Urteil des SozG Berlin vom 19.12.2008

SozG Berlin: zuschuss, härtefall, heizung, aufrundung, wechsel, hauptsache, link, sammlung, quelle, hessen

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Gericht:
SG Berlin 37.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 37 AS 17404/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 7 S 1 SGB 2, § 11 SGB
2, SGB 3, § 11 Abs 3 BAföG, § 13
Abs 2 BAföG
Arbeitslosengeld II - Auszubildender - Bezug von
Berufsausbildungsbeihilfe - Zuschuss zu den ungedeckten
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung -
Berücksichtigung von Kindergeld als Einnahme - keine
Einkommensberücksichtigung nach dem SGB 2 -
verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz
1) Bei der Bemessung des Höhe des Zuschusses zu den ungedeckten angemessenen
Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 7 SGB 2 ist Kindergeld nicht als Einkommen
bedarfsmindernd zu berücksichtigen, denn die Sonderstellung des § 22 Abs 7 SGB 2 wird
insbesondere daran deutlich, dass nur bestimmte Bezieher von Berufsausbildungsbeihilfe
oder BAföG den Mietzuschuss erhalten. Es ist damit offenkundig, dass § 22 Abs 7 SGB 2 eine
Berufsausbildungsbeihilfe oder BAföG ergänzende Funktion hat. Deshalb ist es konsequent,
daraus den Schluss zu ziehen, dass die Nichtanrechnung des Kindergeldes im SGB 3 und
BAföG auch für den Ergänzungsanspruch des § 22 Abs 7 SGB 2 gilt.
2) Die Frage, wie es mit dem Gleichbehandlungsgrund nach Art 3 GG zu vereinbaren ist, wenn
§ 22 Abs 7 SGB 2 einer Einkommensberechnung wie nach § 11 SGB 2 unterzogen wird, lässt
sich nur lösen, wenn man die Regelung des § 22 Abs 7 SGB 2 strikt und durchgehend als
Berufsausbildungsbeihilfe/BAföG-Zusatzleistung, die eigentlich im SGB 3 oder im BAföG
geregelt werden müsste, versteht. Dann kann aber nicht im Gegenzug die
Einkommensanrechnung des § 11 SGB 2 herangezogen werden.
Tenor
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 17.12.2007 verurteilt, dem
Kläger
1. im Zeitraum Januar bis April 2007 einen Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II in Höhe von
108,88 € monatlich,
2. im Zeitraum Mai bis Juli 2007 einen Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II in Höhe von
121,80 € monatlich,
3. ab August 2007 einen Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II in Höhe von 129,80 €
monatlich
zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
Streitig ist die Berechnung des Zuschusses nach § 22 Abs. 7 SGB II.
Der 1987 geb. Kläger besuchte bis Juli 2006 eine Berufsfachschule. Im August 2007
wechselte er in eine Fachoberschulklasse. Er lebt zusammen mit seiner Mutter und
einem 1996 geb. Bruder in einer Wohnung, für die von Januar bis April 2007 monatlich
482,63 € Bruttowarmmiete zu zahlen war. Seit Mai 2007 beträgt die Miete wegen einer
Mieterhöhung 436,39 €, dazu kommen 85 € Heizkostenabschlag.
Neben Kindergeld erhielt der Kläger 304 € BAföG (von August 2006 bis Juli 2007). Seit
August 2007 wird elternunabhängiges BAföG in Höhe von 354 € gezahlt.
Im Oktober 2006 hatte die Mutter des Klägers als Vertreterin einer 3-Personen-Bedarfs-
gemeinschaft (BG) Leistungen nach dem SGB II beantragt. Der Antrag wurde mangels
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gemeinschaft (BG) Leistungen nach dem SGB II beantragt. Der Antrag wurde mangels
Hilfebedürftigkeit abgelehnt (Bescheid vom 1.3.2007). Hiergegen war nach Bestätigung
mit Widerspruchsbescheiden vom 22.5.2007, zugestellt am 5. Juli 2007, am 31. Juli Klage
erhoben worden.
Eine gesonderte Bescheidung etwaiger Leistungsansprüche des Klägers erfolgte
zunächst nicht. Erst auf einen im Gerichtstermin am 9.11.2007 förmlich zu Protokoll
genommenen Antrag des Klägers auf Gewährung eines Mietzuschusses nach § 22 Abs.
7 SGB II führte der Beklagte Neuberechnungen durch, u.a. zu einem Mietzuschuss nach
§ 22 Abs. 7 SGB II. Im Ergebnis wurde der Mietzuschuss-Antrag abgelehnt, weil der
Beklagte den im BAföG enthaltenen Mietanteil auf 116 € ansetzte und das bereinigte
Kindergeld auf den Differenzbetrag des BAföG-Mietanteils zur anteiligen Zahlmiete
von160,88 € bis April 2007 und 173,80 € seit Mai 2007 anrechnete. Ein Anspruch ergab
sich danach nicht (Bescheid vom 17.12.2007).
Nachdem sich die Klage der Mutter und des Bruders des Klägers infolge der
Neuberechnung der Alg II- und Sozialgeldleistungen mit Bescheiden vom 12.3.2008
erledigt hat, ist nur noch die Berechnung des Mietzuschusses streitig.
Insoweit macht der Kläger unter Bezugnahme auf Rechtsprechung geltend, dass der
Zuschlag ohne Anrechnung des Kindergeldes zu bemessen sei.
Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 17.12.2007 zu verurteilen,
dem Kläger einen Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II ohne Anrechnung des Kindergeldes
zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich auf Verwaltungsanweisungen und diese bestätigende Rechtsprechung.
Zum übrigen Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze und die beigezogene Leistungsakte verwiesen.
Die Beteiligten haben sich im Termin am 12.9.2008 mit einer schriftlichen Entscheidung
nach § 124 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Gegenstand der Klage ist der nach § 96 SGG einbezogene Bescheid vom 17.12.2007,
mit dem der Zuschuss generell abgelehnt wird. Die Klage erfasst nach inzwischen
gefestigter BSG-Rechtsprechung, der das erkennende Gericht folgt, somit den Zeitraum
seit Januar 2007 ohne Begrenzung auf Bewilligungsabschnitte, die im Übrigen im
Rahmen des § 22 Abs. 7 SGB II auch nicht vorgesehen sind; § 41 SGB II spricht von
„Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“, womit auf § 19 SGB II Bezug
genommen wird. Nach § 19 SGB II gehört der Zuschuss aber nicht zum Alg II.
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Kläger hat unter Beachtung des Meistbegünstigungsgrundsatzes wirksam zum
1.1.2007 den Mietzuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II beantragt. Denn bei sachgerechter
Auslegung des im Oktober 2006 von der Mutter des Klägers als Vertreterin der 3-
Personen-BG gestellten Antrags ist in diesem Antrag auch ein Antrag auf entsprechende
Leistungen nach § 22 Abs. 7 SGB II enthalten gewesen, weil der
Meistbegünstigungsgrundsatz besagt, dass im Zweifel davon auszugehen ist, dass ein
Kläger ohne Rücksicht auf den Wortlaut des Antrags all die Leistungen begehrt, die ihm
den größten Nutzen bringen können (dazu jüngst BSG vom 26.8.2008 – B 8/9b SO 18/07
R).
Der Kläger gehört zu dem in § 22 Abs. 7 SGB II genannten Personenkreis:
Von Januar bis Juli 2007 erhielt er BAföG nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BAföG; darin enthalten ist
ein Mietanteil von 52 € (Rückschluss aus § 12 Abs. 3 BAföG, wonach sich für Schüler, die
nicht mehr im Elternhaus wohnen, der Mietanteil von 52 € um bis zu 64 € erhöht wird,
wenn mehr als 52 € an Unterkunftskosten anfallen).
Seit August 2007 erhält der Kläger elternunabhängiges BAföG nach § 11 Abs. 3 BAföG.
Darin ist nach § 13 Abs. 2 BAföG nur ein Mietanteil von 44 € enthalten.
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Da die Mietkosten der BG unstreitig angemessen i. S. von § 22 Abs. 1 SGB II sind,
ergeben sich für den Kläger ungedeckte Mietkosten in Höhe von 108,88 € (= 160,88 € -
52 €) im Zeitraum Januar bis April 2007 und von 121,80 € (= 173,80 € - 52 €) im
Zeitraum Mai bis Juli 2007.
Seit August 2007 beträgt der ungedeckte Mietanteil 129,80 € (= 173,80 € - 44 €).
Höchst streitig ist, ob darauf das im BAföG anrechnungsfreie Kindergeld anzurechnen
ist. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von LSG-Urteilen zu dem Problem einer
sachgerechten Bemessung des Mietzuschusses vor. Hierbei gelangen die LSG-Senate
jeweils unter Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden zu sehr
unterschiedlichen Ergebnissen. Das erkennende Gericht zieht daraus den Schluss, dass
Wortlaut und Zweck des § 22 Abs. 7 SGB II verschiedene Lesarten gleichermaßen
zulassen.
In diesem Fall muss an die Stelle der vom jeweiligen rechtspolitischen Standpunkt des
urteilenden Gerichts abhängigen Lesart die für Sozialleistungsansprüche einschlägige
dass soziale Rechte möglichst
weitgehend zu verwirklichen sind
Überdies muss bedacht werden, dass die Regelung des § 22 Abs. 7 SGB II eine
systemwidrige Sonderstellung im SGB II einnimmt. Wiederholte Versuche der Länder,
diese Vorschrift zugunsten einer bedarfsdeckenden Ausgestaltung des BAföG aus dem
SGB II zu nehmen, zuletzt im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Neuausrichtung der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente, sind allein aus Kostengründen erfolglos geblieben.
Die Sonderstellung des § 22 Abs. 7 SGB II wird insbesondere daran deutlich, dass nur
bestimmte Bezieher von BAB oder BAföG den Mietzuschuss erhalten. Es ist damit offen-
kundig, dass § 22 Abs. 7 SGB II eine BAB oder BAföG ergänzende Funktion hat. Deshalb
ist es nur konsequent, wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass die Nichtanrechnung
des Kindergeldes im SGB III und Bafög auch für den Ergänzungsanspruch nach § 22 Abs.
7 SGB II gilt.
Die Berechnungsweise der Beklagten wirft außerdem die Frage auf, wie es mit dem
Gleich-behandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG zu vereinbaren ist, wenn § 22 Abs. 7 SGB II
einer Einkommensberechnung wie nach § 11 SGB II unterzogen wird. Denn stellt man die
von § 22 Abs. 7 SGB II begünstigen BAB/BAföG-Bezieher Hilfebedürftigen gleich, ist
kaum vertretbar, Auszubildenden oder Studenten, die keine Förderung mehr erhalten,
auch keinen Zuschuss zu zahlen oder, im Härtefall, nur ein Darlehen nach § 7 Abs. 5
Satz 2 SGB II.
Nach einhelliger Auffassung setzt der Zuschuss nach § 22 Abs. 7 SGB II keine Härtefall-
prüfung voraus, so dass hinsichtlich der für eine Willkürprüfung nach Art. 3 GG heran zu
ziehenden Vergleichsgruppe –Studenten und Auszubildende, die kein(e) BAB/BAföG
erhalten – kein Argument erkennbar ist, warum nicht mehr geförderte Studenten oder
Azubis überhaupt keine SGB II-Leistungen zum regulären Lebensunterhalt erhalten bzw.
warum für sie trotz voller Hilfebedürftigkeit der Leistungsausschluss für Mietkosten
bleibt.
Lösen lässt sich die Problematik ohne Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
nach Einschätzung des Gerichts nur, wenn man die Regelung des § 22 Abs.7 SGB II strikt
und durchgehend als BAB/BAföG-Zusatzleistung, die eigentlich im SGB III oder BAföG
geregelt werden müsste, versteht. Dann kann aber nicht im Gegenzug die
Einkommensanrechnung des § 11 SGB II herangezogen werden.Zumindest müsste dann
auch auf der Bedarfsseite eine SGB II-Analoge Berechnung stehen (s. dazu LSG Berlin-
Brandenburg vom 3.6.2008 - L 28 B 819/08 AS ER), was aber wiederum die Frage
aufwirft, warum der Leitungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II dann nur für
bestimmte BAB/BAföG-Bezieher nicht gilt.
Das erkennende Gericht folgt daher der „BAföG-Berechnung“ des LSG Hessen (L 7 AS
10/08 B ER vom 24.4.2008), LSG Berlin-Brandenburg (L 14 B 133/08 AS ER vom
7.2.2008) und LSG Mecklenburg-Vorpommern (L 8 B 130/07 vom 25.3.2008).
Im Zeitraum Januar bis April 2007 hat der Kläger somit einen Anspruch auf 108,88 €
Mietzuschuss; für Mai, Juni und Juli 2007 erhöht sich der Zuschuss entsprechend der
Miet-erhöhung auf 121,80 €. Mit Wechsel zum elternunabhängigen BAföG, im August
2007, beträgt der Zuschuss 129,80 €.
Für die Zeit ab August 2008 sind die geänderten BAföG-Sätze einzustellen.
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Eine Aufrundung des Zuschuss gemäß § 41 Abs. 2 SGB II ist nach Ansicht des Gerichts
nicht vorzunehmen, da es sich bei dem Zuschuss nicht um Alg II-Leistungen handelt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der
Hauptsache.
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