekannten Tatsachen die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft nicht rechtfertigen, ist hier anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden. Angesichts des existenzsichernden Charakters der begehrten Leistungen wiegen
die dem Antragsteller drohenden Nachteile bei einer Ablehnung des Antrags und einem späteren Obsiegen im
Hauptsacheverfahren ungleich schwerer als der Nachteil einer Überzahlung für den Antragsgegner. Aus diesem Grund
war der Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, das absolute Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Um
die Vorwegnahme der Hauptsache zur verhindern, sind die Leistungen darlehensweise zu gewähren. Sollten allerdings
die vom Antragsgegner vorzunehmenden Ermittlungen ergeben, dass eine Bedarfsgemeinschaft zwischen dem
Antragsteller und S nicht besteht, sind die Leistungen dem Antragsteller als Zuschuss zu belassen.
Leistungen sind in Höhe des Regelsatzes von monatlich 359,- EUR abzüglich des Einkommens des Antragstellers
von monatlich 100,- EUR zu gewähren. Im Eilverfahren ist die Zuerkennung eines Freibetrags von 100,- EUR nach §
11 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht geboten. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind in Höhe von 355,- EUR
abzüglich der Warmwasserpauschale von 6,47 EUR, insgesamt 348,53 EUR, zu gewähren. Die Leistungen sind nach
§ 41 Abs. 2 SGB II gerundet in Höhe von monatlich 608,- EUR zu gewähren. In Anwendung des Rechtsgedankens
des § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sind die Leistungen bis zum 30. April 2011 zuzusprechen.
Leistungen sind ab Antragseingang bei Gericht am 29. Oktober 2010 – für Oktober 2010 gemäß § 41 Abs. 1 Satz 3
SGB II anteilig - zu gewähren. Soweit der Antragsteller Leistungen auch für die Vergangenheit – ab dem 1. Juni 2010 -
begehrt, ist hier kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn auf die Geltendmachung von Geldleistungen für die
Vergangenheit ist das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG regelmäßig
- auch hier - nicht gerichtet (vgl. nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86b, Rn. 29a).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe folgt aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO.