Urteil des SozG Berlin vom 24.03.2006

SozG Berlin: stiefvater, verfassungskonforme auslegung, nettoeinkommen, miete, stiefeltern, freibetrag, unterhalt, ausbildung, vergleich, leistungsanspruch

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Gericht:
SG Berlin 37.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 37 AS 11401/06 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 3 Nr 2 SGB 2 vom
24.03.2006, § 7 Abs 3 Nr 4 SGB
2 vom 24.03.2006, § 9 Abs 2 S 2
SGB 2 vom 24.03.2006, § 9 Abs
2 S 2 SGB 2 vom 20.07.2006, §
9 Abs 5 SGB 2
(Grundsicherung für Arbeitsuchende - Antragsbefugnis des zur
Bedarfsgemeinschaft gehörenden volljährigen Kindes -
Berücksichtigung des Einkommens des Stiefelternteils -
erhöhter Freibetrag iS von § 9 Abs 5 SGB 2 -
verfassungskonforme Auslegung)
Gründe
I.
Der Antragsteller (Ast.) lebt mit seiner Mutter und deren Ehemann in einer
gemeinsamen Wohnung zusammen. Er hatte nach Abschluss einer Ausbildung zunächst
Alg I bezogen und wegen Fortdauer der Arbeitslosigkeit am 1.9.2005 Alg II beantragt.
Letztmalig war ihm für den Bewilligungsabschnitt März bis August 2006 Alg II in Höhe von
345,- EUR Regelsatz plus 128,24 EUR (=1/3 der Gesamtmiete) Kosten der Unterkunft
gewährt worden.
Seinen Fortzahlungsantrag wies der Antragsgegner (Ag.) mit der Begründung zurück,
aufgrund einer seit dem 1.7.2006 geltenden Gesetzesänderung gehöre der Ast. als
selbst nicht antrags-berechtigtes Kind zu der aus Mutter, Stiefvater und ihm gebildeten
Bedarfsgemeinschaft (BG).
Hiergegen wandte die Mutter des Ast. ein, dass ihr Sohn weder von ihr noch dem
Stiefvater irgendwelche Zuwendungen erhalte. Jeder wirtschafte notgedrungen für sich
selbst, sie müsse mit dem schmalen Unterhalt ihres Mannes auskommen.
Nach Zugang eines an den Ast. gerichteten Ablehnungsbescheides vom 17.10.2006 mit
der Begründung einer fehlenden Antragsbefugnis stellte die Mutter des Ast. einen Alg II-
Antrag für den Ast ... Dieser Antrag ist noch unbeschieden.
Der Ast. wies den Ag. in einem Schreiben vom 1.11.2006 darauf hin, dass er völlig
mittellos sei und daher schon wegen einer Notfallkostenübernahme vorgesprochen
habe, worauf ihm eine Abschlagszahlung von 100,- EUR ausgezahlt wurde.
Am 12. Dezember 2006 hat der Ast. das Sozialgericht Berlin um einstweiligen
Rechtsschutz angerufen; die ausbleibenden Leistungen hätten zu erheblichen
Spannungen in der Familie geführt, da sein Stiefvater zu keiner Unterstützung bereit sei
und seine Mutter über keine eigenen Einkünfte verfüge.
Nach Fax-Auskunft der Mutter des Ast. vom 20.12.2006 erzielt der Stiefvater ein
monatliches Nettoeinkommen von 2000,- EUR, von dem seit 2002 Bankschulden in
Höhe von 660,- EUR monatlich getilgt werden. Dazu kämen diverse Versicherungen
(106,- EUR), eine Kreditrate für einen Autokauf im Jahr 2000 (110,- EUR) sowie die vom
Stiefvater getragene Miete von 422,05 EUR.
II.
Der Eilantrag ist als Vornahmeantrag nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässig und in dem aus
dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Dabei kann dahinstehen, ob in dem
Schreiben des Ast. vom 1.11.2006 bei sachdienlicher Auslegung ein fristgerechter
Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.10.2006 gesehen werden kann; denn selbst
wenn dies nicht so sein sollte, hinderte der Ablehnungsbescheid vom 17.10.2006 nicht
an einer materiellrechtlichen Entscheidung über die Hilfebedürftigkeit bzw. einen
Leistungsanspruch. Der Inhalt des Bescheides vom 17.10.2006 beschränkt sich nämlich
auf die Behauptung, der Ast. sei als "Kind" der BG nicht antragsbefugt. Dies ist
offensichtlich unrichtig. Mit der eigenen Antragstellung hat der Ast. die Vermutung des §
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offensichtlich unrichtig. Mit der eigenen Antragstellung hat der Ast. die Vermutung des §
38 SGB II aufgehoben, so dass er kraft Beteiligungsfähigkeit nach den §§ 10, 11 SGB X
seinen trotz BG-Mitgliedschaft eigenständigen Leistungsanspruch geltend machen und
gerichtlich durchsetzen kann.
Überdies könnte sich der Ast. unter Bezugnahme auf den (fehlerhaften)
Rechtsstandpunkt des Ag. darauf berufen, dass er mit dem Eilantrag nach § 86 b SGG
den noch unbeschiedenen Alg II-Antrag der vermeintlichen BG-Vertreterin (seiner
Mutter) verfolge.
In der Sache geht es um das Problem, in welchem Umfang der Stiefvater für den
Lebensunterhalt des Ast. aufkommen muss. Nach der bis zum 31.7.2006 geltenden
Fassung von § 9 Abs. 2 SGB II war der Stiefvater nach einhelliger Auffassung der
Landessozialgerichte nur in den Grenzen der Verwandtenhaftung des § 9 Abs. 5 SGB II
zur Unterstützung verpflichtet, sofern diese Unterstützungserwartung nicht widerlegt
wird.
Daran gemessen wäre der Stiefvater bei dem angegeben Nettoeinkommen von
bereinigt 880,- EUR (Nettoeinkommen abzüglich des Freibetrages nach § 30 SGB II) nach
Abzug der Kreditverbindlichkeiten (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 24.11.2003 – 24 A
335/91), der von ihm übernommenen Miete (aktuell 422,05 EUR), des Freibetrages nach
§ 1 Abs. 2 Alg II-VO (= 690,- EUR) sowie der unwiderlegbar verlangten Unterstützung der
Ehefrau (= 311 EUR) zu keiner weiteren Unterstützung des Ast. verpflichtet.
Daran hat sich mit der Neufassung von § 9 Abs. 2 SGB II durch das
Fortentwicklungsgesetz nichts geändert. Denn zur Vermeidung einer ansonsten
offensichtlich verfassungswidrigen Überspannung des Einkommenseinsatzes für das
nichtleibliche "Kind" in der BG muss die Vorschrift verfassungskonform so ausgelegt
werden, dass zwar keine Widerlegung der Unterstützung möglich ist, die unwiderlegbare
Unterstützungserwartung aber nach wie vor erst bei einem den Freibetrag des § 9 Abs. 5
SGB II i.V.m. § 1 Abs. 2 Alg II-VO übersteigenden Einkommen einsetzt.
Da § 9 Abs. 2 SGB II nur von Einkommensberücksichtigung spricht, ohne selbst den
Umfang der Einkommensberücksichtigung festzulegen und die Gesetzesbegründung zu
§ 9 Abs. 2 n.F. allein auf die Gleichstellung verheirateter gegenüber unverheirateten
Einstandpartnern einer BG abstellt ( BT-Drs. 16/1440, S. 51), lässt das Gesetz Spielraum
für einen unterschiedlichen Einkommenseinsatz der leiblichen Eltern im Vergleich zum
Stiefelternteil/Stiefpartner.
Die Landessozialgerichte hatten auch zur früheren Gesetzesfassung keine Bedenken
gesehen, die Auslegungshürde zu überwinden, dass Stiefeltern und Partnerkinder
unstreitig in einer BG mit der zwingenden Unterstützungserwartung des § 2 Abs. 2 Satz
2 SGB II leben, wohingegen § 9 Abs. 5 SGB II auf eine Haushaltsgemeinschaft Bezug
nimmt.
Die bereits unter Geltung der früheren Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II von den
Landessozialgerichten herausgestellte Verfassungswidrigkeit eines vollen
Einkommenseinsatzes des Stiefelternteils/partners hat sich mit dem Konstrukt der um
junge Erwachsene erweiterten BG noch verschärft und wird insbesondere an den
folgenden drei Punkten offenkundig:
Nach Rechtsprechung des BVerfG darf der Einkommenseinsatz leiblicher Eltern
gegenüber ihren minderjährigen Kindern die Selbstbehalt-Grenze des doppelten
Sozialhilfe-Regelsatzes nicht überschreiten; anderenfalls werde Art. 2 GG
(Handlungsfreiheit) verletzt (Entscheidung vom 20.8.2001 – 1 BvR 1509/97). Es ist kein
sachlicher Grund dafür erkennbar, Stiefeltern oder gar Partner schlechter zu stellen als
die gesteigert unterhaltspflichtigen Eltern. Der Einwand, dass das Existenzminimum über
aufstockende SGB II-Leistungen gesichert werde, greift nicht, da es gegen Art. 1 GG
verstößt, einen selbst nicht Hilfebedürftigen zum Empfänger einer Fürsorgeleistung zu
machen (BVerwG. Urteil vom 26.11.1998 – BVerwGE 108, S. 35 ff).
Ein voller Einkommenseinsatz des Stiefelternteils/partners führte außerdem zu einer
willkürlichen Schlechterstellung gegenüber SGB XII-Leistungsberechtigten. Nach §§ 20,
36 SGB XII gilt im SGB XII eine – widerlegbare - Unterstützungserwartung bei
Überschreitung eines Selbstbehalts von mindestens dem doppelten Regelsatz mit einer
im Vergleich zu gesteigert Einsatzpflichtigen großzügigeren Einkommensbereinigung
(vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 9.2.2004 – 12 E 833/02).
Schließlich verletzte eine volle Einkommensheranziehung auch Art. 6 GG, und zwar
sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Familiensprengenden Einstandshaftung (vgl. dazu
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sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Familiensprengenden Einstandshaftung (vgl. dazu
OVG NRW, Urteil vom 24.11.2003 – 24 A 335/91) als auch eines Eingriffs in das
Erziehungsrecht zum leiblichen Kind des Stiefelternteils/partners, das außerhalb der BG
lebt. Unter der Forderung einer vollen Einsatzhaftung für die BG-Kinder ginge dem
leiblichen Elternteil die Möglichkeit verloren, sein Kind ohne titulierten
Unterhaltsanspruch (nur dieser ist nach § 11 Abs. 2 Nr. 7 SGB II absetzbar) finanziell zu
unterstützen.
Auf einen Unterhaltsanspruch gegen seine Mutter kann der Ast. nicht verwiesen werden.
Zwar hat der BGH jüngst entschieden, dass auch die Hausfrau/der Hausmann bei
Unterstützung durch den neuen Partner zumindest den Taschengeldanspruch nach §§
1360, 1360a BGB für den Unterhalt der leiblichen Kinder einsetzen muss (Urteil vom
5.10.2006 – XII ZR 197/02), zivilrechtlich ist der Ast. nach Abschluss einer Ausbildung
jedoch nur unter besonderen, hier nicht gegebenen Umständen überhaupt noch
unterhaltsberechtigt.
Es steht somit fest, dass der Ast. von seinem Stiefvater über die Mietzahlung hinaus
keine Unterstützung verlangen kann. Ihm steht daher der abgesenkte Regelsatz von
276,- EUR nach § 20 Abs. 3 SGB II in der ab 1.7.2006 geltenden Fassung zu.
Im Übrigen ist vollstreckungsrechtlich für den nur seiner Ehefrau gegenüber
unterhaltsverpflichteten Stiefvater das einen Monatsbetrag von 1359,99 EUR
übersteigende Einkommen nicht vor einem Zugriff der Banken geschützt (vgl. zu diesem
Aspekt der Stiefelternhaftung LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.7.2005 – L 14
B 48/05 AS ER). Nach Zahlung der Miete und des fiktiven SGB II-Bedarfs der Ehefrau
(311,- EUR) verbleiben somit vom unbereinigten Nettoeinkommen nur noch 626,- EUR,
also ein Betrag unterhalb des von Art. 2 GG geschützten Mindestselbstbehalts.
Ob die Familienverhältnisse bereits so zerrüttet sind, dass der Ast. als bloßer
Mitbewohner mit vollem Regelsatzanspruch zu gelten hat (Auflösung jeder Form des
gemeinsamen Wirtschaftens), muss der weiteren Sachverhaltsaufklärung im
Hauptsachverfahren vorbehalten bleiben. Hier ist dann auch zu klären, ob die volle
Mietübernahme nur eine die Hilfebedürftigkeit nicht beseitigende Nothilfe wegen der
eingestellten SGB II-Leistungen darstellt.
Hinsichtlich des Beschlusszeitraums hat das Gericht unter Beachtung des Grundsatzes,
dass die Hauptsache nur soweit vorweggenommen werden darf, wie es die
Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gebietet, den Monat des Antragseingangs bei
Gericht mit der Dauer eines regulären Bewilligungsabschnitts genommen. Erkennbare
Änderungen, die zu einer Schmälerung des Anspruchs führen, sind im genannten
Zeitraum nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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