Urteil des SozG Berlin vom 17.07.2007

SozG Berlin: erwerbsfähigkeit, befristete rente, verminderung, hauptsache, eingriff, verhinderung, abschlag, anteil, anfang, niedersachsen

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 17.07.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 6 R 2423/07
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Die Sprungrevision wird
zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundele-gung eines Zugangsfaktors
von 1,0.
Mit Bescheid vom 05. Februar 2007 bewilligte die Beklagte der am 01. März 1948 geborenen Klägerin eine bis zum
31. Dezember 2008 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Beginn am 01. April 2006 (Zahlbetrag 200,36
Euro). In der Rentenberechnung verminderte die Beklagte den Zugangsfaktor von 1,0 für 36 Kalendermonate um
insgesamt 0,108 auf einen Wert von 0,892.
Den hiergegen am 08. Februar 2007 (Eingang bei der Beklagten) gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 08. März 2007 zurück. Dem Urteil des Bundesso-zialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006
(Az. B 4 RA 22/05 R) werde nicht gefolgt.
Mit der am 16. März 2007 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die von
der Beklagten ausgeübte Praxis, bei einem vor Vollendung des 60. Lebensjahrs entstandenen Rechts auf Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit die Renten-höhe auch für Bezugszeiten vor dem Beginn des 61. Lebensjahrs zu
senken, indem sie einen Teil der vom Versicherten erbrachten Vorleistungen schlechthin unbeachtet lasse, widerspre-
che dem Gesetz und finde in ihm keine Grundlage. So habe auch das BSG entschieden.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 05. Februar 2007 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 08. März 2007 zu verpflichten, ihr unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0
ab Rentenbeginn eine höhere Rente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass abweichend von der Interpretation des BSG § 77 Abs. 2 S. 2 Sechstes
Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) als Berechnungsregel zu verstehen sei. Diese Auslegung sei im Kontext mit §
77 Abs. 3 SGB VI sowie aus den Gesetzesmateria-lien, insbesondere aus den Ausführungen über die Abmilderung
der Abschläge durch die ver-längerte Zurechnungszeit ersichtlich. Im Übrigen spreche gegen die Rechtsauslegung
des BSG auch das – nur schwer nachvollziehbare – Ergebnis, dass eine vor Vollendung des 60. Lebens-jahrs
abschlagsfrei in Anspruch genommene Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für Zeiten des Bezugs ab
Vollendung des 60. Lebensjahrs zu mindern wäre. Eine derartige Rege-lung stehe im deutlichen Widerspruch zu § 88
Abs. 1 SGB VI, der einen umfassenden Besitz-schutz für Folgerenten biete. Wegen der weiteren Einzelheiten des
Sach- und Streitverhältnisses wird auf den Inhalt der ge-richtlichen Verfahrensakte mit den Schriftsätzen nebst
Anlagen sowie den Inhalt der vom Ge-richt beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die
vorgenannten Akten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 05. Februar 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. März 2007 ist
rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung un-ter Zugrundelegung eines
Zugangsfaktors von 1,0.
Gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von
persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminder-ter Erwerbsfähigkeit für jeden
Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermo-nats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch
genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung
des 60. Lebens-jahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maß-gebend,
§ 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt
gemäß § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI nicht als Zeit einer vorzei-tigen Inanspruchnahme.
Nach Maßgabe dieser gesetzlichen Bestimmungen hat die Beklagte die Rente der Klägerin unter Zugrundelegung
eines Zugangsfaktors von 0,892 berechnet. Die Beklagte hat zutreffend den Zugangsfaktor um 36 Kalendermonate
vermindert, wobei sie zu Recht für jeden Kalen-dermonat eine Verminderung um 0,003 angenommen hat.
Die Berechnung der Rente steht zwar im Widerspruch zu dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 16. Mai 2006, Az. B
4 RA 22/05 R. Die Kammer folgt dieser Entscheidung jedoch nicht, weil sie nach ihrer Auffassung nicht dem Gesetz
entspricht.
Nach dem Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen enthält § 77 Abs. 2 S. 2 und 3 SGB VI eine Berechnungsregel
für die Verminderung des Zugangsfaktors, worauf die Beklagte zutref-fend hingewiesen hat. Um ein Absinken der
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Null zu vermeiden, ist in § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI eine "Untergrenze"
formuliert. Danach ist eine Verminderung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 63. Lebensjahrs für maximal 36
Kalendermonate, also um 36 x 0,003 = 0,108 zulässig. Diese maximale Verminderung des Zu-gangsfaktors gilt
entgegen der vorgenannten Entscheidung des 4. Senats des BSG auch für Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs bezogen werden, was sich aus § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI
ergibt (so z. B. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13. Dezember 2006, L 2 R 466/06 ER; SG
Aachen, Urteil vom 09. Februar 2007, Az. S 8 R 96/06; SG Köln, Urteil vom 12. April 2007, Az. S 29 (25) R 337/06;
SG Augsburg, Urteil vom 23. April 2007, Az. S 3 R 26/07; SG Nürnberg, Urteil vom 30. Mai 2007, Az. S 14 R
4013/07; SG für das Saarland, Urteil vom 08. Mai 2007, Az. S 14 R 82/07; SG Altenburg, Urteil vom 22. März 2007,
Az. S 14 KN 64/07; Polster in Kasseler Kommentar, 53. Ergänzungslieferung 2007, § 77 Rn. 21; Kreikebohm, SGB
VI, 2. Auflage 2003, § 77 Rn. 12).
Dies entspricht auch der gesetzgeberischen Intention. Nach der Gesetzesbegründung bezweckte der Gesetzgeber,
die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in An-spruch genommenen Altersrenten in der Weise
anzugleichen, dass diese Renten mit einem Ab-schlag von höchstens 10,8 % versehen werden (BT-Drs. 14/4230, S.
24). Zwar beginnen Al-tersrenten nicht vor dem 60. Lebensjahr. Gleichwohl wird in der Gesetzesbegründung nicht
zwischen Versicherten, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, und solchen, die das 60. Le-bensjahr nicht vollendet
haben, differenziert. Vielmehr wird deutlich, dass auch die Versicher-ten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs eine
Rente wegen Erwerbsminderung beziehen, von der Verminderung des Zugangsfaktors erfasst werden. In der
Gesetzesbegründung (BT-Drs. a. a. O.) heißt es: "Die Auswirkungen einer solchen Regelung werden dadurch abgemil-
dert, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60. Lebensjahr (statt wie im geltenden Recht zu einem Drittel)
künftig voll als Zurechnungszeit angerechnet wird. ( ...) Bei Inan-spruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung
ergibt sich jedoch bei einem Eckrentner eine gegenüber dem geltenden Recht nur um 3,3 % (Rentenfall bis zum
Lebensalter 56 Jahre und 8 Monate) bzw. um max. 10,8 % (Rentenfall bei Lebensalter 60 Jahre) niedrigere Rente."
Die Anhebung der in § 59 SGB VI geregelten Zurechnungszeit, durch die die Verminderung des Zugangsfaktors
gemildert werden soll (BT-Drs. 14/4230, S. 16), ist jedoch nur dann sinn-voll, wenn auch die Rentenbezieher vor
Vollendung des 60. Lebensjahrs von der Verminde-rung des Zugangsfaktors erfasst werden, da sich die veränderte
Zurechnungszeit für Rentenbe-zieher nach Vollendung des 60. Lebensjahrs nicht auswirkt. Anhaltspunkte für die
Interpretati-on des 4. Senats des BSG, wonach von der Anhebung der Zurechnungszeit nur die Rentner profitieren
sollen, die bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahrs eine Erwerbsminderungsren-te beziehen (BSG a. a. O. Rn. 37),
sind nicht ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als in diesem Fall Rentenbezieher, deren Erwerbsminderungsrenten vor
Vollendung des 60. Lebensjahrs enden, in den Genuss einer längeren Zurechnungszeit gelangen würden, ohne dass
hiermit für sie der Nachteil des verminderten Zugangsfaktors korrespondieren würde. (vgl. hierzu Rüdiger Mey,
Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten unter 60?, in: RVaktuell, März 2007, S. 44 ff., 47f.; Hermann Plagemann, in:
Juris Praxis-Re¬port-SozR 20/2006, Anm. 4, Lit. C.). Eine derart merkwürdige Regelung ist weder der
Gesetzesbegründung noch dem Gesetz zu entnehmen. Schließlich würde der Gesetzgeber mit einer solchen
Regelung sein Ansinnen, das Ausweichen von Altersrenten in Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu
unterbinden, konterkarie-ren. Denn nach der Interpretation des 4. Senats des BSG hätte der Gesetzgeber damit
gerade einen Anreiz geschaffen, vor Vollendung des 60. Lebensjahrs eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
zu erhalten.
Verfassungsrechtliche Bedenken ergeben sich gegen die Absenkung des Zugangsfaktors nicht (so auch SG Aachen
a. a. O. mit weiteren Nachweisen; a. A. SG Lübeck, Urteil vom 26. April 2007, Az. S 14 R 235/07). Insbesondere liegt
kein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vor. Das Rentenversicherungsverhältnis ist kein unabänderliches, das
im Unterschied zum Pri-vatversicherungsverhältnis von Anfang an nicht auf dem reinen Versicherungsprinzip, sondern
wesentlich auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs beruht. Die Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers verengt sich jedoch in dem Maße, in dem Rentenanwart-schaften durch den personalen Anteil eigener
Leistungen der Versicherten geprägt sind, was vor allem in einkommensbezogenen Beitragszahlungen Ausdruck
findet (so zuletzt BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2007, Az. 1 BvL 10/00 mit weiteren Nachweisen). Der durch
Ver-minderung des Zugangsfaktors bewirkte Eingriff dient dem legitimen Zweck der Verhinderung von
Ausweichreaktionen von Altersrenten in Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Unter Berücksichtigung der
Anhebung der Zurechnungszeit in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Der Abschlag, den die betroffenen
Versicherten hinnehmen müssen, wird durch die Anhebung der Zurechnungszeit sowie Übergangsregelungen
kompensiert. Die Ab-schlagsregelung und die erweiterte Anrechnung der Zurechnungszeit stehen als "Paketlösung" in
einem engen Zusammenhang. Beide Regelungen wurden nicht unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI
schrittweise eingeführt (Kreikebohm a. a. O., Rn. 13), so dass den An-forderungen an deren Verhältnismäßigkeit
Genüge getan ist.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Sprungrevision war gemäß §§ 161 Abs. 1 und 2, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil das Urteil von der
Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R, abweicht und auf dieser Abweichung beruht.