Urteil des SozG Aurich vom 11.08.2005

SozG Aurich: umschulung, berufliche weiterbildung, arbeitsmarkt, anerkennung, rehabilitation, praktikum, behinderter, anschluss, behinderung, erwerbsfähigkeit

Sozialgericht Aurich
Urteil vom 11.08.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 2 R 143/05
Der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.06.2005 wird
aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 30.09.2005 hinaus für die Dauer eines Jahres Übergangsgeld für das
Anerkennungspraktikum nach Maßgabe des Gesetzes zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Übergangsgeld für die Dauer eines Anerkennungspraktikums im Rahmen der
Umschulung des Klägers zum Arbeitserzieher.
Der 41-jährige Kläger war zuletzt als selbstständiger Tischlermeister tätig. Nachdem er im Juli 2000 auf einer
Baustelle einen Unfall erlitten und sich dabei Frakturen im Lendenwirbelsäulenbereich zugezogen hatte, bewilligte die
Beklagte dem Kläger nach vorangegangener Berufsfindungs- und Arbeitserprobungsmaßnahme eine Umschulung zum
Arbeitserzieher an der Fachschule für Arbeitserziehung des Berufsfortbildungswerkes des F. in G. in Baden-
Württemberg. Der theoretische Teil dieser Ausbildung dauert vom 01.10.2003 bis 30.09.2005. Er endet mit einer
staatlichen Abschlussprüfung. Es schließt sich ein einjähriges Berufspraktikum an, wobei gegen Ende ein
abschließendes Kolloquium zu absolvieren ist. Die staatliche Anerkennung als Arbeitserzieher erfolgt nach Bestehen
des Kolloquiums und dem erfolgreichen Abschluss des Berufspraktikums. Mit Bescheid vom 07.10.2003 sowie
Änderungsbescheid vom 27.11.2003 gewährte die Beklagte dem Kläger Übergangsgeld für die Dauer der Leistung zur
Teilhabe.
Am 08.04.2005 beantragte der Kläger die Weitergewährung des Übergangsgeldes für die Zeit des Anerkennungsjahres
ab dem 01.10.2005. Er bezog sich hierbei u.a. darauf, dass eine andere LVA für einen anderen Schüler dies ebenfalls
bewilligt habe. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26.04.2005 ab und verwies darauf, dass gemäß § 33
Abs. 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) Leistungen auch für Zeiten notwendiger Praktika erbracht würden.
Nach der Gesetzesbegründung gelte dies aber nicht für Beschäftigungszeiten im Anschluss an eine Leistung zur
Teilhabe am Arbeitsleben, die lediglich der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder staatlichen Erlaubnis zur
Ausübung des Berufes dienten. Deshalb seien Anerkennungspraktika nicht Bestandteil der Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben, so dass weder Übergangsgeld noch Verpflegungsgeld/-kostenzuschuss, Reisekosten etc. bewilligt
werden könnten. Dem Kläger wurde zugleich empfohlen, für seine wirtschaftliche Sicherung für Zeiten nach dem
Wegfall des Übergangsgeldes rechtzeitig zu sorgen und sich ggf. mit dem zuständigen Sozialamt in Verbindung zu
setzen. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.06.2005 mit dem
Wesentlichen gleicher Begründung zurück. Zugleich räumte sie ein, dass die Regelung in Einzelfällen unbefriedigend
sein möge, das Problem jedoch nur vom Gesetzgeber selbst gelöst werden könne durch eine Klarstellung unter
Abkehrung von der eindeutigen Gesetzesbegründung zu § 33 Abs. 5 SGB IX. Der Gesetzgeber sei bereits auf die
Problematik aufmerksam gemacht worden.
Mit seiner am 29.06.2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er beruft sich auf die Regelung
des § 33 Abs. 5 SGB IX und verweist ergänzend darauf, dass ohne das einjährige Praktikum sein Ausbildungsziel
zum staatlichen anerkannten Arbeitserzieher überhaupt nicht erreichbar sei. Deshalb seien auch die Voraussetzungen
des § 37 Abs. 2 SGB IX erfüllt, wonach in der Regel Leistungen zur beruflichen Weiterbildung nicht länger als zwei
Jahre andauern sollten, es sei denn, das Teilhabeziel könne nur über eine länger dauernde Leistung erreicht werden.
So liege der Fall hier. In der mündlichen Verhandlung hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers auf Befragen
mitgeteilt, der Kläger habe inzwischen einen Praktikumsplatz in H. gefunden. Ob und ggf. in welcher Höhe das
Praktikum bezahlt werde, sei noch unklar.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 26.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.06.2005
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 30.09.2005 hinaus für die Dauer eines Jahres
Übergangsgeld für das Anerkennungspraktikum auf der Grundlage des Bescheides vom 27.11.2003 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angegriffenen Bescheide für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der
beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der Kläger hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Gewährung von
Übergangsgeld für die Dauer seines einjährigen Anerkennungspraktikums gemäß § 20 Abs. 1 Sozialgesetzbuch
Sechstes Buch (SGB VI).
Dem Kläger wurde eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, und zwar eine Umschulung zum Arbeitserzieher,
bewilligt. Diese Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben umfasst auch das hierfür notwendige einjährige
Anerkennungspraktikum, so dass das Übergangsgeld auch für diesen Zeitraum zu gewähren ist.
Gehört zur Berufsausbildung ein Berufspraktikum, so ist die Umschulung zu diesem Beruf nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich das Gericht uneingeschränkt anschließt, erst nach dem
Praktikum beendet, selbst wenn schon während des Praktikums auf dem Arbeitsmarkt ein Verdienst erzielt werden
kann (vgl. z. B. Urteile vom 15.03.1979 – Az.: 11 RA 36/78 und 11 RA 38/78, SozR 2200 § 1236 Nrn. 15 und 16;
Urteil vom 31.01.1980 – Az.: 11 RA 8/79, SozR 2200 § 1237a Nr. 10, zitiert nach JURIS). Eine Umschulung ist im
Rahmen der beruflichen Rehabilitation erst dann beendet, wenn ein auf dem Arbeitsmarkt verwertbarer Abschluss
erreicht ist (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 15.03.1979, AZ.: 11 RA 38/78, a.a.O.). Denn die Umschulung soll die
Ausübung eines neuen Berufes ermöglichen. Sie ist daher grundsätzlich bis zur Erreichung des angestrebten
Berufszieles zu fördern. Diesem Ziel entsprechend ist die Umschulung erst dann beendet, wenn sie zu dem
Abschluss geführt hat, der für die Annahme des angestrebten Berufes auf dem Arbeitsmarkt Voraussetzung ist (BSG,
Urteil vom 15.03.1979, AZ.: 11 RA 36/78, SozR 2200 § 1236 Nr. 15). Hierbei spielt es keine Rolle, in welchem
Umfang schon während des Berufspraktikums mit oder ohne Arbeitsvertrag auf dem Arbeitsmarkt ein Verdienst erzielt
werden kann.
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Beklagte verpflichtet, auch für den Zeitraum des einjährigen
Anerkennungspraktikums dem Kläger Übergangsgeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften (§ 21 SGB VI in
Verbindung mit §§ 46 ff. SGB IX) zu gewähren. Denn bei der Ausbildung zum Arbeitserzieher ist das Berufspraktikum
zur staatlichen Anerkennung erforderlich (vgl. hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2001, Az.: L 12
AL 4181/00, zitiert nach JURIS).
Dem steht die Regelung des § 33 Abs. 5 SGB IX zur Überzeugung des Gerichts nicht entgegen. Schon nach ihrem
Wortlaut, wonach Leistungen auch für Zeiten notwendiger Praktika erbracht werden, ist der Regelung ein die
Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers einschränkender Inhalt nicht ansatzweise zu entnehmen. Soweit die
Beklagte hierzu auf die Gesetzesbegründung zu § 33 SGB IX verweist (BT-Drs. 14/5074, S. 108), belegt diese
Gesetzesbegründung, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Leistungen nach § 33 Abs. 1 SGB IX zwar auch für
Zeiten notwendiger Praktika erbracht werden sollen, dies jedoch hinsichtlich des Übergangsgeldes nach den §§ 45 ff.
SGB IX nicht für Beschäftigungszeiten im Anschluss an eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben gelten soll, die
(lediglich) der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis zur Ausübung des Berufs dienen.
Es kann offen bleiben, ob der Gesetzgeber ausweislich dieser Gesetzesbegründung mit § 33 Abs. 5 SGB IX
tatsächlich eine Einschränkung der finanziellen Förderung von Anerkennungspraktika schaffen wollte oder ob die
Gesetzesbegründung lediglich als vermeintliche Klarstellung aufzufassen ist, die allerdings nicht mit der geltenden
Gesetzeslage übereinstimmt. Die Regelung des § 33 Abs. 5 SGB IX bietet für eine derart eingeschränkte Auslegung
jedenfalls keinerlei Anhaltspunkte. Außerdem steht die Norm des § 33 Abs. 5 SGB IX gesetzessystematisch gesehen
nicht im direkten Zusammenhang mit den Regelungen über das Übergangsgeld (Kapitel 6: Unterhaltssichernde und
andere ergänzende Leistungen, §§ 44 ff. SGB IX). Die "Leistungen" im Sinne des § 33 Abs. 5 SGB IX beziehen sich
vielmehr auf die in § 33 Abs. 1 SGB IX genannten "erforderlichen Leistungen", die erbracht werden, um die
Erwerbsfähigkeit behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu
erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer
zu sichern, und auf die Leistungskataloge des § 33 Abs. 3, 6 und 7 SGB IX. Insbesondere übersieht die Beklagte
jedoch bei ihrer unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung vertretenen Rechtsauffassung, dass in unterschiedlichen
Bereichen des Sozialversicherungsrechts unterschiedliche Regelungen darüber existieren, ob auch während eines
Anerkennungspraktikums vom zuständigen Sozialversicherungsträger noch Übergangsgeld geleistet werden muss,
und die gemeinsamen Regelungen des SGB IX daher vor diesem Hintergrund unterschiedlicher rechtlicher
Ausgangslagen zu sehen sind. So definiert z.B. im Bereich des Arbeitsförderungsrechts die Regelung des § 85
Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) ausdrücklich, ebenso wie die insoweit inhaltsgleichen Vorgängerregelungen
des § 89 Abs. 2 SGB III und des § 34 Abs. 2 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz, dass Zeiten einer der beruflichen
Weiterbildung folgenden Beschäftigung, die der Erlangung der staatlichen Anerkennung oder der staatlichen Erlaubnis
zur Ausübung des Berufes dienen, nicht berufliche Weiterbildung im Sinne des SGB III sind. Im Bereich der
gesetzlichen Rentenversicherung existiert eine derartige Regelung, mit der Anerkennungspraktika von der
Weiterbildungsmaßnahme ausdrücklich ausgenommen werden und damit nicht förderungsfähig sind, jedoch nicht. Die
sich hieraus ergebende Ungleichbehandlung von durch die Bundesagentur für Arbeit Geförderten gegenüber
Versicherten, die durch den zuständigen Rentenversicherungsträger im Rahmen beruflicher Rehabilitation gefördert
werden, ist vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausdrücklich als nicht verfassungswidrig angesehen worden, da
die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen durch den Rentenversicherungsträger bereits eine andere
Ausgangsposition und Zielrichtung gegenüber derjenigen der Weiterbildungsförderung nach dem SGB III aufweist (vgl.
hierzu BVerfG, Urteil vom 19.10.1982, AZ.: 1 BvL 39/80, BVerfGE 61,138 ff., zitiert nach JURIS). Vor diesem
Hintergrund trifft die Gesetzesbegründung des § 33 Abs. 5 SGB IX zwar für den Bereich der Arbeitsförderung nach
dem SGB III zu. Für die von der gesetzlichen Rentenversicherung finanzierten Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben bleibt es aber bei der dargestellten Rechtslage, wonach Teilhabeleistungen erst mit Erreichen eines auf
dem Arbeitsmarkt verwertbaren Abschlusses beendet sind, deshalb auch Anerkennungspraktika dazu gehören und
hierfür dem Grunde nach ein Anspruch auf Übergangsgeld besteht.
Schließlich steht auch die Regelung des § 37 Abs. 2 SGB IX der Weitergewährung des Übergangsgeldes nicht
entgegen. Nach dieser Regelung sollen Leistungen zur beruflichen Weiterbildung in der Regel bei ganztägigem
Unterricht nicht länger als zwei Jahre dauern, es sei denn, dass das Teilhabeziel nur über eine länger dauernde
Leistung erreicht werden kann oder die Eingliederungsaussichten nur durch eine länger dauernde Leistung wesentlich
verbessert werden. Diese Vorschrift kann im vorliegenden Falle schon deshalb nicht greifen, weil dem Kläger dem
Grunde nach die Umschulung zum Arbeitserzieher schon bewilligt worden ist. Da die Teilhabeleistung im Falle des
Klägers auch das einjährige Anerkennungspraktikum beinhaltet, hat die Beklagte dem Kläger über den 30.09.2005
hinaus für die Dauer des Praktikums dem Grunde nach Übergangsgeld zu gewähren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.