Urteil des SozG Aurich vom 29.08.2006

SozG Aurich: aufschiebende wirkung, firma, öffentliches interesse, überwiegendes interesse, zumutbare arbeit, gemeinde, sanktion, vorstellungsgespräch, vollziehung, vollzug

Sozialgericht Aurich
Beschluss vom 29.08.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aurich S 15 AS 339/06 ER
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 01.08.2006 gegen den Bescheid der Gemeinde C. vom 13.07.2006
wird angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Sanktionsbescheid wegen
Nichtannahme einer Arbeit streitig.
Der Antragsteller steht bei der im Auftrag des Antragsgegners handelnden Gemeinde C. im Leistungsbezug SGB II.
Mit Bescheid vom 13.07.2006 sprach die Gemeinde eine Sanktion gegen den Antragsteller aus und bewilligte ihm
unter Berücksichtigung einer Leistungsabsenkung für den Monat August 2006 Leistungen in Höhe von 300,- Euro. Die
Sanktion wirkte sich dabei in Höhe von 30 % der Regelleistung aus. Zur Begründung führte die Gemeinde aus, der
Antragsteller habe ein Vorstellungsgespräch bei der Firma D. gehabt und sei ohne Angabe von Gründen zu diesem
Termin nicht erschienen. Die Firma D. habe dem Zentrum für Arbeit mitgeteilt, dass sie mehrfach versucht habe den
Antragsteller zu erreichen. Nach Zustandekommen einer Telefonverbindung hätte dieser erklärt, er habe es sich
anders überlegt und würde nur eine Arbeit annehmen, auf die er auch Lust habe. Der Antragsteller legte dagegen
Widerspruch ein und führte u.a. aus, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch habe es nie gegeben, im Übrigen
wäre er auch nicht verpflichtet einer solchen Einladung Folge zu leisten. Ein Arbeitsplatz sei ihm von der Firma D.
auch nicht angeboten worden, stattdessen habe er mehrere Wochen kostenlose Probearbeiten ableisten sollen. Eine
Entscheidung über den Widerspruch ist noch nicht erfolgt.
Mit am 11.08.2006 bei Gericht eingegangenem Antrag führt der Antragsteller aus, die von der Firma D.
wiedergegebene Äußerung, er würde nur Arbeit annehmen, auf die er Lust habe, sei frei erfunden und von ihm niemals
getätigt worden. Im Übrigen ist er der Auffassung, er müsse einer privaten Einladung – um eine solche handele es
sich bei der Firma D. – nicht Folge leisten.
Der Antragsteller beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Gemeinde C. vom 13.07.2006 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller habe sich eigenständig bei der Firma D. beworben, dann aber trotz sofortiger Verfügbarkeit einer
Stelle als Gabelstaplermonteur-Servicetechniker eine Arbeitsaufnahme abgelehnt. Von wochenlangen Probearbeiten
sei seitens der Firma D. keine Rede gewesen. Damit seien die Voraussetzungen für eine Sanktion erfüllt, da der
Antragsteller nicht alle Möglichkeiten zur Beendigung seiner Hilfebedürftigkeit ausgeschöpft habe.
Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Antragsgegners und der Gemeinde C. beigezogen.
II.
Der Antrag ist zulässig, inhaltlich ist er auch begründet.
Widerspruch und Klage gegen einen Sanktionsbescheid entfalten gemäß § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende
Wirkung, so dass das einstweilige Rechtsschutzbegehren als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu
werten und als solcher auch zulässig ist.
Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine
aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86 b Abs. 1 Ziffer 2 SGG).
Der Antrag ist schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86 b Abs. 3 SGG).
Die Entscheidung des Gerichts erfolgt nach Ermessen und aufgrund einer Interessenabwägung, wobei auch die
Erfolgsaussichten zu berücksichtigen sind. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung und das private Interesse
des belasteten Adressaten an einer Aussetzung sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist die gesetzgeberische
Grundentscheidung, dass in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG grundsätzlich eine sofortige Vollziehung stattfindet, zu
beachten. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt
Belasteten festzustellen ist (vgl. Meyer-Ladewig, Rn 12 zu § 86b SGG). Dieses Suspensivinteresse überwiegt, wenn
der Sofortvollzug eine besondere, den Regelfall des Sofortvollzuges übersteigende Härte für den Betroffenen mit sich
bringt. Ansonsten hat es bei der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts zu
verbleiben. Das Gericht kann seine Entscheidung auch allein auf eine Vorausbeurteilung der Erfolgsaussichten von
Widerspruch und Klage stützen, wenn es sich bereits ohne wesentliche verbleibende Zweifel von der Rechtmäßigkeit
des Verwaltungsaktes zu überzeugen vermag. Bestehen demgegenüber durchgehende Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des zu vollziehenden Verwaltungsaktes oder stellt er sich bereits mit Gewissheit als rechtswidrig dar, so überwiegt
regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Betroffenen, da kein öffentliches Interesse am Vollzug rechtswidriger
Verwaltungsakte besteht.
Vorliegend bestehen erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Sanktionsmaßnahme, da keine
ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung erfolgt ist.
Das Arbeitslosengeld II wird unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 30 v. H. der für den
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn dieser sich trotz Belehrung
über die Rechtsfolgen weigert eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen oder
fortzuführen, es sei denn, er weist einen wichtigen Grund für sein Verhalten nach (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 c und Satz
2 in der bis zum 31.07.2006 gültigen Fassung).
Absenkung und Kürzung setzen stets eine Rechtsfolgenbelehrung voraus, die Warn- und Erziehungsfunktion hat. Sie
darf sich nicht in einer bloßen Formalie oder formelhaften Widerholung des Gesetzestext in einem allgemeinen
Merkblatt erschöpfen, sondern muss konkret, eindeutig, verständlich, verbindlich und rechtlich zutreffend die
unmittelbaren und konkreten Auswirkungen eines bestimmten Handelns vor Augen führen und im engen sachlichen
und zeitlichen Zusammenhang mit der Obliegenheitsverletzung stehen (vgl. Berlit in Lehr- und Praxiskommentar zum
SGB II, Rn 61 ff zu § 31 sowie Valgolio in Hauck/Noffz, Kommentar zum SGB II, Rn 36, 37 zu § 31, jeweils unter
Hinweis auf die BSG-Rechtsprechung zum SGB III).
Der Antragsteller ist am 08.06.2005, also etwa ein Jahr vor den Gesprächen mit der Firma D. mittels eines
allgemeinen Merkblatts, das lediglich den Gesetzeswortlaut wiederholt, überblickartig über seine Pflichten und
Obliegenheiten informiert worden. Eine weitere Belehrung im unmittelbaren Zusammenhang mit den Gesprächen bei
der Firma D. hat es – wie der Antragsgegner einräumt – nicht gegeben, obwohl die Gemeinde C. bzw. das Zentrum für
Arbeit des Antragsgegners ausweislich der in der Verwaltungsakte enthaltenen Übersicht ständigen Kontakt zum
Antragsteller hatte und auch über die Gespräche bei der Firma D. informiert war. Zwar ist es im Rahmen des SGB II –
anders als im SGB III – für den Eintritt einer Sanktion nicht erforderlich, dass es sich um ein Arbeitsangebot des
Leistungsträgers handeln muss, damit eine Sanktion für ein die Obliegenheit zur Arbeitssuche verletzendes Verhalten
erfolgen kann. Um so wichtiger ist es, dass der Betroffene unter konkreter Bezugnahme auf anstehende Gespräche
und in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit in der oben näher ausgeführten Weise über die ggf.
eintretenden Rechtsfolgen bei Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsvertrages informiert wird. Eine lediglich allgemeine,
formelhafte Belehrung 11 Monate zuvor reicht dafür keinesfalls aus. Die Notwendigkeit einer konkreten und
individuellen Unterrichtung wird gerade im Falle des Antragstellers deutlich, da dieser sich darauf beruft, nach seiner
Einschätzung sei es seine Privatsache, ob er der Einladung einer Firma zu einem Vorstellungsgespräch folgt oder
nicht. Die Unrichtigkeit dieser Wertung hätte ihm im Rahmen einer individuellen Belehrung dargelegt und erläutert
werden können und nach dem Wortlaut des Gesetzes auch müssen.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs war daher anzuordnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.