Urteil des SozG Berlin vom 05.08.2004

SozG Berlin: anspruchsdauer, befristung, rahmenfrist, beratungspflicht, kündigung, arbeitslosigkeit, realisierung, eingriff, quelle, sammlung

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Gericht:
SG Berlin 58.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 58 AL 1203/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 14 SGB 1, § 15 SGB 1, § 122
SGB 3, § 127 Abs 1 SGB 3, § 127
Abs 2 SGB 3
Arbeitslosengeld - Gleichwohlgewährung - Verschiebung der
Arbeitslosmeldung - Anspruchsdauer - Beratungspflicht -
Spontanberatung - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Tenor
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 5.8.2004 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2005 sowie der Bescheide
vom 2.1.2005, 10.3.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
11.3.2005 verurteilt, der Berechnung der Dauer des Arbeitslosengeldes ab
1.7.2004 unter Anrechnung des Leistungsbezugs vom 1. – 28.10.2003 eine
Arbeitslosmeldung zum 29.10.2003 zugrunde zu legen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte erstattet die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des
Rechtsstreits.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob eine Arbeitlosmeldung vor einem erfolgreich
geführten Arbeitsgerichtsprozess bei zwischenzeitlicher Weiterbeschäftigung und
erneuter Arbeitslosigkeit leitungsrechtlich ungeschehen zu machen ist.
Der am 29. Oktober 1951 geborene Kläger war vom 1. Oktober 2001 bis zum Ablauf
einer Befristung des Arbeitsvertrages am 30.9.2003 versicherungspflichtig beschäftigt.
Er hatte sich zum 1. Oktober 2003 arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt
unter Hinweis auf einen gegen die Befristung gerichteten, laufende
Arbeitsgerichtsprozess.
Unter Einbeziehung eines früheren Restanspruchs von Arbeitslosengeld war dem Kläger
ab 1. Oktober 2003 antragsgemäß Arbeitslosengeld für eine Gesamtdauer von 660
Tagen nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 1070 € gewährt worden.
Hierbei waren die gezahlten Arbeitsentgelte jeweils bis zur maßgebenden
Beitragsbemessungsgrenze 2002/2003 berücksichtigt worden.
Die vom Kläger erfolgreich angefochtene Befristung des Arbeitsverhältnisses führte zu
einer Weiterbeschäftigung, die dann jedoch auf Grund einer im Februar 2004
ausgesprochenen, betriebsbedingten Kündigung zum 30.06.2004 endgültig endete. Das
in der Zeit der Beschäftigungslosigkeit des Klägers gezahlte Arbeitslosengeld wurde vom
Arbeitgeber in vollem Umfang einschließlich der Sozialversicherungsbeträge erstattet.
Gegen die auf die erneute Arbeitlosmeldung zum 1.7.2004 erfolgte Wiederbewilligung
des am 1. Oktober 2003 entstandenen Arbeitslosengeldanspruchs richten sich
Widerspruch und Klage, mit der geltend gemacht wird, infolge der vollen Erstattung des
ab 1. Oktober 2003 gezahlten Arbeitslosengeldes sei eine bloße Wiederbewilligung nicht
sachgerecht. Hierdurch entgehe dem Kläger nicht nur ein höheres Bemessungsentgelt,
sondern auch eine längere Anspruchsdauer wegen des zwischenzeitlich erreichten 52.
Lebensjahres. Aufgrund des erfolgreich geführten Arbeitsgerichtsprozesses stehe er
beitragsrechtlich einem Arbeitnehmer gleich, der durchgehend bis 30.06.2004
beschäftigt gewesen wäre. Es sei kein sachlich gerechtfertigter Grund dafür erkennbar,
seinen Kampf um die Erhaltung des Arbeitsplatzes leistungsrechtlich "zu bestrafen". Im
Hinblick auf Artikel 3 Grundgesetz müsse daher die Arbeitslosmeldung und
Arbeitslosengeldbewilligung ab 1.10.2003 unberücksichtig bleiben und bei Bemessung
eines am 1.7.2004 neu entstandenen Anspruchs das Lebensalter von 52 Jahren sowie
die vorausgegangenen Vergütungen in Ansatz gebracht werden.
Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 5.8.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 10.3.2005 sowie der Bescheide vom 2.1.2005, 10.3.2005
in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.3.2005 zu verurteilen, der
Berechnung von Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes ab 1.7.2004 die
Arbeitslosmeldung zu diesem Datum unter Außerachtlassung der Arbeitslosmeldung
vom 1.10.2003 zugrunde zu legen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf ständige Rechtsprechung des BSG, wonach die Erstattung des
gleichwohlgewährten Arbeitslosengeldes lediglich zu einer entsprechenden Gutschrift bei
Berechnung der Anspruchsdauer führe. Die tatsächlich erfolgte Arbeitslosmeldung und
Leistungsgewährung könne aber nicht ungeschehen gemacht werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den
Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogene Leistungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die
Beklagte ist im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches verpflichtet, den
Kläger so zu stellen, als hätte er sich erst nach Eintritt des 52. Geburtstages, am 29.
Oktober 2003, Arbeitslos gemeldet und Leistungen beantragt.
Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann im Wege
des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs der Zeitpunkt einer Arbeitslosmeldung und
eines Arbeitslosengeldantrags verschoben werden, wenn hierdurch eine günstigere
leistungsrechtliche Gestaltung erreicht wird, der Leistungsträger auf ein solche zulässige
Gestaltungsmöglichkeit hätte hinweisen müssen und der Betroffene nach den
Gesamtumständen auch bereit und in der Lage gewesen wäre, den
Arbeitslosengeldantrag entsprechend hinaus zu ziehen (vergleiche BSG, Urteil vom
5.8.1999 – B 7 AL 38/98 R).
Nach Ansicht der Kammer liegen die Voraussetzungen für eine Verschiebung des
Arbeitslosengeldantrags auf den 29. Oktober 2003 hier vor: Der Kläger hatte anlässlich
seiner persönlichen Arbeitslosmeldung am 1. und in der erneuten Vorsprache am 2.
Oktober 2003 auf den laufenden Arbeitsgerichtsprozess hingewiesen. Dementsprechend
hatte die Beklagte eine sogenannte Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld unter
Anmeldung eines Erstattungsanspruchs beim Arbeitgeber auf den Weg gebracht.
Zwingende Folge einer Gleichwohlgewährung ist die unverrückbare Festsetzung einer
Rahmenfrist mit der daraus folgenden Berechnung der Anspruchsdauer und -höhe, auch
wenn der Arbeitsgerichtprozess erfolgreich ausgeht. Diese für die Beklagte bekannte
Auswirkung einer Gleichwohlgewährung ist für den Betroffenen, der erfolgreich eine
Wiedereinstellung erlangt, ein ungewöhnlicher und schwer verständlicher Vorgang. Da
eine erstrittene Wiedereinstellung oftmals zu einer erneuten Kündigung mit endgültiger
Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt, ist die Beklagte nach Ansicht des Gerichts in
einer solchen Situation generell gehalten, den Betroffenen anlässlich der
Arbeitslosmeldung auf diese Konsequenzen hinzuweisen. Das BSG hat jüngst
entschieden, dass eine allgemein gehaltene Beratung über Dispositionen zur
Verlängerung der Bezugszeit von Arbeitslosengeld zu den Spontan-Beratungspflichten
der Bundesagentur gehört (Urteil vom 5.9.2006 – B 7a AL 70/05 R).
Die Beklagte kann sich somit nicht darauf berufen, dass zwischen dem Zeitpunkt der
Arbeitlosmeldung und dem Eintritt des 52. Geburtstages ein Zeitraum von 28 Tagen lag.
Denn abgesehen davon, dass nach Rechtssprechung des LSG Reinland Pfalz sogar ein
Zeitraum von zwei Monaten zwischen Arbeitslosmeldung und Eintritt eines
leistungserheblichen Geburtstages zu einer Spontan-Beratung verpflichtet (Urteil vom
22. 11. 2001 – L1 AL 74/01), sieht das erkennen der Gericht die Besonderheit des
vorliegenden Falles darin, dass bei jeder Gleichwohlgewährung die für den betroffenen
Arbeitnehmer überraschende Folge eintritt, dass ungeachtet eines erfolgreichen
Klageausgangs eine unverrückbare Rahmenfrist gesetzt wird. Wie gerade der
vorliegende Fall zeigt, können sich daraus erhebliche, leistungseinschränkende
Auswirkungen ergeben. Die Argumente, mit denen der Kläger insoweit eine
Ungleichbehandlung gegenüber einem kontinuierlich Beschäftigten geltend macht, sind
so gewichtig, dass im Hinblick auf die Rechtsprechung der BSG zum
Lohnsteuerklassenwechsel eine verschärfte Beratungspflicht in
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Lohnsteuerklassenwechsel eine verschärfte Beratungspflicht in
Gleichwohlgewährungsfällen besteht (vgl. Urteil vom 1.4.2004 – B7 AL 52/03 R). In dem
genannten Urteil hat das BSG den hier vergleichbaren Gesichtspunkt herangezogen,
dass es den Arbeitslosen überraschen muss, von einer steuerrechtlich gewollten
Disposition leistungsrechtlich beeinträchtigt zu werden. Dies erfordere zum Ausgleich
eines ansonsten verfassungsrechtlich problematischen Eingriffs in einen mit eigenen
Beiträgen erarbeiteten Anspruch eine sehr intensive und genaue Beratung, die
regelmäßig mit allgemeinen Hinweisen in Beratungsblättern oder Merkheften nicht erfüllt
werde.
Die Kammer hat schließlich auch keinen Zweifel daran, dass der Kläger, wäre er über die
Auswirkungen der Gleichwohlgewährung beraten worden, seine Arbeitslosmeldung
entsprechend verschoben hätte. Denn auf Grund des geringen Zeitraumes zwischen
Eintritt der Arbeitslosigkeit und Eintritt des 52. Geburtstages wäre er auch ohne
Leistungsbewilligung über den nachwirkenden Krankenversicherungsschutz nach § 19
SGB V abgesichert gewesen und hätte auf Grund seiner wirtschaftlichen Situation ohne
weiteres die 28 Tage ohne Arbeitslosengeldbezug überbrücken können. Überdies konnte
sich der Kläger gute Chancen auf einen erfolgreichen Ausgang seiner Endfristungsklage
ausrechnen. Dass der Kläger im Arbeitsgerichtprozess Anwaltlich vertreten war, befreit
die Beklagte nicht von ihrer Beratungspflicht. Das Mandat zur Führung eines
Endfristungsprozesses beinhaltet keine Beratungs- und Sorgfaltspflichten des Anwalts in
Bezug auf die arbeitslosenversicherungsrechtlichen Auswirkungen eines überbrückenden
Arbeitslosengeldanspruchs (vgl. dazu die Rechtsprechung zum Insolvenzgeld, z. B. Urteil
vom LSG Berlin/Brandenburg vom 8.12.2005 – L 28 AL 75/04).
Darüber hinaus sieht das Gericht keine Handhabe, den Kläger so zu stellen, als hätte er
sich im Oktober 2003 überhaupt nicht arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld
bezogen. Im Hinblick auf die tatsächlich erfolgte Arbeitslosmeldung, der auch rechtzeitig
eine Arbeitssuchmeldung bereits im Juli 2003 vorausging, hält die Kammer die
Annahme, der Kläger hätte sich bei einer rechtzeitigen Beratung über die Auswirkungen
der Gleichwohlgewährung vor einem arbeitsgerichtlichen Urteil überhaupt nicht
arbeitslos gemeldet, für spekulativ. Ein gänzliches "Hinweg-Denken" der tatsächlich
erfolgten Arbeitslosmeldung ist im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
nach Einschätzung der Kammer nicht möglich. Insoweit wird auf die ständige
Rechtsprechung des BSG zur Vorgängervorschrift des § 117 Abs. 4 AFG verwiesen. Die
Rechtsprechung des BSG zum Lohnsteuerklassenwechsel, wonach die
Tatbestandswirkung der auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Steuerklasse der
Herstellung eines abweichenden leistungsrechtlichen Bemessungsfaktors nicht
entgegen stehe, kann nach Auffassung der Kammer nicht auf die vorliegende
Konstellation übertragen werden. Denn mit der Gutschrift der verbrauchten
Leistungstage bei Realisierung eines Erstattungsanspruchs werden die Nachteile einer
endgültigen Festsetzung der Rahmenfrist im Regelfall hinreichend ausgeglichen, um
einen verfassungsrechtlich nicht mehr tragbaren Eingriff in den
Arbeitslosengeldanspruch (Stichwort Beitragsäquivalenz) abzuwenden. Die jüngst
erfolgten Einschränkungen des BSG zum Umfang des Herstellungsanspruchs bei einer
Änderung der Steuerklasse (vgl. Urteil vom 6.4.2006 – B 7a AL 82/05 R) deuten darauf
hin, dass nicht generell von dem Grundsatz abgewichen werden sollte, außerhalb des
Sozialrechtverhältnisses liegende, tatsächliche Sachverhaltsgestaltungen als Grenzen
für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch beachten zu müssen.
Als zwingende Auswirkung des tatsächlichen Leistungsbezugs in Oktober 2003 hat der
Kläger daher zum 1.7.2004 eine bloße Wiederbewilligung des am 1.10.2003
entstandenen Anspruchs mit den entsprechenden Bemessungsdaten hinzunehmen. Im
Tenor war auf eine Anrechnung des Leistungsbezugs vom 1.-28.10.2003 zu erkennen,
da der Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht besser gestellt
werden kann, als nach dem von ihm (hilfsweise) angestrebten Ergebnis. Wegen der vom
Arbeitgeber geleisteten Erstattung tritt im vorliegenden Fall allerdings keine Verkürzung
der Anspruchsdauer ein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
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