Urteil des SozG Aurich vom 14.02.2006

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Sozialgericht Aurich
Urteil vom 14.02.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 8 KR 111/05
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 25.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19.08.2005 verurteilt, den Kläger mit einem LifeStand LS nebst Zubehör gemäß Kostenvoranschlag vom 18.04.2005
zu versorgen. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhl mit integrierter Stehvorrichtung der Marke LifeStand LS.
Der 1946 geborene, bei der Beklagten versicherte Kläger ist seit Januar 2005 querschnittsgelähmt. Er ist von der
Beklagten mit einem Aktivrollstuhl versorgt. Im Rahmen einer stationären Behandlung in der G., Zentrum für
Rückenmark-Verletzte, in H. führte der Kläger probeweise ein Stehtraining mit einem LifeStand durch. Den unter
Vorlage eines Kostenvoranschlags des Sanitätshauses I. über 6.538,77 EUR gestellten Antrag des Klägers auf
Versorgung mit diesem Hilfsmittel lehnte die Beklagte ab, da die Stehübungen auch mit einem Aktivrollstuhl in
Verbindung mit einem Stehtrainer durchgeführt werden könnten (Bescheid vom 15.04.2005).
Auf den Widerspruch des Klägers holte die Beklagte ein nach Aktenlage erstelltes Gutachten des Dr. J.,
Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), vom 27.07.2005 ein. Darin heißt es, es sei zweifelsfrei
sinnvoll, dass der Kläger Stehübungen durchführe. Hierfür würden im Hilfsmittelverzeichnis in der Produktgruppe 28
(Stehhilfen) entsprechende Hilfsmittel angeboten. In Sonderfällen könne ein Rollstuhl mit Stehvorrichtung verordnet
werden, wenn tägliches Stehtraining erforderlich sei und andere Stehübungsgeräte nicht genutzt werden könnten. Bei
dem Kläger seien die oberen Extremitäten nicht betroffen, so dass diese bei den angesprochenen Stehgeräten zur
Stabilisierung eingesetzt werden könnten. Bei den Stehgeräten mit elektrischer Gutaufrollung sei der Kläger mit Hilfe
des Gurtsystems selbst in der Lage, sich aus dem Rollstuhl heraus in die Stehposition zu bringen. Die Verordnung
eines LifeStand-Stehrollstuhls überschreite daher das Maß des medizinisch Notwendigen. Dieser Beurteilung schloss
sich die Beklagte an und wies den Widerspruch als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 19.08.2005).
Gleichzeitig stimmte sie der Versorgung mit einem (in Kombination mit dem Rollstuhl nutzbaren) Stehtrainer zu.
Mit seiner am 16.09.2005 erhobenen Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend, der von der Beklagten
angebotene Stehtrainer setze umfangreiche Hilfestellungen voraus. Um die elektrische Gurtaufrichtung nutzen zu
können, müsse er – der Kläger - angehoben werden, damit der Gurt unter dem Becken platziert werden könne. Hierzu
sei er selbst nicht in der Lage. Für diese Hilfestellung seien zwei ausgebildete Hilfspersonen erforderlich, die auch
während des gesamten Aufrichtvorgangs zugegen sein müssten. Auch könne der LifeStand seine Behinderung besser
ausgleichen, als dieses ein Rollstuhl und ein Stehgerät zusammen könnten. Er - der Kläger - könne mit dem LifeStand
das Stehtraining zu jedem gewünschten Zeitpunkt und an jedem gewünschten Ort durchführen. Er könne auch an
Hochschränke selbständig herankommen. Der Stehtrainer ermögliche demgegenüber ein Stehtraining nur an einem
festen Ort und auch nur dann, wenn die notwendigen Hilfskräfte anwesend seien. Im Übrigen sei in seiner Wohnung
der erforderliche Platz für einen Stehtrainer auch nicht vorhanden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19.08.2005 zu verurteilen, ihn mit einem LifeStand LS nebst Zubehör gemäß Kostenvoranschlag vom 18.04.2005 zu
versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die Versorgung mit einem Stehtrainer der Produktgruppe 28 des
Hilfsmittelverzeichnisses ausreichend wäre. § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) vermittle keinen Anspruch
auf die Versorgung mit einem optimalen Hilfsmitteltyp. Vielmehr schulde die gesetzliche Krankenversicherung
lediglich einen Basisausgleich der Behinderung. Der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung finde seine Grenze dort, wo
eine nur geringfügige Verbesserung völlig außer Verhältnis zur Belastung der Versichertengemeinschaft stehe. Der
vorgeschlagene Stehtrainer der Marke Campus Challenge mit elektrischem Gurtsystem (Grundpreis 3.395,- EUR)
stelle daher die wirtschaftlichere Alternative dar. Aus dem Prospektmaterial sei ersichtlich, dass eine Aufrichtung
auch ohne Hilfe weiterer Personen möglich sei. Der bei dem Kläger vorhandene Aktivrollstuhl könne hierfür eingesetzt
werden.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Beklagte hat die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhl mit Aufstehvorrichtung der Marke LifeStand LS zu
Unrecht abgelehnt.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen,
Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine
Gebrauchsgegen-stände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.
Bei einem LifeStand handelt es sich offenkundig nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Auch
ist dieses Hilfsmittel nicht nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen. Das Gericht setzt im Hinblick auf die
aktenkundige Stellungnahme der G. zur nachstationären Hilfsmittelversorgung vom 05.04.2005 und das MDK-
Gutachten vom 20.07.2005 ferner als unstreitig voraus, dass der Kläger aus therapeutischen Gründen auf tägliches
Stehtraining angewiesen ist. Ein entsprechendes Hilfsmittel ist daher in seinem Fall erforderlich, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern (§ 33 Abs. 1 S. 1 1. Alt. SGB V).
Gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V muss das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich sein, damit die Behandlung gesichert
werden kann. Erforderlichkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn das Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig,
wirtschaftlich und notwendig ist (vgl. auch § 12 Abs. 1 SGB V). Es darf kein kostengünstigeres und zumindest gleich
geeignetes Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Es muss eine begründbare Relation zwischen Kosten und Heilerfolg
vorliegen (vgl. zusammenfassende Darstellung in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht/Höfler, § 33 SGB V
Rdnr. 17 ff. mit Nachw. aus der BSG-Rspr.).
Davon ausgehend ist der vom Kläger beantragte Rollstuhl LifeStand LS erforderlich i. S. des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V.
Der von der Beklagten vorgeschlagene Stehtrainer Campus Challenge ist zwar kostengünstiger, kann aber im Hinblick
auf die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter
Menschen – nicht als gleich geeignet angesehen werden.
Bei der hier streitbefangenen Hilfsmittelversorgung handelt es sich um eine Leistung zur Teilhabe i. S. des § 4 SGB
IX. Hierzu zählen nach § 5 Nr. 1 SGB IX Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die wiederum nach §§ 26 Abs.
2 Nr. 6, 31 SGB IX u. a. die Versorgung mit Hilfsmitteln umfassen. Für Hilfsmittel sind die gesetzlichen
Krankenkassen Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX und haben danach die einschlägigen Regelungen
dieses Sozialgesetzbuchs zu beachten. Dieses ist ferner auch durch § 2a SGB V klargestellt, wonach im
Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung den besonderen Belangen behinderter Menschen Rechnung zu
tragen ist.
Nach dem somit hier anwendbaren § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX dienen die Leistungen zur Teilhabe dem Ziel, die
persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst
selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern. Bei der Entscheidung über die
Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der
Leistungsberechtigten entsprochen (§ 9 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Leistungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst
viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung (§ 9 Abs. 3
SGB IX).
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung nicht mehr in Abrede gestellt, dass der Kläger bei der Benutzung des
von ihr vorgeschlagenen Stehtrainers auf Hilfspersonen angewiesen ist, da der Gurt unterhalb des Beckens platziert
werden muss. Der LifeStand ermöglicht dem Kläger demgegenüber ein größeres Maß an Unabhängigkeit von
Hilfspersonen, da er mit diesem Hilfsmittel das Stehtraining selbständig und selbstbestimmt durchführen kann. Ferner
wird die selbständige Lebensführung des Klägers durch den LifeStand insoweit gefördert, als er mit dessen Hilfe auch
Hochschränke erreichen kann. Diese unbestrittenen Gebrauchsvorteile des LifeStand gegenüber dem von der
Beklagten vorgeschlagenen Stehgerät sind im Hinblick auf die Zielsetzung des SGB IX, behinderten Menschen eine
möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, nicht als unwesentlich anzusehen, so
dass im vorliegenden Fall auch begründbare Relation zwischen Kosten und Nutzen besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.