Urteil des SozG Berlin vom 13.03.2017

SozG Berlin: erlass, gesundheit, wohnung, rückzahlung, vollzug, ermessen, eigentum, notlage, widerspruchsverfahren, depression

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Gericht:
SG Berlin 104.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 104 AS 10571/06
ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 5 SGB 2, § 22 Abs 4
SGB 2, Art 19 Abs 4 GG, § 86b
Abs 2 SGG
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Unterkunftskosten -
darlehensweise Übernahme von Mietschulden durch
einstweiligen Rechtsschutz - Notlage - Ermessensausübung
Leitsatz
Droht bei Vollzug des Räumungstitels konkret die Obdachlosigkeit mit den hiermit
einhergehenden Gefährdungen der Rechtsgüter Gesundheit und Eigentum ist das dem
Grundsicherungsträger eingeräumte Ermessen auf Null reduziert mit der Folge, dass
zumindest ein Anspruch auf Übernahme der Mietschulden auf Darlehensbasis besteht.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, 3.408,00
Euro Mietschulden der Antragstellerin – zahlbar direkt an den Vermieter der
Antragstellerin, die ... GmbH & Co. KG – auf Darlehensbasis zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Gründe
Der (sinngemäße) Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihre Mietschulden in Höhe von 3.408,00 Euro
auf Darlehensbasis zu übernehmen, hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig.
Insbesondere steht der statthaften Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2
Sozialgerichtsgesetz – SGG –) nicht die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom
19. Oktober 2006 entgegen. Denn in dem gerichtlichen Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung vom 17. November 2006 muss zugleich die fristgerechte (§ 84
SGG) Erhebung eines Widerspruchs gesehen werden.
Auch in Anbetracht der rechtskräftigen Räumungstitel der Vermieterin hinsichtlich der
Wohnung der Antragstellerin in der Bstraße in B besteht ein Rechtsschutzinteresse an
der Durchführung dieses Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes. Denn die
Antragstellerin und ihre Vermieterin haben am 3. Januar 2007 einen Räumungsvergleich
geschlossen, wonach die zwangsweise Räumung gehemmt ist, solange die
Antragstellerin ihren vertraglich geregelten Zahlungsverpflichtungen (Rückzahlung der
Mietschulden i.H.v. 3.408,00 Euro bis zum 31. Januar 2007; Rückzahlung der Zinsen und
der Kosten der zivilgerichtlichen Verfahren in monatlichen Raten von 10 Euro beginnend
ab dem 10. Februar 2007; pünktliche Zahlung der fällig werdenden Miete bzw.
Nutzungsentschädigung zum 3. Werktag eines jeden Monats) nachkommt. Die jeweils
fällige monatliche Miete wird von der Antragsgegnerin direkt an die Vermieterin
überwiesen. Die monatlichen Raten zur Abgleichung der Zinsen und Kosten in Höhe von
10 Euro kann die Antragstellerin aus eigenen finanziellen Mitteln bewältigen. Damit
besteht auf Seiten der Antragstellerin ein rechtliches Interesse an der Durchführung
dieses Verfahrens, denn nur hierdurch besteht für sie die Möglichkeit zur Begleichung
ihrer Mietschulden, so dass die Vollstreckung der Räumungstitel gehemmt und sie in
ihrer Wohnung verbleiben kann.
Der Antrag ist auch begründet.
Der erforderliche Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 22 Abs. 5 Sozialgesetzbuch –
Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Hiernach können auch Mietschulden
übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer
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übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer
vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies
gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht.
Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden. Im vorliegenden Fall liegen diese
Voraussetzungen vor. Insbesondere droht der Antragstellerin bei Vollzug des
Räumungstitels konkret die Obdachlosigkeit mit den hiermit einhergehenden
Gefährdungen ihrer Rechtsgüter Gesundheit und Eigentum. Zwar hat die Antragstellerin
in der Vergangenheit ihre Mietschulden durch zweckfremde Verwendung der
entsprechenden staatlichen Leistungen selbst verursacht, gleichwohl erscheint die
Übernahme der Mietschulden in diesem Einzelfall gerechtfertigt und notwendig. Denn
ausweislich der Aktenlage sowie der Einlassungen des Bevollmächtigten der
Antragstellerin hat die Kammer den Eindruck gewonnen, dass die Antragstellerin z.T.
gesundheitsbedingt gar nicht in der Lage ist, ihre finanziellen Angelegenheiten in ihrem
Interesse zu regeln. Insofern ist es auch ausdrücklich zu begrüßen, dass die
Antragsgegnerin die Leistungen für Unterkunft und Heizung entsprechend der Regelung
des § 22 Abs. 4 SGB II ab dem 1. September 2006 direkt an die Vermieterin zahlt.
In Anbetracht der durch die unmittelbar bevorstehende Obdachlosigkeit drohenden
konkreten Gefährdung für erhebliche Rechtsgüter der Antragstellerin in Form ihrer
Gesundheit (vgl. insoweit auch das Attest der behandelnden Ärztin R vom 14. November
2006; Diagnose u.a.: Depression mit Suizidgefährdung) sowie der Eigentumsgefährdung
hinsichtlich ihres Mobiliars sieht die Kammer das der Antragsgegnerin eingeräumte
Ermessen als auf null reduziert an.
Des Weiteren besteht auch ein Anordnungsgrund.
Der Erlass der einstweiligen Anordnung erscheint nötig, um wesentliche Nachteile auf
Seiten der Antragstellerin abzuwenden. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen
hinsichtlich der konkret drohenden Rechtsgutverletzungen auf Seiten der Antragstellerin
verwiesen.
Diese konkret drohenden Rechtsgutverletzungen lassen es im vorliegenden Fall auch als
hinnehmbar erscheinen, dass durch diese Entscheidung die Hauptsache vorweg
genommen wird. Denn ein Abwarten einer Entscheidung im anhängigen
Widerspruchsverfahren sowie g.g.f. eines nachfolgenden Klageverfahrens könnte keinen
effektiven Rechtschutz im Sinne des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz gewähren, weil die
Wohnung der Antragstellerin gleichwohl am 9. Januar 2007 geräumt würde. Hierdurch
würden aber die regelmäßig gegebenen Rechtschutzmöglichkeiten der Antragstellerin
ins Leere laufen.
Im Rahmen des bei Erlass einer einstweiligen Anordnung bestehenden Ermessens hat
die Kammer die direkte Auszahlung der Mietschulden von der Antragsgegnerin an die
Vermieterin der Antragstellerin für erforderlich gehalten, da bei einem zwischenzeitlichen
Verbleib dieser Geldsumme in den Händen der Antragstellerin – wie ausgeführt – eine
zweckentsprechende Verwendung nicht sicher gestellt ist (Rechtsgedanke § 22 Abs. 4
SGB II).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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