Urteil des SozG Berlin vom 08.05.2007
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Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 08.05.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 102 AS 3626/07 ER
Der Antrag wir zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
Der Antrag der Antragsteller, den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die tatsächlichen
Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 1.026,91 EUR für den Zeitraum 1. Februar 2007 bis 31. März 2007 und
892 EUR ab 1. April 2007 zu übernehmen,
hat gemäß § 86 b Abs. 2 SGG keinen Erfolg.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht (§§ 86 b
Abs. 2 Satz 2, Satz 4 SGG i.V.m. 920 Abs. 2 ZPO).
Ein Obsiegen in der Hauptsache ist nicht überwiegend wahrscheinlich. Nach summarischer Prüfung hat der
Antragsgegner mit Bescheid vom 4. Dezember 2006 zu Recht für den Leistungszeitraum 1. Februar 2007 bis 30. Juni
2007 Kosten der Unterkunft nur in Höhe von monatlich 619 EUR bewilligt. Nach § 22 Abs. 1 SGB II werden laufende
Leistungen für Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen geleistet, soweit diese angemessen sind. Soweit
die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind
sie als Bedarf des Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem
Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel
oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Bei der
Beurteilung der Angemessenheit von Mietaufwendungen für eine Unterkunft ist nicht auf den jeweiligen örtlichen
Durchschnitt aller gezahlten Mietpreise, sondern auf die im unteren Bereich der für vergleichbare Wohnungen am
Wohnort des Leistungsempfängers marktüblichen Wohnungsmieten abzustellen und auf dieser Grundlage eine
Mietpreisspanne zu erstellen (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 2006 - B 7 b AS 10/06 R - und - B 7 b AS 18/06 R -;
Hessisches LSG, Urteil vom 5. Oktober 2006 - L 7 AS 126/06 ER -). Die angemessene Höhe der Unterkunftskosten
ist als Produkt aus der für den Leistungsempfänger abstrakt angemessenen Wohnungsgröße, dem
Wohnungsstandard und dem nach den örtlichen Verhältnissen angemessenen Mietzins pro qm zu ermitteln. Da es im
Ergebnis allein auf das Ergebnis ankommt, kann dahinstehen, ob einzelne Faktoren wie Ausstattung, Lage etc.
isoliert als angemessen anzusehen sind, solange der Grundsicherungsträger nicht mit unangemessen hohen Kosten
belastet wird. Als räumlicher Maßstab ist in erster Linie der Wohnort des Hilfebedürftigen maßgebend. Der Begriff des
Wohnortes muss nicht stets mit dem kommunalverfassungsrechtlichen Begriff der Gemeinde übereinstimmen. Bei
Großstädten sind kleinere räumliche Bereiche denkbar. Bei der Bildung des räumlichen Vergleichsmaßstabes ist zu
berücksichtigen, dass einem Hilfebedürftigen eine Aufgabe des sozialen Umfeldes grundsätzlich nicht zuzumuten ist
(vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7 b AS 10/06 R).
Nach diesen Grundsätzen ist die von den Antragstellern für die von ihnen seit 1984 genutzte 109, 79 qm große 4-
Zimmer-Wohnung zu zahlende Miete in Höhe von monatlich 1.026,91 EUR für den Zeitraum 1. Februar 2007 bis 31.
März 2007 und 892 EUR ab 1. April 2007 nicht angemessen. Für den 4-Personen-Haushalt der Antragsteller kann
entsprechend Nr. 4 Abs. 2 des Rundschreibens der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und
Verbraucherschutz - I Nr. 14/2005 - vom 17. Juni 2005 nur eine Bruttowarmmiete von 619 EUR als angemessen
anerkannt werden. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Für die 4-köpfige Bedarfsgemeinschaft der
Antragsteller ist ein Bedarf von 3,5 – 4 Zimmer mit einer Gesamtfläche von höchstens 85 qm anzuerkennen. Die
Wohnflächengrenze für eine 4-Zimmer-Wohnung ergibt sich aus der - gemäß der vorstehend zitierten Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts - heranzuziehenden Anlage 1 der Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 – WFB 1990
– in der Fassung vom 13. Dezember 1992 (ABl. 1993, S. 98). Die Wohnung der Antragsteller überschreitet die
Wohnflächengrenze um mehr als 20 qm. Das Gericht geht davon aus, dass am Wohnort der Antragsteller die
Angemessenheitsgrenze für 4 Zimmer-Wohnungen mit einer Wohnfläche von höchstens 85 qm bei 619 EUR liegt. Die
Antragsteller fassen den räumlichen Bereich ihres Wohnortes zu eng. Eine soziale Entwurzelung kann nicht schon
dann angenommen werden, wenn ein Hilfebedürftiger gezwungen wird, sein unmittelbares Wohnumfeld zu verlassen.
Vielmehr setzt eine soziale Entwurzelung voraus, dass die Beziehungen zur Umwelt in wesentlicher Hinsicht neu
gestaltet werden müssen. So darf der Hilfebedürftige nicht gezwungen werden, die für seine konkrete Existenz
konstitutiven Beziehungen aufzugeben. Er muss nach einem Umzug die Möglichkeit haben, seine als elementar
qualifizierten Kontakte und Lebensgewohnheiten fortzuführen (vgl. Rissen in Eicher/Spellbrink § 10 Rdnr. 125). Ihm
kann ein Umzug deshalb nur an einen Ort zugemutet werden, von dem aus für ihn wichtige Personen oder
Einrichtungen (Schulen, Versorgungseinrichtungen, Ärzte etc.) innerhalb angemessener Zeit mit Fahrrad, PKW oder
öffentlichem Verkehrsmittel erreichbar bleiben. Dabei ist in der Regel je nach Verkehrsmittel eine Zeit von einer halben
Stunde bis zu einer dreiviertel Stunde für einen Weg als hinnehmbar anzusehen. Hiervon ausgehend können die
Antragsteller jedenfalls auf Wohnungen im Bezirk , aber auch auf Wohnungen in den angrenzenden Bereichen der
Nachbarbezirke verwiesen werden. In dem so umschriebenen räumlichen Bereich findet sich genügend Wohnraum,
der hinsichtlich Größe und Ausstattungsstandard den berechtigten Bedürfnissen der Antragsteller entspricht und sich
im Rahmen des Richtwertes von 619 EUR hält. Wie die Wohnlagenkarte des Berliner Mietspiegels 2005 zeigt, sind die
hier in Frage kommenden Gebiete durch eine einfache Wohnlage geprägt. Für diese Wohnlage weist der Mietspiegel
für 60 bis unter 90 qm große Wohnungen, die in dem Zeitraum 1919 bis 1972 bezugsfertig geworden sind,
Durchschnittswerte für Nettokaltmieten zwischen 3,09 EUR/qm und 4,27 EUR/qm aus. Bei einer 85 qm großen
Wohnung ergibt sich eine Durchschnittsspanne zwischen 262, 65 EUR und 362,95 EUR. Der Mittelwert aus
vorgenannten Beträgen beträgt 312,80 EUR. Zum Richtwert von 619 EUR verbleibt eine Differenz von 306,20 EUR.
Dieser Differenzbetrag ist ausreichend, um die hinzuzurechnenden durchschnittlichen Nebenkosten einschließlich
Heizung abzudecken.
Da nach dem Vorstehenden die Kosten der Unterkunft der Antragsteller nicht angemessen sind, waren und sind sie
verpflichtet, sich ernsthaft und intensiv um eine andere bedarfsgerechte und kostengünstigere Wohnung zu bemühen.
Denn § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II normiert eine Verpflichtung des Hilfebedürftigen zu Bemühungen um eine
Kostensenkung (vgl. Hessisches LSG, a. a.O.). Dem sind die Antragsteller nicht nachgekommen. Die von ihnen
eingereichten Wohnungsangebote beziehen sich auf Wohnungen in , die überwiegend zu groß und im Hinblick auf ihre
räumliche Lage und Ausstattung nicht dem unteren Marktsegment zuzuordnen sind. Eine Internet-Recherche unter
www.immobilienscout24.de ergibt, dass durchaus Wohnungen verfügbar sind, die dem oben dargelegten
Anforderungsprofil entsprechen ...
Der Antragsgegner hat die Antragsteller zuletzt mit Schreiben vom 12. April 2006 unter Fristsetzung bis zum 31.
Oktober 2006 unter Mitteilung der Angemessenheitsgrenze aufgefordert, die Aufwendungen für die Unterkunft zu
senken. Mit dieser Aufforderung begann die Frist von sechs Monaten nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu laufen (vgl.
BSG, a. a. O.). Gründe im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, die einem Wohnungswechsel entgegenstehen,
haben die Antragsteller nicht aufgezeigt. Da die Frist abgelaufen ist, ist der Antragsgegner berechtigt, die
tatsächlichen Kosten der Unterkunft nur noch insoweit zu übernehmen, als diese die Angemessenheitsgrenze von 619
EUR nicht überschreiten.
Ein Anordnungsgrund ist nach dem Vorstehenden ebenfalls nicht gegeben. Den Antragstellern ist es für die Dauer des
Hauptsacheverfahrens zuzumuten, die von dem Antragsgegner nicht übernommenen Kosten der Unterkunft in Höhe
von monatlich 273 EUR aus den ihnen bewilligten Regelleistungen in Höhe von insgesamt 1.090 EUR zu decken.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.