Urteil des SozG Berlin vom 22.09.2010

SozG Berlin: treu und glauben, innere medizin, unterbrechung der verjährung, erlass, richtigstellung, vertrauensschutz, auflage, vergleich, versorgung, rechtsgrundlage

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Gericht:
SG Berlin 71.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 71 KA 552/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 45 Abs 2 S 1 BMV-Ä, § 34 Abs
4 S 1 EKV-Ä, § 34 Abs 4 S 2 EKV-
Ä, § 45 Abs 2 SGB 1, § 82 Abs 1
SGB 5
Vertragsärztliche Versorgung - Ausschlussfrist für sachlich-
rechnerische Berichtigungen - Hemmung von Ausschlussfristen -
Untätigkeit - Vergleichsverhandlungen)
Leitsatz
1. Für sachlich-rechnerische Berichtigungen im Sinne von § 45 Abs 2 S 1 BMV-Ä bzw. § 34 Abs
4 S 1 und 2 EKV-Ä gilt eine vierjährige Ausschlussfrist, innerhalb derer der
Richtigstellungsbescheid der Beklagten dem Betroffenen bekannt gegeben werden muss.
Nach Ablauf der Ausschlussfrist ist eine sachlich-rechnerische Richtigstellung auf der
Grundlage der bundesmantelvertraglichen Vorschriften ausgeschlossen (BSG, Urteil vom
6.9.2006 - Az. B 6 KA 40/05- mit weiteren Nachweisen).
2. Eine Hemmung von Ausschlussfristen - abgesehen von dem Fall einer gerichtlichen
Rechtsverfolgung - ist nicht nur dann möglich, wenn zuvor ein Bescheid erlassen worden ist,
vielmehr ist davon auszugehen, dass die Hemmungsvorschriften auch auf andere
Sachverhalte zu übertragen sind, insbesondere auf denjenigen, dass zwischen den Beteiligten
Vergleichsverhandlungen geführt werden. Auch in diesem Fall besteht kein Vertrauensschutz
auf den Bestand des Status quo.
3. Die Untätigkeit einer an den Vergleichsverhandlungen beteiligten Parteien über neun
Monate hinweg führt zu einem "Einschlafen" der Vergleichsverhandlungen mit der Folge, dass
die Ausschlussfristen für eine Honorarrückforderung nicht weiter gehemmt werden.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 13. August 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2009 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit eines Honoraraufhebungs- und
Rückforderungsbescheides als Ergebnis der Plausibilitätsprüfung, vor dem Hintergrund
eines von der Beklagten festgestellten Missbrauchs der Rechtsform der
Praxisgemeinschaft.
Der Kläger nimmt seit dem 1. Juli 1995 als Facharzt für Innere Medizin im hausärztlichen
Bereich an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Bis zum 30. September 2004 war er
mit Herrn K G, Facharzt für Innere Medizin im hausärztlichen Bereich, in einer
Praxisgemeinschaft in der B Straße .. in …B im Verwaltungsbezirk T-S tätig. Seit dem 1.
Oktober 2004 ist er unter anderem gemeinsam mit Herrn G in einem Medizinischen
Versorgungszentrum tätig.
Für das Quartal III/2002 setzte die Beklagte im Honorarfestsetzungsbescheid das
Honorar für den Kläger auf 75.959,02 Euro fest. Der Honorarfestsetzungsbescheid ist
dem Kläger am 4. April 2003 zugestellt worden.
Im Sommer 2004 führte der Plausibilitätsausschuss der Beklagten bei dem Kläger und
Herrn G eine Plausibilitätsprüfung im Sinne von § 46 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-
Ä) durch. Mit Schreiben vom 8. Juli 2004 äußerte der Plausibilitätsausschuss der
Beklagten gegenüber dem Kläger, dass ein außergewöhnlich hoher Anteil an
gemeinsamen Patienten zwischen der Praxis des Klägers und der Praxis des Herrn G
vorliege. Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts forderte der Plausibilitätsausschuss
den Kläger zu einer Stellungnahme auf.
Mit Schreiben vom 8. August 2004 nahm der Kläger gegenüber dem
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Mit Schreiben vom 8. August 2004 nahm der Kläger gegenüber dem
Plausibilitätsausschuss Stellung. Der Plausibilitätsausschuss der Beklagten teilte dem
Kläger mit Schreiben vom 22. September 2006 mit, dass er im Quartal III/2002
unzutreffende Abrechnungen vorgenommen habe. Diese Annahme beruhe auf der
Tatsache, dass der Kläger und Herr G in diesem Quartal 601 „gemeinsame Patienten“
behandelt hätten, wovon jedoch nur für 86 Patienten eine gemeinsame Behandlung
plausibel gewesen sei. Durch die Abrechnung für die übrigen 515 gemeinsamen
Patienten habe er sich vertragsärztliches Honorar verschafft, das ihm nicht zustehe. Der
Plausibilitätsausschuss der Beklagten forderte den Kläger im Rahmen eines
Vergleichsvorschlags zu einer Schadenswiedergutmachung in Höhe von 16.242,32 Euro
gegen Beendigung der Plausibilitätsprüfung auf.
Mit Schreiben vom 26. September 2006 bat der Kläger darum, ihm einen höheren Anteil
als 10% an den „gemeinsamen Patienten“ mit Herrn G zu belassen. Er schlug 30% vor.
Der Plausibilitätsausschuss der Beklagten bestätigte mit Schreiben vom 6. Dezember
2006 den Eingang des Schreibens vom 26. September 2006 und interpretierte das
Schreiben dahingehend, dass das das Vergleichsangebot vom 22. September 2006
nicht angenommen werde. Der Kläger wandte sich daraufhin mit Schreiben vom 8.
Dezember 2006 erneut an die Beklagte. Er zog sein Vergleichsangebot vom 26.
September 2006 zurück und bat um Zusendung eines neuen Vergleichsangebotes auf
der Grundlage eines geänderten Berechnungsmodells.
Mehr als ein Jahr und vier Monate später bot die Leiterin der Abteilung
Plausibilitätsprüfung der Beklagten dem Kläger mit Schreiben vom 22. April 2008 an, das
Plausibilitätsverfahren gegen Zahlung einer Schadenswiedergutmachung in Höhe von
5.000 Euro (brutto) einzustellen.
Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 24. April 2008 mit, dass er das
Vergleichsangebot vom 22. April 2008 annehmen werde, wenn keine Verjährung des
Anspruchs vorliege. Seiner Kenntnis nach sei der Anspruch verjährt.
Mit Schreiben vom 25. April 2008 teilte die Leiterin der Abteilung Plausibilitätsprüfung der
Beklagten dem Kläger mit, dass die Rückforderungsansprüche ihrer Ansicht nach noch
nicht verjährt seien. Zur Begründung führte sie aus, dass die vierjährige Ausschlussfrist
aufgrund schwebender Vergleichsverhandlungen gehemmt gewesen und daher noch
nicht verstrichen sei. Sie forderte den Kläger zur Überweisung von 4.880 Euro (netto)
innerhalb von vier Wochen auf.
Der Kläger vertrat gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 5. Mai 2008 die
Auffassung, dass die Hemmung der Verjährung spätestens mit Eingang seines
Schreibens vom 26. September 2006 außer Kraft gesetzt worden sei. Er wiederholte
seine Absicht, das Vergleichsangebot vom 22. April 2008 anzunehmen, falls keine
Verjährung vorliege.
Mit Schreiben vom 8. Mai 2008 teilte die Leiterin der Abteilung Plausibilitätsprüfung der
Beklagten dem Kläger mit, dass ihrer Auffassung nach Vergleichsverhandlungen mit
dem Schreiben der Beklagten vom 26. September 2006 begonnen wurden und bis zum
24. April 2008 angedauert hätten.
Unter dem 22. Mai 2008 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er weiterhin von einer
Verjährung der Ansprüche ausgehe. Eine Rückzahlung lehne er ab. Unterdessen forderte
die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 27. Mai 2008 erneut zur Zahlung von 4.880
Euro (netto) auf.
Mit Schreiben vom 29. Mai 2008 teilte die Leiterin der Abteilung Plausibilitätsprüfung der
Beklagten dem Kläger mit, dass sein Schreiben vom 22. Mai 2008 als endgültige
Ablehnung des Vergleichs gewertet werde. Die Angelegenheit werde nun dem
Plausibilitätsausschuss vorgelegt. Die Rückforderungsansprüche seien nicht verjährt.
Mit Bescheid vom 13. August 2008 hob der Vorstand der Beklagten auf Empfehlung des
Plausibilitätsausschusses der Beklagten den Honorarbescheid für das Quartal III/2002
auf, korrigierte den Honorarbescheid um 5.614,75 Euro brutto und forderte vom Kläger
eine Honorarrückzahlung von 5.480 Euro (netto). Zur Begründung wurde auf den in der
Plausibilitätsprüfung festgestellten Verstoß gegen die vertragsärztlichen
Abrechnungsvorgaben verwiesen. Hinsichtlich der Verjährung vertrat die Beklagte die
Auffassung, dass diese durch Vergleichsverhandlungen in der Zeit vom 22. September
2006 bis zum Eingang des Schreibens des Klägers vom 22. Mai 2008, eingegangen bei
der Beklagten am 28. Mai 2008, gehemmt worden sei.
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Mit Schreiben vom 4. September 2008, der Beklagten am selben Tage gefaxt, legte der
Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 13. August 2008 ein. Zur
Begründung führte er an, dass die Rückforderungsansprüche verjährt seien. Dies führte
er mit Schreiben vom 20. Mai 2009 weiter aus.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni
2009, den Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 16. Juli 2009, zurück.
Allein die Tatsache, dass seit der Bitte um ein neues Vergleichsangebot durch den
Kläger und ihrem Antwortschreiben mehr als ein Jahr und vier Monate vergangen seien,
führe nicht dazu, die Verhandlungen als beendet anzusehen. Es sei Sache des Klägers
gewesen, durch eine eindeutige Ablehnung weiterer Verhandlungen die
Verjährungshemmung zu beenden. Eine solch eindeutige Erklärung könne erst im
Schreiben vom 22. Mai 2008 gesehen werden. Erst mit diesem Schreiben sei die
Hemmung der Verjährung beendet worden, da hierdurch unmissverständlich der
vorgeschlagene Vergleich abgelehnt und durch Hinweis auf die angebliche Verjährung
weitere Vergleichsverhandlungen ausgeschlossen worden seien. Es sei daher davon
auszugehen, dass die Verjährung in der Zeit vom 4. April 2003 bis 22. September 2006
und dann wieder ab dem 23. Mai 2008 bis zum 13. August 2008, dem Zeitpunkt des
Erlasses des Bescheides, gelaufen sei. In der Zeit vom 23. September 2006 bis 22. Mai
2008 sei die Verjährung gehemmt gewesen. Bis zum Erlass des Bescheides seien daher
von der vierjährigen Verjährungsfrist erst drei Jahre und sechs Monate abgelaufen
gewesen, die Forderung sei nicht verjährt.
Am 6. August 2009 erhob der Kläger über seinen Verfahrensbevollmächtigten Klage vor
dem Sozialgericht Berlin. Die von dem Bundessozialgericht (BSG) entwickelte vierjährige
Ausschlussfrist, innerhalb derer der Richtigstellungsbescheid der Beklagten dem
Betroffenen bekannt gegeben werden müsse, sei vor dem Erlass des
Honoraraufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 13. August 2008 abgelaufen
gewesen. Verjährungsrechtliche Hemmungsvorschriften – insbesondere §§ 203 ff.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) – fänden entgegen der Auffassung der Beklagten und
auch nach der von ihr zitierten Entscheidung des BSG vom 6. September 2006 (Az. B 6
KA 40/05 R) auf die Ausschlussfrist in diesem Verfahren keine (entsprechende)
Anwendung. Deshalb sei die vierjährige Ausschlussfrist spätestens am 4. April 2007
abgelaufen. Eine Ablaufhemmung sei auch vor dem Hintergrund nicht eingetreten, dass
vor Erlass des Honoraraufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 13. August
2008 keine anderweitige Entscheidung der Beklagten ergangen sei, die einen
Vertrauensschutz des Klägers hätte ausschließen können.
Selbst bei Anwendung der verjährungsrechtlichen Hemmungsvorschriften sei die
Ausschlussfrist vor dem 13. August 2008 abgelaufen gewesen. Unter Berücksichtigung
der Vergleichsverhandlungen könne eine Hemmung allenfalls in der Zeit vom 22.
September 2006 bis zum 8. Januar 2007 stattgefunden haben, so dass die
Ausschlussfrist spätestens am 4. August 2007 abgelaufen sei. Verhandlungen im Sinne
des § 203 Absatz 1 BGB führten dann nicht mehr zu einer Hemmung, wenn der eine
oder der andere Teil die Fortsetzung verweigere. Eine Verweigerung der Fortsetzung der
Verhandlung könne nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH,
Urteil vom 07.01.1986, Az. VI ZR 23/84) sowie der ihm folgenden Oberlandesgerichte
Zweibrücken (ZGS 07, 359) und Koblenz (ZGS 06/117) auch dadurch eintreten, dass
eine Partei bzw. ein Beteiligter die Verhandlungen „einschlafen lasse“. Die Hemmung
der Verjährung ende in diesen Fällen zu dem Zeitpunkt, in dem der nächste Schritt nach
Treu und Glauben zu erwarten gewesen wäre (Heinrichs, in Palandt, BGB, 68. Auflage
2009, § 203 Rn. 4). In den oben genannten Entscheidungen gingen das OLG
Zweibrücken sowie das OLG Koblenz davon aus, dass die verjährungshemmende
Wirkung von Vergleichsverhandlungen entfalle, wenn Vergleichsverhandlungen über
einen längeren Zeitraum als einen Monat nicht weitergeführt würden. Vorliegend habe er
damit rechnen können, spätestens einen Monat nach seinem Schreiben vom 8.
Dezember 2006, mithin bis zum 8. Januar 2007, eine Reaktion seitens der Beklagten zu
erhalten.
Auf die inhaltliche Rechtmäßigkeit des Honoraraufhebungs- und
Rückforderungsbescheides komme es damit nicht mehr an.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 13. August 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf ihre Ausführungen in den
angefochtenen Bescheiden. Weiter führt sie mit Schreiben vom 4. Februar 2010 aus,
dem Urteil des BSG vom 6. September 2006 in dem vorgenannten Verfahren lasse sich
gerade nicht entnehmen, dass eine Hemmung nur dann möglich sein solle, wenn zuvor
ein Bescheid erlassen worden sei.
Die analoge Anwendung der Hemmungsvorschriften bei vergleichbaren
Sachverhaltskonstellationen sei nicht ausgeschlossen. Des Weiteren seien die
Verjährungsvorschriften des BGB, insbesondere die Vorschriften über die Hemmung der
Verjährung, entsprechend anwendbar. Entgegen der Ansicht des Klägers sei die
Hemmung nicht dadurch beendet worden, dass die Verhandlungen „eingeschlafen“
seien. Soweit der Kläger sich auf eine Frist von ca. einem Monat zur Begründung eines
„Einschlafenlassen“ beziehe, setze dies – auch nach der genannten Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte Koblenz und Zweibrücken – voraus, dass zuvor eine Frist gesetzt
worden sei. Mit dem Schreiben des Klägers vom 8. Dezember 2006 sei nicht das „letzte
Wort“ zwischen den Beteiligten gewechselt worden. Im Frühjahr und Sommer 2007 sei
eine Korrespondenz hinsichtlich der Frage „gemeinsamer Patienten“ in den Quartalen
I/2003 bis I/2005 geführt worden. Schließlich sei dem Kläger durchaus erkennbar
gewesen, dass es nicht ungewöhnlich sei, wenn über eine gewisse Zeitspanne kein
Schriftwechsel erfolge: Mit seinem Schreiben vom 8. August 2004 habe er Stellung zu
der Honorarabrechnung für das Quartal III/2002 genommen. Erst mit Schreiben vom 22.
September 2006 habe sie – die Beklagte – dem Kläger das erste Vergleichsangebot
unterbreitet.
Die Gerichts- und Verwaltungsakten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und haben bei der Entscheidung vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des
Vorbringens der Beteiligten sowie des übrigen Inhalts wird auf sie Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 13. August 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in
seinen Rechten.
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides sind die Bestimmungen der
Bundesmantelverträge über die Berechtigung der Kassenärztlichen Vereinigungen zur
sachlich-rechnerischen Richtigstellung (§ 45 Absatz 2 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte
- BMV-Ä -, § 34 Absatz 4 Sätze 1 und 2 Ersatzkassenvertrag-Ärzte - EKV-Ä -), die in
ihrem Anwendungsbereich die Regeln des § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X)
verdrängen (BSG, ständige Rechtsprechung., zum Beispiel Urteil vom 28. September
2005, Az.: B 6 KA14/04R, SozR 4-5520 § 32 Nr.2). Nach diesen im Regional- und
Ersatzkassenbereich im Wesentlichen gleichlautenden Vorschriften hat die
Kassenärztliche Vereinigung die Aufgabe, die von den Vertragsärzten eingereichten
Abrechnungen rechnerisch und gebührenordnungsmäßig zu prüfen und gegebenenfalls
richtig zu stellen. Dies kann auch im Wege nachgehender Richtigstellung erfolgen, d.h.
die Kassenärztliche Vereinigung kann, soweit Honorarbescheide erlassen wurden, diese
ganz oder teilweise ändern oder zurücknehmen und gegebenenfalls neu erlassen (BSG
a.a.O.). Die Richtigstellung kann von Amts wegen oder auf Antrag einer Krankenkasse
erfolgen (vgl. BSGE 89, 90, 93 f., SozR 3-2500 § 82 Nr.3 S.6). Die Befugnis zur sachlich-
rechnerischen Richtigstellung der Honoraranforderungen auf bundesmantelvertraglicher
Rechtsgrundlage besteht nicht nur im Fall rechnerischer und gebührenordnungsmäßiger
Fehler, sondern erfasst auch die Fallgestaltungen, in denen der Vertragsarzt Leistungen
unter Verstoß gegen Vorschriften über formale und inhaltliche Voraussetzungen der
Leistungserbringung erbracht und abgerechnet hat. Das BSG hat das Rechtsinstitut der
sachlich-rechnerischen Richtigstellung z.B. bei Abrechnung fachfremder Leistungen oder
qualitativ mangelhafter Leistungen ebenso für anwendbar erachtet, wie auch bei durch
nicht genehmigte Assistenten erbrachten Leistungen und bei Aufrechterhaltung einer
übergroßen Praxis mit Hilfe eines Assistenten sowie insbesondere auch im Fall der
Leistungserbringung in Form einer Praxisgemeinschaft obwohl die ärztliche Tätigkeit
tatsächlich wie in einer Gemeinschaftspraxis erfolgt ist (Urteil vom 22. März 2006, Az.: B
6 KA 76/04 R, SozR 4-5520 § 32 Nr.6).
Für sachlich-rechnerische Berichtigungen im Sinne von § 45 Absatz 2 Satz 1 BMV-Ä bzw.
§ 34 Absatz 4 Sätze 1 und 2 EKV-Ä gilt eine vierjährige Ausschlussfrist, innerhalb derer
der Richtigstellungsbescheid der Beklagten dem Betroffenen bekannt gegeben werden
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der Richtigstellungsbescheid der Beklagten dem Betroffenen bekannt gegeben werden
muss. Nach Ablauf der Ausschlussfrist ist eine sachlich-rechnerische Richtigstellung auf
der Grundlage der bundesmantelvertraglichen Vorschriften ausgeschlossen (BSG, Urteil
vom 6. September 2006, Az. B 6 KA 40/05, Rn. 12 des bei Juris veröffentlichten Urteils,
mit weiteren Nachweisen).
Der angegriffene Bescheid dient der sachlich-rechnerischen Richtigstellung im Sinne der
vorgenannten Vorschriften, so dass die vierjährige Ausschlussfrist Anwendung findet.
Diese war vor Erlass des Honoraraufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 13.
August 2008 abgelaufen.
Die Frist hat am 4. April 2003 mit der Zustellung des Honorarbescheides für das Quartal
II/2002 an den Kläger zu laufen begonnen und war vor dem 13. August 2008 – dem
Erlass des Honoraraufhebungsbescheides – abgelaufen.
Zwar finden entgegen der Auffassung des Klägers die verjährungsrechtlichen
Hemmungsvorschriften – insbesondere §§ 203 ff. BGB – auf die Ausschlussfrist in
diesem Fall entsprechende Anwendung:
Die Unterbrechung bzw. Hemmung der für den Erlass von
Richtigstellungsbescheiden folgt nach Auffassung der Kammer aus der entsprechenden
Anwendung des § 45 Absatz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) über die
Unterbrechung bzw. Hemmung der . Nach § 45 Absatz 2 SGB I in der ab 1.
Januar 2002 maßgeblichen Fassung gelten für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den
Neubeginn und die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des BGB sinngemäß.
Das BSG hat hierzu in dem vorgenannten Urteil vom 6. September 2006 und unter
Angabe weiterer Nachweise ausgeführt, dass die Anwendung einzelner
Verjährungsvorschriften, insbesondere der über die Unterbrechung bzw. Hemmung der
Verjährung, auf Ausschlussfristen trotz der Unterschiede zwischen Verjährung und
Ausschlussfrist nicht ausgeschlossen und auch im bürgerlichen Recht anerkannt sei.
Demgemäß habe bereits die ältere Rechtsprechung des BSG zum Kassen-
/Vertragsarztrecht die Möglichkeit einer Unterbrechung (nach altem Recht) der
vierjährigen Ausschlussfrist für Wirtschaftlichkeitsprüfungsbescheide in entsprechender
Anwendung der verjährungsrechtlichen Vorschrift des § 209 Abs 1 BGB (alte Fassung)
anerkannt (BSGE 76, 285, 289 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 30 S 170 f).
Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an. Sie vertritt die Auffassung, dass
insbesondere aus der Vorschrift des § 45 Absatz 2 SGB I auf den Willen des
Gesetzgebers geschlossen werden kann, die bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen über
Hemmung und Unterbrechung der Verjährung für das Sozialrecht im allgemeinen zu
übernehmen (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 20. September 1995, Az. B 6 RKa 40/94,
Rn. 27 des bei Juris veröffentlichten Urteils).
Dass BSG hat in dem oben zitierten Urteil vom 6. September 2006 weiter ausgeführt,
dass für die Hemmung der Verjährung der Erlass eines Verwaltungsaktes gegenüber
dem Betroffenen ausreiche (vgl. Rn. 15 des bei Juris zitierten Urteils). Dem lässt sich
nach Auffassung der Kammer jedoch nicht entnehmen, dass eine Hemmung von
Ausschlussfristen – abgesehen von dem Fall einer gerichtlichen Rechtsverfolgung -
lediglich dann möglich sein soll, wenn zuvor ein Bescheid erlassen worden ist und eine
entsprechende Anwendung der Hemmungsvorschriften auf vergleichbare
Sachverhaltskonstellationen ausgeschlossen sein soll. Vielmehr ist davon auszugehen,
dass die Hemmungsvorschriften auch auf andere Sachverhalte zu übertragen sind,
insbesondere auf denjenigen, dass zwischen den Beteiligten Vergleichsverhandlungen
geführt werden. Wenn schon der einseitige Erlass eines Verwaltungsaktes gegenüber
dem Betroffenen ausreicht, um die Wirkung der Hemmung herbeizuführen, so muss es
ebenfalls ausreichen, wenn zwischen den Beteiligten Verhandlungen geführt werden.
Auch in diesem Fall besteht kein Vertrauensschutz auf den Bestand des Status quo.
Nach Auffassung der Kammer hat jedoch die Hemmung der Ausschlussfrist letztlich
nicht dazu geführt, dass diese bei Erlass des Honoraraufhebungs- und
Rückforderungsbescheides vom 13. August 2008 noch nicht abgelaufen gewesen wäre.
Die Hemmung ist dadurch beendet worden, dass die Vergleichsverhandlungen zwischen
den Beteiligten „eingeschlafen“ sind.
Hemmung der Verjährung bedeutet nach § 209 BGB (in der ab dem 1. Januar 2002
geltenden Fassung), dass der Zeitraum, während dessen die Verjährung gehemmt ist,
nicht in die Verjährungsfrist eingerechnet wird. Gemäß § 203 Absatz 1 BGB findet eine
Hemmung nur statt, solange Verhandlungen zwischen dem Schuldner und dem
Gläubiger schweben. Die Hemmung endet, wenn eine Seite sich weigert, die
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Gläubiger schweben. Die Hemmung endet, wenn eine Seite sich weigert, die
Verhandlungen fortzusetzen (Heinrichs, in Palandt, BGB, 68. Auflage 2009, § 203 Rn. 4).
Eine Verweigerung der Fortsetzung der Verhandlung kann nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 7. Januar 1986, Az. VI ZR
23/84) sowie der ihm folgenden Oberlandesgerichte Zweibrücken (ZGS 07, 359) und
Koblenz (ZGS 06/117) auch dadurch eintreten, dass eine Partei die Verhandlungen
„einschlafen lässt“. Der BGH hat mehrfach entschieden, dass es für eine Beendigung
der Hemmung ausreiche, wenn der Ersatzberechtigte die Verhandlungen „einschlafen“
lasse. Ein Abbruch der Verhandlungen durch ein solches „Einschlafenlassen“ ist dann
anzunehmen, wenn der Berechtigte den Zeitpunkt versäumt, zu dem eine Antwort auf
die letzte Anfrage des Ersatzpflichtigen spätestens zu erwarten gewesen wäre, falls die
Verhandlungen mit verjährungshemmender Wirkung hätten fortgesetzt werden sollen
(zuletzt: BGH, Urteil vom 6. November 2008, Az. IX ZR 158/07, veröffentlicht bei Juris,
mit weiteren Nachweisen). Die Hemmung der Verjährung endet in diesen Fällen zu dem
Zeitpunkt, in dem der nächste Schritt nach Treu und Glauben zu erwarten gewesen wäre
(Heinrichs, in Palandt, BGB, 68. Auflage, 2009, § 203 Rn. 4).
Entgegen der Auffassung des Klägers kann von einem Einschlafen der Verhandlungen
jedoch nicht bereits dann ausgegangen werden, wenn ein Monat der Untätigkeit
vergangen ist. In den vorgenannten OLG-Entscheidungen hat das Verstreichen eines
Monats lediglich deshalb zu einem „Einschlafen“ der Vergleichsverhandlungen geführt,
weil zuvor von einem der Beteiligten an den Vergleichsverhandlungen eine
entsprechende Frist gesetzt worden war. Zu einer Fristsetzung ist es vorliegend nicht
gekommen. Dessen ungeachtet werden – entsprechend den obigen Ausführungen – die
zeitlichen Grenzen für ein Einschlafen der Vergleichsverhandlungen nach dem
allgemeinen Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben gesetzt.
Nachdem ein Vergleich zwischen den Beteiligten auf der Grundlage einer
Schadenswiedergutmachung in Höhe von 16.242,32 Euro nicht zustande kam, wandte
sich der Kläger mit Schreiben vom 8. Dezember 2006 erneut an die Beklagte. Er zog
sein Vergleichsangebot vom 26. September 2006 zurück und bat um Zusendung eines
neuen Vergleichsangebotes auf der Grundlage eines geänderten Berechnungsmodells.
Erst über ein Jahr und vier Monate später bot die Leiterin der Abteilung
Plausibilitätsprüfung der Beklagten dem Kläger mit Schreiben vom 22. April 2008 an, das
Plausibilitätsverfahren gegen Zahlung einer Schadenswiedergutmachung in Höhe von
5.000 Euro (brutto) einzustellen.
Die Kammer folgt zwar nicht der Auffassung des Klägers, dass spätestens nach einem
Monat, mithin bis zum 8. Januar 2007, mit einer Reaktion seitens der Beklagten zu
rechnen gewesen wäre, anderenfalls die Vergleichsverhandlungen „einschlafen“. Sie
bewertet jedoch den Umstand, dass die Beklagte sich auf die Anregung des Klägers, ein
Vergleichsangebot auf der Grundlage eines geänderten Berechnungsmodells zu
unterbreiten, über ein Jahr und vier Monate mit einer Antwort Zeit gelassen hat,
dahingehend, dass die Vergleichsverhandlungen zwischenzeitlich „eingeschlafen“ seien.
Bis zum Beginn der Vergleichsverhandlungen – dem 22. September 2006 – waren
bereits über drei Jahre und fünf Monate seit Zustellung des Honorarbescheides für das
Quartal III/2002 vergangen, so dass die Beteiligten nicht einmal mehr sieben Monate von
dem Eintritt der Ausschlussfrist für Honoraraufhebungs- und Rückforderungsbescheide
für das entsprechende Quartal trennten. Zwischen dem Schreiben des Klägers vom 8.
Dezember 2006 und der Antwort seitens der Beklagten vom 22. April 2008 lagen über
ein Jahr und vier Monate. Zwar ist davon auszugehen, dass jedenfalls mit der
Rückantwort des Klägers durch Schreiben vom 24. April 2008 (in dem er seinerseits
erneute Vergleichsbereitschaft zeigte) erneut grundsätzlich fristhemmende
Vergleichsverhandlungen stattfanden. Die Ausschlussfrist war zu diesem Zeitpunkt indes
bereits abgelaufen. Die Kammer vertritt die Auffassung, dass jedenfalls die Untätigkeit
einer der an Vergleichsverhandlungen beteiligten Parteien über neun Monate hinweg zu
einem „Einschlafen“ der Vergleichsverhandlungen führt, mit der Folge, dass die
Ausschlussfristen für eine Honorarrückforderung nicht weiter gehemmt werden. Die
Hemmung nach § 203 BGB soll es dem Gläubiger ermöglichen, mit dem Schuldner
Vergleichsmöglichkeiten zu erörtern, ohne dabei unter dem Zeitdruck der drohenden
Verjährung zu stehen. Dies setzt aber voraus, dass die Parteien bzw. Beteiligten davon
ausgehen können, die Vergleichsverhandlungen dauerten noch an. Lässt der Gläubiger
die Vergleichsverhandlungen einschlafen, ist kein Grund ersichtlich, ihn der
Notwendigkeit zu entbinden, sich darüber schlüssig zu werden, ob er seine Ansprüche
gerichtlich geltend machen will oder nicht. Sein Schutzbedürfnis tritt dann hinter dem
Schutzbedürfnis des Schuldners zurück.
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Schließt ein Zeitraum von neun Monaten an das Schreiben des Klägers vom 8.
Dezember 2006 an, so liegen zwischen dem Ende dieses Zeitraums und dem
Antwortschreiben der Beklagten vom 22. April 2008 noch mehr als sieben Monate, die –
addiert man sie zu dem bereits vor-verstrichenen Zeitraum von mehr als drei Jahren und
fünf Monaten hinzu – insgesamt zu einem Überschreiten der Grenze von vier Jahren
führen. Unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben war nach Auffassung der
Kammer jedenfalls neun Monate nach dem letzten Schreiben des Klägers vom 8.
Dezember 2006 von einem Einschlafen der Vergleichsverhandlungen auszugehen. Der
Kläger konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr davon ausgehen, die
Vergleichsverhandlungen mit der Beklagten dauerten noch an.
Der Umstand, dass die Beklagte sich gegenüber dem Kläger bereits zuvor einmal mit
einer Antwort reichlich Zeit gelassen hatte – der Kläger nahm mit seinem Schreiben vom
8. August 2004 Stellung zu der Honorarabrechnung für das Quartal III/2002 und erst mit
Schreiben vom 22. September 2006 erfolgte das erste Vergleichsangebot der Beklagten
gegenüber dem Kläger – führt zu keiner abweichenden Sichtweise. Zum einen befanden
sich die Beteiligten in dem Zeitraum zwischen dem 8. August 2004 und dem 22.
September 2006 nicht in Vergleichsverhandlungen, zum anderen kann eine verzögerte
Bearbeitung von Seiten der Beklagten im Ergebnis nicht dazu führen, dass
Ausschlussfristen verlängert bzw. im Ergebnis umgangen werden bzw. dass
Rechtspositionen der Beklagten erweitert werden.
Auch der Umstand, dass die Beteiligten in dem Zeitraum zwischen dem 8. Dezember
2006 und dem 22. April 2008 wegen der Frage „gemeinsamer Patienten“ in anderen
Abrechnungsquartalen als dem hier streitgegenständlichen Korrespondenz führten,
gebietet keine abweichende Sichtweise. Aus einem Schriftverkehr in einem anderen
Verfahren kann nicht der Schluss gezogen werden, dass in dem vorliegenden Verfahren
Vergleichsverhandlungen aufrechterhalten bzw. fortgeführt werden sollen.
Auf die inhaltliche Rechtmäßigkeit des Honoraraufhebungs- und
Rückforderungsbescheides kommt es vorliegend nach alledem nicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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