Urteil des SozG Berlin vom 02.10.2009
SozG Berlin: vorverfahren, vorbefassung, gerichtsverfahren, verwaltungsverfahren, vergleich, vertretung, vorschuss, vergütung, minderung, form
Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 02.10.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 164 SF 1112/09 E
Auf die Erinnerung wird der Vergütungsfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin vom 18.01.2008 geändert. Der im
Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Erinnerungsführerin ist ein weiterer Vorschuss iHv 41,65 EUR aus der
Landeskasse zu gewähren. Diese Entscheidung ergeht gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet, § 56 Abs. 2 Sätze
2 u. 3 RVG.
Gründe:
I.
Mit Beschluss vom 25. Juli 2005 wurde der Klägerin im Klageverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der
Erinnerungsführerin bewilligt.
Unter dem 15.01.2008 beantragte die Erinnerungsführerin die Gewährung eines Vorschusses iSd § 47 RVG. Dabei
machte sie folgende Gebühren und Auslagen geltend:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG 170,00 EUR Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR
Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG 36,10 EUR zusammen: 226,10 EUR.
Außerdem gab die Erinnerungsführerin an, unter dem 29.03.2005 einen Betrag von 97,44 EUR (brutto) für
Beratungshilfe aus der Landeskasse erhalten zu haben.
Mit Beschluss vom 18.01.2008 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle den zu gewährenden Vorschuss auf
den Betrag von 184,45 EUR fest. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG 170,00 EUR abzüglich Beratungshilfegebühr Nr. 2603 VV RVG -35,00 EUR
Auslagenpauschale nach Nr. 7002 VV RVG 20,00 EUR Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG 29,45 EUR zusammen:
184,45 EUR.
Zur Begründung führte die Urkundsbeamtin aus, nach Nr. 2603 II VV RVG sei die Geschäftsgebühr nach Nr. 2603 VV
RVG (70,00 EUR) zur Hälfte auf ein sich anschließendes Gerichtsverfahren anzurechen. Demnach sei hier ein Betrag
von 35,00 EUR auf die Verfahrensgebühr anzurechnen.
Dagegen richtet sich die Erinnerung. Die Beratungshilfe sei für das Vorverfahren gewährt worden. Nach § 17 Nr. 1
RVG handele es sich bei dem Vorverfahren einerseits und dem Klageverfahren andererseits jeweils um verschiedene
Angelegenheiten. Eine Anrechnung dürfe nicht erfolgen, da für das sozialgerichtliche Klageverfahren zwei
verschiedene Gebührentatbestände für die Verfahrensgebühr vorgesehen seien, nämlich die Gebührentatbestände der
Nrn. 3102 VV RVG und 3103 VV RVG. Durch die Anrechnung der Gebühr aus der Beratungshilfe würde eine doppelte
Gebührenkürzung vollzogen.
II.
Die zulässige Erinnerung ist begründet.
Nach § 47 Abs. 1 RVG kann der Rechtsanwalt wegen seiner Vergütung einen Anspruch gegen die Staatskasse für
entstandene Gebühren und Auslagen fordern. Über den bereits festgesetzten Betrag hinaus hat die
Erinnerungsführerin Anspruch auf Zahlung eines weiteren Vorschusses in Höhe von 41,65 EUR.
Unstreitig kommt vorliegend hinsichtlich der Verfahrensgebühr der Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV RVG zur
Anwendung, da die Erinnerungsführerin für die Klägerin bereits im Vorverfahren, also einem weiteren der Nachprüfung
des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren tätig war. Der verminderte Gebührenrahmen greift ein, weil die
Vorbefassung im Vorverfahren die Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten im Klageverfahren vereinfacht.
Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG (früher 2603 VV RVG) auf die Verfahrensgebühr nach
Nr. 3103 VV RVG scheidet jedoch aus.
Der Gebührentatbestand der Nr. 2503 VV RVG (früher Nr. 2603 VV RVG) bestimmt die hälftige Anrechnung der
Geschäftsgebühr aus der Beratungshilfe auf die Gebühren für ein anschließendes gerichtliches oder behördliches
Verfahren. Voraussetzung ist demnach, dass der Rechtsanwalt aufgrund bewilligter Beratungshilfe für den
Rechtsuchenden tätig geworden ist, mithin ein Geschäft betrieben hat, denn bloße Rats- und Auskunftserteilung
genügen für die Anwendbarkeit des Gebührentatbestandes der Nr. 2503 VV RVG regelmäßig nicht. Mithin kann das
Betreiben eines Geschäfts, welches sodann über die Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG zu vergüten ist, auch
in der Vertretung in einem sozialgerichtlichen Vorverfahren liegen. Hieraus ergibt sich jedoch, dass der Rechtsanwalt,
der für den unbemittelten Mandanten im Rahmen der Beratungshilfe ein Vorverfahren führt, ohnehin bereits gegenüber
dem Rechtsanwalt, der für die Vertretung im Vorverfahren Gebühren nach Nr. 2400 bzw. 2401 VV RVG liquidiert,
schlechter gestellt ist, wie der Vergleich der Gebührenrahmen der Gebührentatbestände der Nrn. 2400 und 2401 sowie
Nr. 3103 VV RVG einerseits mit der Festgebühr der Nr. 2503 Abs. 1 und 2 sowie Nr. 3103 VV RVG andererseits
ergibt. Hinzukommt, dass die im Vorverfahren verdiente Geschäftsgebühr nach Nr. 2400 VV RVG nicht auf die
Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG angerechnet wird (auch nicht zur Hälfte), sondern die Erleichterungen durch
die Vorbefassung des Rechtsanwaltes werden ausschließlich über den niedrigeren Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV
RVG berücksichtigt.
Eine andere Sichtweise ergibt auch nicht der Vergleich zu den nach § 197a SGG kostenpflichtigen Verfahren, in
denen keine Beitragsrahmengebühren, sondern Wertgebühren entstehen. In diesen Fällen kommt trotz Vorbefassung
des Rechtsanwalts im vorangegangenen Verwaltungs- und/oder Vorverfahren beim nachfolgenden Gerichtsverfahren
kein niedrigerer Satzrahmen bei der Gebührenbestimmung zur Anwendung, sondern die allgemeinen, unverminderten
Gebühren nach den Nrn. 3100 und 3101 bzw. 3104 und 3105 VV RVG. Eine Minderung dieser Gebühren wegen der
Vorbefassung des Rechtsanwalts im vorangegangenen Verwaltungsverfahren wird entweder durch hälftige
Anrechnung der im Verwaltungsverfahren verdienten Geschäftsgebühr nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG
vorgenommen (soweit keine Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG verdient worden ist) oder eben durch hälftige
Anrechnung der nach Nr. 2503 Abs. 1 VV RVG verdienten Geschäftsgebühr bei Beratungshilfe. Durch diese hälftige
Anrechnung wird bewirkt, dass die Vorbefassung des Rechtsanwalts gebührenrechtlich Berücksichtigung findet, weil
eine Gleichbehandlung des Rechtsanwalts, der unmittelbar und nur einen Prozessauftrag erhält, mit dem
Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig war, nicht zu rechtfertigen ist (vgl. BT-Drs. 15/1971 S. 209, zu
Vorbemerkung 3 Abs. 4). Hieraus folgt, dass der Gesetzgeber die vorgerichtliche Befassung und Honorierung des
Rechtsanwaltes (etwa in einem Verwaltungsverfahren) in einem nachfolgenden, dadurch für ihn weniger aufwändigen
Gerichtsverfahren gebührenmindernd berücksichtigen wollte und zwar bei Ansatz von Wertgebühren durch die
prinzipiell hälftige Anrechnung der vorgerichtlich verdienten Geschäftgebühr auf die Gebühren im Gerichtsverfahren
und bei Ansatz von Betragsrahmengebühren durch einen verminderten Gebührenrahmen im Gerichtsverfahren. Damit
lässt es sich jedoch nicht vereinbaren, wenn ausschließlich bei Ansatz von Betragsrahmengebühren und einer
vorgerichtlichen Vergütung im Wege der Beratungshilfe eine doppelte Minderung der Gebühren im Gerichtsverfahren
sowohl durch Anrechnung der hälftigen vorgerichtlichen Beratungshilfegebühr als auch durch einen niedrigeren
Gebührenrahmen erfolgt (so mit überzeugender Begründung Beschluss des SG Dresden vom 27.02.2009, Az.: S 24
SF 180/08 R/F, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Von daher gelangt die Kammer zu dem Schluss, dass der
Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV RVG eine Spezialvorschrift für die Berücksichtigung der Vorbefassung eines
Rechtsanwaltes in einem dem gerichtlichen Verfahren vorausgehenden Verwaltungs- oder Vorverfahren ist, wobei
diese als lex spezialis der Anwendung der Anrechnungsvorschrift der Nr. 2503 Abs. 2 VV RVG vorgeht und eine
kumulative Anwendung ausschließt (so auch Sozialgericht Aachen, Beschluss vom 27.02.2009, Az.: S 9 AS 42/08,
www.sozialgerichtsbarkeit.de). Ergebnisgleich positioniert sich das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in dem
Beschluss vom 18.03.2008, Az.: L 1 B 21/07 AL, www.sozialgerichtsbarkeit.de.
Soweit unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. etwa Beschluss vom 30. 04.
2008, Az.: III ZB 8/ 08 m. w. N.) vertreten wird, dass nach dem eindeutigen Wortlaut eine entstandene
Geschäftsgebühr nach Nr. 2503 VV RVG unter der Voraussetzung, dass es sich um denselben Gegenstand handelt,
teilweise auf die spätere Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens anzurechnen sei und dass der
Gebührentatbestand der Nr. 2503 VV RVG weder auslegungsfähig noch auslegungsbedürftig sei (so Thüringer
Landessozialgericht, Beschluss vom 16.01.2009, Az.: L 6 B 255/08 SF, www.sozialgerichtsbarkeit.de), kann die
Kammer dem nicht beitreten, denn die Entscheidung berücksichtigt nicht, dass die Gebührentatbestände der Nrn.
2401 und 3103 VV RVG "Sondergebührentatbestände" darstellen, die im sonstigen Gebührenrecht in dieser Form
nicht vorkommen, wie die Kammer oben ausführlich dargelegt hat.
Diese Entscheidung steht dem Beschluss der Kammer vom 13.02.2009 zum Verfahren S 164 SF 126/09 E nicht
entgegen, denn einerseits war in dem vorgenannten Verfahren die Anrechnung nach Nr. 2503 VV RVG nicht
streitgegenständlich und andererseits lag dem Kostenstreit ein Untätigkeitsklageverfahren zugrunde, bei welchem
nach ständiger Rechtsprechung der Kammer hinsichtlich der Verfahrensgebühr von dem Gebührentatbestand der Nr.
3102 VV RVG auszugehen ist, nicht hingegen von dem der Nr. 3103 VV RVG, so dass schon aus diesem Grunde
eine Divergenz nicht besteht. Die Anrechnung der hälftigen Geschäftsgebühr der Nr. 2503 VV RVG auf die
Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG ist nach Ansicht der Kammer nicht ausgeschlossen.
Eine Beschwerde gegen diese Entscheidung ist nicht statthaft, § 178 SGG, vgl. Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 20.06.2008, L 1 B 60/08 SF AL; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss
vom 08.05.2009, L 8 B 190/08 SF.