Urteil des SozG Berlin vom 09.06.2010

SozG Berlin: sanktion, aufschiebende wirkung, persönliche anhörung, unterkunftskosten, familie, krankheit, gefahr, schweigen, rechtfertigungsgrund, verzicht

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 09.06.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 37 AS 17431/10 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 14.5. 2010 wird angeordnet. Der
Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Der im ... 1986 geb. Antragsteller (Ast.) lebt mit seiner 1989 geb. Ehefrau zusammen. Mit im Haushalt lebt das
gemeinsame Kind im Alter von 10 Monaten. Sowohl die Partnerin als auch das Kind erhalten Kindergeld.
Auf die Regelleistung des Paares und des Säuglings wird das Kindergeld der Partnerin anteilig angerechnet, so dass
die Erwachsenen statt der 323 EUR jeweils 259,90 EUR als Regelleistung erhalten. Dazu kommen anteilig je 199,16
EUR Unterkunftskosten.
In einem Eingliederungs-Verwaltungsakt (EGV-VA) vom 23.12.2009 war dem Ast. aufgege-ben worden, mindestens
15 schriftliche Bewerbungen pro Monat nachzuweisen. Außerdem war ihm aufgegeben worden, an zugewiesene
Maßnahmen "bis zum kompletten Durchlauf" regelmäßig teilzunehmen.
Nachdem es wegen unentschuldigter Fehlzeiten zum Abbruch einer Arbeitsgelegenheit (AGH) gekommen war,
verfügte der Antragsgegner (Ag.) mit Bescheid vom 14.5.2010 für die Zeit vom 1.6. bis 31.8.2010 eine Kürzung "bis
auf die angemessenen Unterkunftskosten". Im zugehörigen Änderungsbescheid vom 14.5.2010 wird der
Absenkungsbetrag mit 323 EUR beziffert.
In der Begründung des Sanktionsbescheides ist von einer "wiederholten Verletzung der EGV" die Rede und es werden
eine Verletzung der Bewerbungsbemühungen sowie der Abbruch der AGH genannt.
Auf das Anhörungsschreiben habe der Ast. nicht reagiert. Gründe für eine Verkürzung der Sanktion seien nicht
erkennbar.
Hiergegen hat der Ast. Widerspruch erhoben, in dem er versichert, wegen Krankheit gefehlt zu haben.
Bewerbungsbemühungen habe er einem Vertreter seines Fallmanagers vorgezeigt.
Infolge der Sanktion könne er eine mit dem Gerichtsvollzieher vereinbarte Ratenzahlung nicht mehr aufbringen.
II.
Der nach § 86 b Abs. 1 SGG zulässige Antrag ist begründet.
Die angefochtenen Bescheide vom 14.5.2010 sind nach erster Einschätzung rechtswidrig. Damit überwiegt das
Interesse des Ast. an ausreichender Existenzsicherung das öffentliche Interesse an der Durchsetzung der
Erwerbsobliegenheit.
Zunächst ist festzustellen, dass der Ag. nach der Begründung des Bescheides und dem internen Aktenvermerk eine
wiederholte Sanktion nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 b) SGB II aussprechen wollte, im Ergebnis jedoch nur eine erste
Pflichtverletzung (Wegfall der Regelleistung von 323 EUR) umgesetzt hat.
Für den Antragsteller (Ast.) ist daher unklar, ob er hinsichtlich einer etwaigen Zählwirkung von einer wiederholten
Sanktion betroffen ist und ob er mit einer Rückforderung der – aus Sicht des Ag. - überzahlten Unterkunftskosten
rechnen muss.
Zum anderen ist sehr umstritten, ob bei einem Verstoß gegen EGV-VA-Pflichten eine Sanktion nach § 31 Abs. 1 Nr. 1
b) SGB II greift. Im Gesetz wird insoweit nur die Eingliederungs-Vereinbarung genannt.
Ob der Bescheid so ausgelegt werden kann, dass der Maßnahmeabbruch nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 c) SGB II
sanktioniert werden sollte, ist zweifelhaft (§ 43 SGB X), kann aber offen bleiben, da in diesem Fall die dem EGV-VA
abstrakt angehängten Rechtsfolgebelehrungen unzureichend sind (BSG vom 17.12.2009 – B 4 AS 20/09 R).
Außerdem ist die Sanktion nach summarischer Prüfung auch deshalb rechtswidrig, weil die besondere Situation, in
der sich die Familie befindet, nicht ausreichend beachtet wurde (Rechtsgedanke aus § 25 Abs. 3 BSHG). Vor allem
durch die überlappende Kürzung der dem Ast. zugeordneten Unterkunftskosten ist eine personenübergreifende
Auswirkung der Sanktion auf die junge Familie nicht auszuschließen.
Zumindest insoweit hätte der Ag. vor der Festsetzung der Sanktion prüfen müssen, wie die Familie ihren
Lebensunterhalt sichern kann und vor allem, wie Mietschulden vermieden werden können. Unverhältnismäßig ist die
Kürzung des Anteils im Regelsatz, der wegen des Zusammenwirtschaftens pauschal als Haushaltsersparnis (anteilig
beim Ast. 10%) in die Bemessung der Regelleistung eingeflossen ist.
Dass sich der Ast. im Anhörungsverfahren nicht geäußert hatte, führt zu keiner anderen Beurteilung. Im Gegenteil
barg das Schweigen die Gefahr einer Mitbetroffenheit der Partnerin oder des Kindes. Denn vermutlich hat die Partnerin
nicht erkennen können, dass sie infolge der Sanktion mit einem Teil des Kindergeldes für die ungedeckten Mietkosten
aufkommen muss.
Der Ag. hätte daher entweder eine persönliche Anhörung des Ast. vor Festsetzung der Sanktion verfügen müssen, bei
der auch eine Willensänderung für eine Abmilderung der Sanktions-folgen hätte geprüft werden können oder der Ag.
hätte zeitgleich mit der Sanktion zumindest in Höhe des Anteils für die Generalkosten der Haushaltsführung plus der
gekürzten Teilmiete eine Kompensation vornehmen müssen.
Liegen somit eine Reihe hinreichender Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Sanktion vor, kann offen bleiben, ob der Ast.
wegen Krankheit einen wichtigen Grund für die Fehlzeiten hatte.
Desgleichen kann dahinstehen, ob das Lebensalter "unter 25" in Fällen der vorliegenden Art (junge Familie mit Kind)
eine härtere Sanktion vor dem Hintergrund des Art. 3 GG begründen kann.
Jedenfalls muss der einzig denkbare Rechtfertigungsgrund für eine härtere Sanktion, die verstärkte Betreuung der U
25 durch den SGB II-Träger (§ 3 Abs. 2 SGB II), umso größeres Gewicht bei Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer
Sanktion erlangen. Der Verzicht des Ag., dem Ast. vor Festsetzung der Sanktion weitere Integrationsangebote zu
unterbreiten, muss im Rahmen der einstweiligen Rechtmäßigkeitsprüfung daher zu Gunsten des Ast. ausfallen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.