Urteil des SozG Berlin vom 13.03.2017

SozG Berlin: sinn und zweck der norm, reformatio in peius, gebühr, entstehung, auflage, lieferung, aufwand, widerspruchsverfahren, rechtsschutz, angemessenheit

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Gericht:
SG Berlin 165.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 165 SF 5/09 E
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Nr 3103 RVG-VV, Nr 3106 RVG-
VV, § 86b Abs 1 SGG, § 86b Abs
2 SGG
Sozialgerichtliches Verfahren - Rechtsanwaltsvergütung -
Kostenfestsetzungsverfahren - verminderte Verfahrensgebühr -
"fiktive" Terminsgebühr in Verfahren auf einstweiligen
Rechtsschutz
Leitsatz
1. Die Anwendung des niedrigeren Gebührenrahmens der Nr 3103 VV-RVG wird dadurch
gerechtfertigt, dass die Tätigkeit des Rechtsanwaltes in einem "Eilt-Verfahren" regelmäßig
dadurch erleichtert wird, wenn er in derselben Sache bereits im Verwaltungs- bzw.
Widerspruchsverfahren tätig ist.
2. In Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs 1 und Abs 2 SGG kann eine
Gebühr nach Nr 3106 VV-RVG in Gestalt der "fiktiven" Terminsgebühr nicht anfallen, wenn ein
Termin tatsächlich nicht stattgefunden hat, weil für die Beschlussentscheidung nach § 86b
SGG die Durchführung eines Termins zur mündlichen Verhandlung nicht vorgesehen ist (vgl.
Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 01.02.2007 - V ZB 110/06-).
Tenor
Die Erinnerung der Antragstellerin gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der
Urkundsbeamtin des Sozialgerichts Berlin vom 7. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.
Kosten des Erinnerungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Zur Frage der Anwendbarkeit festgesetzten Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG
und der Angemessenheit der hierfür festgesetzten Höhe verweist das Gericht in
entsprechender Anwendung von § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach eigener
Prüfung auf die zutreffende Gründe der angefochtenen Entscheidung (vgl. Meyer-
Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 142 Randziffern 5, 5 a, 5 b, 5d m. w.
N.) und der dort zitierten Entscheidung des LSG Bayern vom 12. Februar 2007 –L 15 B
224/06 AS KO – (ebenso: LSG Schleswig.Holstein, Beschluss vom 28. Februar 2007 – L 1
B 467/06 SK; LSG Nordrheinwestfalen, Beschlüsse vom 26. April 2007 - L 9 B 14/06 AS -,
vom 6. August 2007 – L 20 B 91/07 AS -, vom 26. April 2007 - L 7 B 36/07 und vom 3.
Dezember 2007 – L 20 B 66/07 AY -).
Die Anwendung des niedrigeren Gebührenrahmens der Nr. 3103 VV RVG wird dadurch
gerechtfertigt, dass die Tätigkeit des Rechtsanwaltes in einem Eilt-Verfahren regelmäßig
dadurch erleichtert wird, wenn er in derselben Sache bereits im Verwaltungs- bzw.
Widerspruchsverfahren tätig ist. Die Prüfung und der Vortrag des Rechtsanwaltes sind
hinsichtlich des Anordnungsgrundes mit den materiell-rechtlichen Anforderungen der
Widerspruchsbegründung deckungsgleich. Dass zusätzlich der Anordnungsgrund
glaubhaft gemacht werden muss, steht nicht entgegen, da dieser Aufwand üblicherweise
gegenüber dem Aufwand für die Begründung des Anordnungsanspruches erheblich
zurücktritt.
Zur Frage der Angemessenheit der Höhe der festgesetzten Terminsgebühr ist die
Kammer grundsätzlich folgender Auffassung:
In Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 und Abs. 2 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine Gebühr nach Nr. 3106 VV RVG in Gestalt der
„fiktiven“ Terminsgebühr, wenn ein Termin tatsächlich nicht stattgefunden hat, nicht
anfallen, da für die Beschlussentscheidung nach § 86b SGG die Durchführung eines
Termins zur mündlichen Verhandlung nicht vorgesehen ist (vgl. Beschluss des
Bundesgerichtshofes vom 01.02.2007 zum Verfahren V ZB 110/06). Diese Auffassung
teilt auch die 164. Kammer des Sozialgerichts Berlin, die nunmehr neben der 165.
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teilt auch die 164. Kammer des Sozialgerichts Berlin, die nunmehr neben der 165.
Kammer des Sozialgerichts Berlin für die Entscheidungen nach § 197 Satz 2 SGG eine
Alleinzuständigkeit hat, vgl. Beschluss vom 21. Januar 2009 – S 164 SF 14/09 E -. Soweit
der Vorsitzende der 164. Kammer als Vorsitzender der 87. Kammer des Sozialgerichts
Berlin in der Entscheidung vom 15.04.2008 zum Verfahren S 87 AS 6754/06 ER unter
Bezugnahme auf die Entscheidung des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen, Beschluss vom 26.04.2007 zum Aktenzeichen L 7 B 36/07 AS die Auffassung
vertreten hatte, dass auch im Verfahren nach § 86b SGG eine fiktive Terminsgebühr
anfallen kann, so hat er diese Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben (Beschluss S 87
AS 3339/08 ER). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom
05.12.2007 zum Verfahren 4 KSt 1007.07 (4 A 1070.06) nachvollziehbar dargelegt, dass
grundsätzlich in Beschlussverfahren, in denen eine mündliche Verhandlung oder eine
Erörterung tatsächlich nicht stattfindet, eine Terminsgebühr nicht anfallen kann.
Es trifft zu, dass die Entstehung der Terminsgebühr weder eine über die Annahme des
Anerkenntnisses hinausgehende Mitwirkung im Sinne einer vorhergehenden
Kommunikation voraussetzt noch die von Gesetzes wegen obligatorische Durchführung
einer mündlichen Verhandlung. Grundvoraussetzung für die Entstehung dieser Gebühr
ist jedoch nach § 2 Abs. 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG), Teil 3 Vorbemerkung 3
Abs. 3 des Vergütungsverzeichnisses (VV-RVG) i.V.m. Abschnitt 1 Nr. 3106 Ziffer 3 VV-
RVG, dass für das entsprechende Rechtsschutzverfahren überhaupt eine mündliche
Verhandlung vorgeschrieben ist oder, wie etwa im einstweiligen Rechtsschutzverfahren,
ausnahmsweise durchgeführt werden soll. Denn die Terminsgebühr wird gerade deshalb
gewährt, um (regelmäßig vorgeschriebene) mündliche Verhandlungen im Sinne der
Prozessökonomie entbehrlich zu machen, ohne dass hierdurch der Vergütungsanspruch
des Prozessbevollmächtigten beeinträchtigt wird (vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 21.
Februar 2007, Az. 5 W 24/06, zitiert nach Juris). Da für einstweilige
Rechtsschutzverfahren gemäß § 124 Abs. 3 i.V.m. § 86b Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung von der Verfahrensordnung nicht
obligatorisch vorgesehen ist und vorliegend eine mündliche Verhandlung bzw. die
Erörterung der Sache durch das Gericht weder angeordnet noch hierzu geladen wurde,
ist auch keine Terminsgebühr entstanden (so auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 7.
Februar 2008, L 23 B 33/08 AS-KO; SG Halle, Beschluss vom 6. Juni 2008, S 11 SF 76/07
AS; SG Reutlingen, Beschluss vom 12. September 2007, Az. S 2 AS 3109/07 KE; SG
Lüneburg, Beschluss vom 10. Mai 2007, Az. 25 SF 23/07, jeweils zitiert nach Juris).
Zwar lässt sich diese Rechtsfolge nicht unmittelbar dem Wortlaut des Satzes 2 zu Ziffer
3106 VV RVG (Nr. 3) entnehmen. Der Gebührentatbestand lautet vielmehr: „Die Gebühr
entsteht auch, wenn (3.) das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne
mündliche Verhandlung endet.“ Dieser Wortlaut lässt jedoch durchaus auch die
Auslegung zu, dass hier nur eine Regelung in Bezug auf Verfahren getroffen wurde, die
regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden werden. Diese Auslegung
wird – anders als die entgegenstehende – durch den Sinn und Zweck der Norm gestützt,
der im Zusammenhang mit den Ziffern 1 und 2 zu Nr. 3106 VV-RVG sowie der
erwähnten Vorbemerkung 3 zu Teil 3 zu erkennen ist. Denn hieraus ergibt sich, dass der
Gebührentatbestand der Nr. 3106 VV-RVG insgesamt darauf abzielt, kraft Gesetzes
durchzuführende mündliche Verhandlungen im Einzelfall zu vermeiden, ohne insoweit
den Verdienst des Rechtsanwalts zu schmälern. So ordnet Ziffer 1 die Entstehung der
Gebühr an, wenn in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist,
im Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird. Ziffer
2 sieht die Terminsgebühr dann vor, wenn statt aufgrund mündlicher Verhandlung durch
Gerichtsbescheid entschieden wird. Die sich unmittelbar daran anschließende Ziffer 3
wird sodann durch das Bindewort „oder“ eingeleitet wird, welches semantisch den
inhaltlichen Sinnzusammenhang zu den vorherigen Ziffern herstellt. Für den aus
anwaltlicher Sicht bestehenden Anreiz des Verdienens einer Terminsgebühr unter
Verzicht auf eine mündliche Verhandlung ist dagegen kein schützenswertes Bedürfnis
erkennbar in Fällen, in denen durch das Gesetz eine solche von Vornherein nicht
vorgeschrieben ist und, von Ausnahmen abgesehen, regelmäßig auch nicht
durchgeführt wird. Schließlich würde anderenfalls der bevollmächtigte Rechtsanwalt in
solchen Verfahren, wie im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren, im Falle der
Verfahrensbeendigung durch die Annahme eines Anerkenntnisses gegenüber dem sonst
regelmäßig im schriftlichen Verfahren ergehenden Beschluss gebührenrechtlich zu
Lasten des Antragsgegners begünstigt werden, ohne dass hierfür ein eindeutiger Wille
des Gesetzgebers erkennbar wäre. Ausnahmetatbestände, wie der in Ziffer 3106 Nr. 3
VV RVG geregelte, sind jedoch grundsätzlich eng auszulegen (SG Berlin, Beschluss vom
23.09.2008, S 88 SO 821/07 ER).
Angesichts des auch im Erinnerungsverfahrens geltenden Verböserungsverbotes
(reformatio in peius) war es der Kammer im vorliegenden Fall allerdings verwehrt, bei der
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(reformatio in peius) war es der Kammer im vorliegenden Fall allerdings verwehrt, bei der
grundsätzlich erfolgenden vollumfänglichen Überprüfung des angefochtenen
Beschlusses nach eigenem Ermessen (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit
Erläuterungen, aaO., § 197 Rz. 10) die bereits dem Grunde nach festgesetzte (und von
dem Erinnerungsgegner jedenfalls nicht im Wege einer dafür erforderlichen eigenen
Erinnerung) angegriffenen Terminsgebühr nunmehr grundsätzlich „abzuerkennen“ bzw.
die den Gesamtkostenbetrag unter den bereits festgesetzten Betrag abzusenken.
Soweit eine Terminsgebühr allerdings als Grundlage für den in diesem Rahmen geltend
gemachten höheren (bzw. über den bereits festgesetzten hinausgehenden) Betrag
erforderlich ist, sieht die Kammer aus den zuvor genannten Gründen keine
(weitergehende) Rechtsgrundlage.
Das Gericht weist ergänzend darauf hin, dass aber auch unter grundsätzlicher
Anerkennung einer Terminsgebühr in der vorliegenden Verfahrenskonstellation (durch
den angefochtenen Beschluss) die hierfür im angegriffenen Beschluss festgesetzte Höhe
aus den Gründen des Beschlusses zu halten wäre. Entgegen dem Erinnerungsvortrag
hat die Urkundsbeamtin die Terminsgebühr nicht „allein wegen des Umstandes, dass ein
Termin tatsächlich nicht wahrgenommen werden musste und lediglich die Annahme
eines Anerkenntnisses erklärt worden ist“ niedriger angesetzt, sondern weil es für den
Bevollmächtigten der Erinnerungsführerin nach Stattgabe des Widerspruches vom 7.
April 2008 ohne großen Zeitaufwand ersichtlich gewesen sei, dass dem
Antragsbegehren entsprochen wurde. Auch hat sie entgegen dem Erinnerungsvortrag
nicht den Gebührenrahmen eingeschränkt, sondern innerhalb des uneingeschränkt
zugrunde gelegten Gebührenrahmens aus den von ihr genannten Gründen eine merklich
unterdurchschnittliche Gebühr festgesetzt.
Die Kostenentscheidung für das Erinnerungsverfahren beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hält eine gesonderte Kostenentscheidung im Erinnerungsverfahren für
erforderlich, da das Erinnerungsverfahren im Hinblick auf das Hauptsacheverfahren eine
gesonderte Angelegenheit i.S.d § 18 Nr. 5 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG)
darstellt (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. September 2005 - L
2 B 40/04, AnwBl 2006, 146; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 30. November 2006 - L
6 B 221/06 SB, jeweils für das Beschwerdeverfahren; vgl. zur Verfahrensgebühr für
sozialgerichtliche Verfahren über die Beschwerde und die Erinnerung, wenn in dem
Verfahren Betragsrahmengebühren nach § 3 RVG entstehen: Nr. 3501 des
Vergütungsverzeichnisses zum RVG; überdies Rohwer-Kahlmann, SGG, 4. Auflage, 42.
Lieferung 2004, § 197 RdNr. 18; Schneider, KostRsp., Nr. 1 § 18 Nr. 5 RVG, Lieferung 264,
Februar 2007; Schneider/Wolf, RVG, 3. Auflage 2006, § 16 RdNr. 108 ff.).
Die Kammer folgt ausdrücklich nicht dem Beschluss des Verwaltungsgerichts
Regensburg (VG Regensburg, 11. Kammer, Beschluss vom 01.07.2005, Az.: RN 11 S
03.2905), wonach nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes nur Verfahren über
eine Erinnerung gegen eine Entscheidung des Rechtspflegers in Angelegenheiten, in
denen sich die Gebühren nach Teil 3 des Vergütungsverzeichnisses richten, eine
besondere Angelegenheit nach § 18 Nr. 5 RVG darstellen sollen. Das SGG kennt den
Rechtspfleger nicht. Aus dem Gebührentatbestand Nr. 3501 VV RVG ergibt sich
eindeutig, dass eine Verfahrensgebühr für Verfahren vor den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit über die Beschwerde und die Erinnerung, in denen
Betragsrahmengebühren entstehen, umfasst ist. Dass der Gesetzgeber in § 18 Nr. 5
RVG vom „Rechtspfleger“ spricht, darf als glattes (redaktionelles) Versehen des
Gesetzgebers gewertet werden.
Das Bundesverwaltungsgericht hat am 18.06.2007 (Az.: 4 KSt 1002/07) und am
21.06.2007 (Az.: 4 KSt 1001/07) entschieden, dass § 18 Nr. 5 RVG auch Erinnerungen
gegen Kostenfestsetzungen des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle in der
Verwaltungsgerichtsbarkeit umfasst (entgegen VG Regensburg, a. a. O.).
Dieser Beschluss ist, auch hinsichtlich der Kostengrundentscheidung, unanfechtbar (§
197 Abs. 2 SGG).
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