Urteil des SozG Aurich vom 15.07.2005

SozG Aurich: aufschiebende wirkung, anfechtungsklage, stadt, jugendamt, verwaltungsakt, arbeitslosenhilfe, interessenabwägung, entziehung, hauptsache, leistungsanspruch

Sozialgericht Aurich
Beschluss vom 15.07.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 47 AS 397/05 ER
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 06.06.2005 gegen den Bescheid des
Antragsgegners vom 19.05.2005, mit dem eine Abzweigung von Leistungen in Höhe von monatlich 80,- Euro ab dem
01.06.2005 verfügt worden ist, aufschiebende Wirkung hat. Es wird angeordnet, dass die seit dem 01.06.2005
abgezweigten Leistungen dem Antragsteller ausgekehrt werden. Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind
vom Antragsgegner zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer schon vollzogenen Abzweigung vom Leistungsanspruch des
Antragstellers.
Der im D. 1953 geborene Antragsteller lebt von seiner Ehefrau, bei der die gemeinsame im Oktober 1993 geborene
Tochter lebt, getrennt. Der Antragsteller erhielt bis zum 03.03.2004 Arbeitslosengeld in Höhe von monatlich 907,88
Euro; danach erhielt er Arbeitslosenhilfe bis zum Ende des Jahres 2004 in Höhe von monatlich 743,07 Euro. Nach
dem Vorbringen des Antragsgegners hat sich der Antragsteller gegenüber dem Jugendamt der Stadt E. zur Zahlung
von Unterhaltsleistungen an seine Tochter in Höhe des jeweiligen Regelbetrages verpflichtet. Gegenwärtig sei er zu
einer Unterhaltsschuld von monatlich 241,- Euro verpflichtet.
Am 08.12.2003 beantragte der Antragsteller bei der Landesversicherungsanstalt F. die Gewährung einer
Erwerbsunfähigkeitsrente, was mit Bescheid vom 11.05.2004 abgelehnt wurde. Nach erfolglosem
Widerspruchsverfahren hat der Antragsteller dagegen Klage zum Sozialgericht Oldenburg erhoben, über die noch nicht
entschieden wurde (Az.: S 81 R 167/05).
Am 15.09.2004 hat der Antragsteller beim Rechtsvorgänger des Antragsgegners die Gewährung von Leistungen nach
dem SGB II beantragt. Mit Bescheid vom 09.11.2004 wurden ihm für den Zeitraum vom 01.01. bis zum 30.04.2005
Leistungen in Höhe von monatlich insgesamt 807,66 Euro gewährt. Darin war u.a. ein Zuschlag nach § 24 SGB II in
Höhe von monatlich 160,- Euro enthalten. Unter dem 21.03.2005 beantragte der Antragsteller die weitere Gewährung
von Leistungen und gab dabei an, dass sich seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht verändert
hätten. Mit Bescheid vom 14.04.2005 gewährte daraufhin der Antragsgegner dem Antragsteller für den Zeitraum vom
01.05. bis zum 31.10.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von monatlich 727,66 Euro.
Dabei legte der Antragsgegner auf der Bedarfsseite den Regelsatz (345,- Euro), Miete (203,66 Euro), Heizungskosten
(51,- Euro) und Nebenkosten für die Wohnung (48,- Euro) monatlich zugrunde und setzte außerdem einen Zuschlag
nach § 24 SGB II in Höhe von 80,- Euro an. Dieser Bescheid wurde – soweit ersichtlich – bestandskräftig. Mit
Schreiben vom 24.03.2005 beantragte das Jugendamt der Stadt G. beim Antragsgegner, eine Abzweigung des
Zuschlags nach § 24 SGB II in Höhe von 80,- Euro monatlich auf der Grundlage von § 48 SGB I vorzunehmen. Denn
der Antragsteller habe sich seinerzeit in einer sofort vollstreckbaren Urkunde gegenüber dem Jugendamt der Stadt E.
verpflichtet, Unterhaltsleistungen zu Gunsten seiner Tochter zu erbringen. Diese Unterhaltsleistungen habe der
Antragsteller jedoch nicht erfüllt; die Ehefrau des Antragstellers sei auch nicht zu Barunterhaltsleistungen in der Lage,
da sie ebenfalls Leistungen nach dem SGB II beziehe. Mit Bescheid vom 19.05.2005 zweigte daraufhin der
Antragsgegner ab dem 01.06.2005 einen Betrag von monatlich 80,- Euro vom Zahlungsanspruch des Antragstellers ab
und überwies diesen Betrag dem Jugendamt der Stadt G ... Dieser Bescheid, der gegenüber der Stadt G. mit einer
Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, wurde am gleichen Tage dem Antragsteller zur Kenntnis übersandt. Dagegen
legte der Antragsteller mit Schreiben vom 06.06.2005 Widerspruch ein, der mit dem Widerspruchsbescheid des
Antragsgegners vom 13.06.2005 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Dagegen hat der Antragsteller Klage zum
erkennenden Gericht erhoben, über die bislang noch nicht entschieden worden ist (Az.: S 47 AS 464/05).
Am 06.06.2005 hat sich der Antragsteller an das Sozialgericht Oldenburg mit der Bitte um Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes gewandt. Er macht geltend, entgegen der Ansicht des Antragsgegners habe der gegen die
Abzweigung eingelegte Widerspruch aufschiebende Wirkung. Denn regelmäßig – bis auf bestimmte Ausnahmen – sei
dies bei Widersprüchen gegen belastende Bescheide der Fall. Auch müsse sich der Antragsgegner am Bescheid vom
14.04.2005 festhalten lassen, der bislang nicht geändert worden sei. Die Frage, ob ein gegen eine Abzweigung
gerichteter Widerspruch oder eine Klage aufschiebende Wirkung entfalte, sei in der obergerichtlichen Rechtsprechung
geklärt. Denn dabei handele es sich nicht um eine Entziehung oder Herabsetzung einer laufenden Leistung im Sinne
von § 86 a Abs. 2 Nr. 3 SGG, sondern nur um eine Regelung der anderen Auszahlung des bestehenden Anspruchs.
Im übrigen seien die Vorschriften über die Abzweigung nach § 48 SGB I nicht beachtet worden. Es fehle an einer
Ermessensbetätigung des Antragsgegners, was die Normen verlangen. Tatsächlich sei auch sein Selbstbehalt, der
sich nach den zivilrechtlichen Maßstäben der Düsseldorfer Tabelle beurteile, höher als der ihm gewährte
Leistungsanspruch nach dem SGB II.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten und macht geltend: Bei der angegriffenen Regelung handele es
sich um einen Fall, in dem von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung durch ein Bundesgesetz von Widerspruch
und Anfechtungsklage entfallen sei. Denn es handele sich um den Übergang eines Anspruchs im Sinne von § 39 Nr. 2
SGB II, für den in dieser Vorschrift ausdrücklich der Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und
Anfechtungsklage geregelt sei. Hinzu komme, dass kein Anordnungsgrund für den Antragsteller bestehe. Zwar werde
in seinen Auszahlungsanspruch eingegriffen, jedoch verbleibe ihm der Regelsatz und die vollständigen Kosten der
Unterkunft, so dass eine Gefährdung seiner menschenwürdigen Existenz nicht drohe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners ergänzend Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners beurteilt sich der vorliegende Antrag nicht nach § 86 b Abs. 2 SGG,
sondern nach § 86 b Abs. 1 SGG. Denn der Antragsteller begehrt nicht im Wege der einstweiligen Anordnung vom
Antragsgegner die Gewährung von (höheren) Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II, die in einem
Hauptsacheverfahren mit der Leistungs- oder Verpflichtungsklage zu erstreiten wären. Vielmehr wendet sich der
Antragsteller gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt, mit dem in eine ihm bereits gewährte Position eingegriffen
wurde. Denn der Antragsgegner hat mit Bescheid vom 14.04.2005 für den Zeitraum vom 01.05. bis zum 31.10.2005
dem Antragsteller Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 727,66 Euro zuerkannt. Auch der Zuschlag nach § 24
SGB II ist Teil des Arbeitslosengeldes II (vgl. Eicher in: Eicher/Spellbrink, SGB II, München 2005, § 39 SGB II Rdn.
10). Auch handelt es sich bei der Abzweigung nach § 48 SGB I um einen belastenden Verwaltungsakt, denn mit ihm
wird im Einzelfall die Auszahlungsmodalität der dem Antragsteller ansonsten zustehenden Leistungen geregelt.
Gem. § 86 b Abs. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
anordnen bzw. die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage feststellen. Dabei ist vom
Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem Interesse des Antragstellers, einstweilen von der
belastenden Wirkung des Verwaltungsaktes verschont zu bleiben, und dem besonderen Interesse der die Verfügung
erlassenden Verwaltung, das zur Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 geführt hat bzw. dem
im Gesetz zum Ausdruck kommenden besonderen Vollzugsinteresse, wie es in § 86 a Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 SGG seinen
Ausdruck gefunden hat. Bevor es aber zu dieser Interessenabwägung kommt, bei der im wesentlichen auf den
voraussichtlichen Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache abzustellen ist, ist zu klären, ob es sich um einen
Fall handelt, bei dem die regelmäßig angeordnete aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage
eingreift (vgl. § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG) oder ob die aufschiebende Wirkung nach den verschiedenen Tatbeständen
des § 86 a Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 SGG entfallen ist.
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist im vorliegenden Fall die grundsätzlich gegebene aufschiebende Wirkung
nicht gem. § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 2 SGB II entfallen. Nach dieser Vorschrift haben Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der den Übergang eines Anspruchs bewirkt, keine aufschiebende
Wirkung. Indessen handelt es sich – entgegen der Ansicht des Antragsgegners – im vorliegenden Fall bei der
Abzweigung nach § 48 SGB I nicht um einen "Übergang eines Anspruchs" im Sinne von § 39 Nr. 2 SGB II. Mit dem
Übergang eines Anspruchs im Sinne dieser Vorschrift sind Fälle der §§ 31 u. 34 SGB II gemeint, nicht jedoch die
Abzweigung nach § 48 SGB I, mit der erleichtert die Realisierung von Unterhaltsansprüchen gesichert werden soll
(vgl. Eicher, a.a.O., § 39 SGB II Rdn. 17; Conradis in: LPK – SGB II, Baden-Baden 2005, § 39 SGB II Rdn. 9).
Auch handelt es sich bei der vorgenommenen Abzweigung nicht um einen Fall des § 86 a Abs. 2 Nr. 3 SGG, wonach
die aufschiebende Wirkung in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit
bei Verwaltungsakten entfällt, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen. Zutreffend wurde vom
Antragsteller darauf hingewiesen, dass die Abzweigung von Arbeitslosenhilfe nach § 48 SGB I kein Fall der
Entziehung oder Herabsetzung von Leistungen der Bundesagentur für Arbeit ist. Denn durch die Abzweigung wird
lediglich der Zahlungsempfänger, nicht aber der Anspruchsinhaber oder die Höhe des Anspruchs abweichend durch
den Abzweigungsbescheid gesondert geregelt. Daher ist in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt, dass
Widerspruch und Anfechtungsklage eine aufschiebende Wirkung entfalten, wenn der Leistungsempfänger sich gegen
die Abzweigung von Arbeitslosenhilfe wendet (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.10.2004 – L 12 AL
4018/04 ER – B – NZS 2005, 335; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 08.06.2004 – L 3 ER 29/04 AL – NZS 2005,
279). Liegt mithin kein Fall des gesetzlich angeordneten Ausfalls der aufschiebenden Wirkung vor und wurde nicht im
Einzelfall die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten
angeordnet, so muss es bei der grundsätzlichen aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage
verbleiben.
Über die Kosten war gem. § 193 SGG zu entscheiden. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des
Antragstellers für erstattungsfähig zu erklären, da er mit seinem Begehren obsiegt hat. Für den Antragsteller ist das
Verfahren gem. § 183 Satz 1 SGG gerichtskostenfrei.