Urteil des SozG Berlin vom 20.07.2006

SozG Berlin: allein erziehende mutter, umzug, unterkunftskosten, miete, zusicherung, angemessenheit, freizügigkeit, wohnungsmarkt, gefahr, erhaltung

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Gericht:
SG Berlin 37.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 37 AS 5804/07 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 22 Abs 2 S 1 SGB 2 vom
20.07.2006, § 22 Abs 2 S 2 SGB
2 vom 20.07.2006, § 22 Abs 1 S
2 SGB 2 vom 20.07.2006, § 22
Abs 1 S 1 SGB 2 vom
20.07.2006, Art 3 Abs 1 GG
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - fehlende
Erforderlichkeit des Umzugs - Anspruch auf Übernahme der am
Zuzugsort angemessenen Unterkunftskosten ohne Zusicherung -
verfassungskonforme Auslegung
Tatbestand
Die Antragstellerin (Ast) zu 1) ist allein erziehende Mutter eines im August 2006
geborenen Kindes (der Ast. zu 2). Sie lebt in einer 3-Zimmer-Wohnung, für die monatlich
416,98 EUR Warmmiete zu entrichten sind. Der Lebensunterhalt der Familie wird mit
SGB II-Leistungen sichergestellt. Als Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 SGB II werden
403,58 EUR monatlich übernommen.
Im Februar 2007 beantragte die Ast. eine Zusicherung zur Mietübernahme für eine
Wohnung in P. Das eingereichte Wohnungsangebot bezieht sich auf eine 70 qm große
Wohnung, für die eine Monatsmiete von 460,- EUR zu zahlen ist.
Mit Bescheid vom 2.3.2007 lehnte der Antragsgegner (Ag.) eine Zusicherung ab. Der
Umzug sei nicht erforderlich. Hiergegen bringt die Ast. zu 1) im Widerspruch und der
Begründung eines am 7.3.2007 bei Gericht eingegangenen Eilantrags vor, dass sie in B
keinen Kita-Platz für ihr Kind finden könne. Außerdem diene der Umzug dazu, ihren
beruflichen Wiedereinstieg als Erzieherin abzusichern. Sie habe sich bereits nach einem
Praktikum in einem P-er Kinderhaus erkundigt. Im Fall einer Einstellung könne sie ihre
Tochter zu der bei P lebenden Mutter bei Bedarf oder im Krankheitsfall bringen. Ihre
Einstellungschancen würden sich bei Nachweis einer solchen zusätzlichen
Betreuungsmöglichkeit wesentlich verbessern. Der Umzug müsse daher als erforderlich
anerkannt werden.
Der Ag. hält dem entgegen, dass die bloße Chance auf Erlangung eines Arbeitsplatzes
keine Erforderlichkeit i.S. von § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II begründe. Die Ast. zu 1) könne
auch in B einen Kita-Platz finden, die Fahrwege nach P zur Absolvierung des Praktikums
seien zumutbar.
Der beigeladene P. SGB II-Träger hat zwar die Angemessenheit der angebotenen
Wohnung bestätigt, sieht sich jedoch nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II an die vom Berliner
SGB II-Träger übernommene Miete von 403,58 EUR gebunden.
Entscheidungsgründe
Der nach § 86 b Abs. 2 SGB II zulässige Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang begründet. Der beigeladene SGB II-Träger ist verpflichtet, die für P
angemessene Miete von 460 EUR abzüglich des Anteils für Haushaltsenergie zu
übernehmen.
Aus der Erforderlichkeit des geplanten Umzugs – in welchem Fall der Ag. zu einer
Zusicherungserklärung nach § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu verpflichten gewesen wäre -
ergibt sich dieser Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten aber nicht. Das
Gericht teilt die Auffassung des Ag., dass der Umzug nach derzeitiger Sachlage zur
beruflichen Wiederein-gliederung nicht erforderlich ist. Für die Dauer des Praktikums,
sofern sich dieses überhaupt realisiert, kann die Ast. unter Beibehaltung des B-er
Wohnsitzes Berufserprobung und Kinderbetreuung miteinander in Einklang bringen. Die
verkehrstechnisch gut erschlossene Fahrstrecke B - P ist jedenfalls für einen nur
vorübergehenden Zeitraum für die Ast. zu bewältigen. Sollte die Ast. zu 1) in P einen
Arbeitsplatz finden, wäre aus den im Widerspruchs- und Eilverfahren vorgetragenen
Gründen der Umzug plausibel, nachvollziehbar und verständlich, mithin erforderlich i.S.
von § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II (Berlit in LPK-SGB II, § 22 Rdnr. 76). Da die Ast. nach § 10
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von § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II (Berlit in LPK-SGB II, § 22 Rdnr. 76). Da die Ast. nach § 10
Abs. 1 Nr. 3 SGB II noch keiner Erwerbsverpflichtung unterliegt, darf sie nach
Einschätzung des Gerichts ihre Bemühungen um einen Arbeitplatz im Interesse ihrer
Betreuungs- und Erziehungsaufgabe auf die Stadt P beschränken. Die hier erst noch
anstehende Arbeitssuche kann jedoch ohne weiteres von B aus erfolgen, so dass derzeit
keine Erforderlichkeit für den Umzug angenommen werden kann.
Der dennoch bestehende und von der Beigeladenen zu erfüllende Anspruch auf
ungekürzte Mietkostenübernahme ergibt sich direkt aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
Insoweit hat inzwischen auch das BSG festgestellt, dass es zur Übernahme der örtlich
angemessenen Unterkunftskosten keiner Zusicherung bedarf (Urteil vom 7.11.2006 – B
7b AS 8/06 R).
Die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II (Begrenzung auf die günstigere Miete am
Wegzugsort) gilt für die Ast. nicht. Um einen unverhältnismäßigen Eingriff in das nach
Art. 11 GG geschützte Recht auf Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet zu vermeiden,
kann es für die Frage, welche Wohnkosten nach einem nicht erforderlichen Umzug in
einen neuen Wohnort als angemessen übernommen werden, nur auf die
Angemessenheit der Unterkunftskosten auf dem Wohnungsmarkt am Zuzugsort
ankommen. Der Zweck der Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, Umzüge innerhalb
eines Wohnungsmarktes zur Optimierung von Leistungsansprüchen abzuwenden, bleibt
gewahrt.
Es ist auch kein sachlicher Grund dafür erkennbar, SGB II-Bezieher bei Umzügen im
Bundesgebiet stärker zu beschränken als Hilfebedürftige nach dem SGB XII, wo es eine §
22 Abs. 1 Satz 2 SGB II vergleichbare Vorschrift nicht gibt. Überdies führte die
Auffassung der Beigeladenen zu willkürlichen Besser- und Schlechterstellungen: Der SGB
II-Bezieher in einer Region mit hohem Mietniveau könnte fast unbeschränkt umziehen,
der Hilfebedürftige mit einer nach bundesdeutschem Vergleich sehr geringen Miete
müsste am Zuzugsort mit einer unterdurchschnittlichen Wohnung vorlieb nehmen.
Schließlich führte § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der weiten Lesart der Beigeladenen zu
einer ungewünschten Steuerungswirkung; zur Erhaltung ihrer überregionalen Mobilität
müssten die Betroffenen bei einem erforderlichen Umzug darauf achten, eine möglichst
an der Grenze der jeweiligen Angemessenheits-Richtwerte liegende Wohnung
anzumieten.
Der Wohnungsmarkt, für den die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt, ist nach
Ansicht des Gerichts entweder das von verwaltungsinternen Richtwerten umfasste
Gebiet (hier alle Bezirke Bs) oder die Region, auf die der zur Mietsenkung Aufgeforderte
seine Suchbemühungen erstrecken muss. Die Gefahr willkürlich kostentreibender
Umzüge wird dadurch angemessen eingeschränkt, ohne den Bogen in Richtung eines
unverhältnismäßigen Eingriffs in das Grundrecht auf Freizügigkeit zu überspannen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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