Urteil des SozG Augsburg vom 20.04.2005

SozG Augsburg: versorgung, sozialstaatsprinzip, begriff, pauschalabzug, einkünfte, gesellschaft, einkommensgrenze, sozialpolitik, familie, diskriminierung

Sozialgericht Augsburg
Urteil vom 20.04.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 10 EG 56/04
Bayerisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 10 EG 4/05 R
I. Die Klage wird abgewiesen. II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. III. Die Sprungrevision wird wegen
grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Tatbestand:
Die am 1982 geborene Klägerin wendet sich gegen die Höhe des Erziehungsgeldes nach § 6 Abs. 1 des
Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG).
Der Sohn N. ist am 2004 geboren. Der Ehegatte der Klägerin ist bei der Firma S. in F. beschäftigt.
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung Augsburg vom 12.07.2004
hat der Beklagte in Berücksichtigung des aktenkundigen Einkommens des Ehegattens der Klägerin in Höhe von
32.329,00 EUR ab dem siebten Lebensmonat des Sohnes N. monatlich 85,00 EUR bewilligt.
Im Einzelnen: Von dem Bruttoarbeitslohn in Höhe von 32.329,00 EUR sind an Werbungskosten 1.044,00 EUR in
Abzug gebracht worden. Von den positiven Einkünften in Höhe von 31.285,00 EUR sind pauschal (24 %) 7.508,40
EUR abgezogen worden. Das zu berücksichtigende Einkommen ist mit 23.776,60 EUR ausgewiesen. Die
Einkommensgrenze einschließlich der Erhöhung für ein weiteres Kind beträgt 19.640,00 EUR. Damit wird die
Einkommensgrenze um 4.136,00 EUR überschritten. Auf den Regelbetrag in Höhe von 300,00 EUR sind 5,2 % von
4.136,00 EUR = monatlich 215,00 EUR anzurechnen. Somit ergibt sich der vorstehend erwähnte monatliche Betrag
von 85,00 EUR an Erziehungsgeld.
Die Klägerin hat mit Widerspruch vom 06.08.2004 auf die hohen Lebenshaltungskosten in einem Kurort hingewiesen.
Außerdem seien weitere Kosten für den Besuch des Kindergartens des älteren Kindes ab 01.09.2004 absehbar.
Der Widerspruch vom 06.08.2004 gegen den Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung Augsburg
vom 12.07.2004 ist mit Widerspruchsbescheid des Bayer. Landesamtes für Versorgung und Familienförderung vom
16.09.2004 zurückgewiesen worden. Das BErzGG sei für ab dem 01.01.2004 geborene Kinder geändert worden.
Danach richte sich der Anspruch auf Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr des Kindes nach den Vorschriften des
BEzrGG in der Fassung vom 17.02.2004. Die Berechnung des bewilligten Erziehungsgeldes beruhe auf §§ 5 und 6
BErzGG n. F ... Erziehungsgeld stehe ab dem siebten Lebensmonat aufgrund der Höhe des anzurechnenden
Einkommens leider nur mehr in Höhe von monatlich 85,00 EUR zu.
Die hiergegen gerichtete Klageschrift vom 07.10.2004 ging am 14.10.2004 im Sozialgericht Augsburg ein.
Nach Beiziehung der Akten des Beklagten machte das Sozialgericht Augsburg die Klägerin mit Nachricht vom
10.11.2004 darauf aufmerksam, dass nach Aktenlage die von dem Beklagten getroffene Entscheidung nicht zu
beanstanden sei. Das Einkommen von 32.329,00 EUR brutto im Jahr 2003 sei ebenso zutreffend angesetzt worden
wie der Werbungskosten-Pauschbetrag in Höhe von 1.044,00 EUR. Außerdem sei das am 2001 geborene Kind M.
berücksichtigt worden.
Mit Klagebegründung vom 27.11.2004 legte die Klägerin eine konkrete Berechnung unter Berücksichtigung der
tatsächlichen Lohn- und Kirchensteuer sowie des Arbeitnehmer-Anteiles am Gesamtversicherungsbeitrag vor. Danach
ergab sich ein monatlich zu zahlendes Erziehungsgeld für den Sohn N. in Höhe von 201,10 EUR.
In der mündlichen Verhandlung vom 20.04.2005 in Immenstadt wenden sich die Klägerin und ihre Bevollmächtigte
ausschließlich gegen den Pauschalabzug von nunmehr 24 % antelle früher 27 %. - Die Bevollmächtigte der Klägerin
hält dies für verfassungswidrig, weil sich der Gesetzgeber damit "gegenläufig" zu den gesellschaftlichen
Notwendigkeiten verhält. Familien seien zu fördern, nicht jedoch weiter zu benachteiligen.
Die Bevollmächtigte der Klägerin stellt mit deren Einvernehmen den Antrag, den Bescheid vom 12.07.2004 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 16.09.2004 aufzuheben und der Klägerin ab dem siebten Lebensmonat des Sohnes
N. Leistungen nach dem BErzGG in verfassungskonformer Höhe zu bewilligen. - Weiterhin wird beantragt, die
Sprungrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.
Der Beklagte hat bereits mit Schriftsatz vom 04.11.2004 beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten und den der beigezogenen Unterlagen des Beklagten
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Augsburg form- und fristgerecht erhobene Klage ist gemäß §§
51 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist
gemäß § 13 Abs. 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) eröffnet.
Die Klage erweist sich jedoch als unbegründet. Der Beklagte hat das der Klägerin zustehende Erziehungsgeld in Höhe
von monatlich 85,00 EUR ab dem siebten Lebensmonat des Sohnes N. gemäß §§ 5 und 6 BErzGG n. F. zutreffend
berechnet.
Im Einzelnen: Das BErzGG bestimmt nunmehr in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.02.2004 (BGBl. I, S. 206
ff in § 6 Abs. 1 BErzGG n. F.: "Als Einkommen gilt die nicht um Verluste in einzelnen Einkommensarten zu
vermindernde Summe der positiven Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes
abzüglich 24 v. H., bei Personen im Sinne des § 10 c Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes abzüglich 19 v. H. und
der Entgeltersatzleistungen, gemindert um folgende Beträge: ..."
Nach § 6 Abs. 1 BErzGG a. F. sind in der Regel von der Summe der positiven Einkünfte 27 % pauschal abgezogen
worden. Wenn Arbeitnehmereinkünfte im Sinn von § 10 c Abs. 3 EStG erzielt worden sind, sind nur 22 % abgezogen
worden (vgl. Grüner-Dalichau, Randziffer 6.3.1 zu § 6 BErzGG).
Die von der Klägerin vorgenommene konkrete Berechnung mit Klagebegründung vom 27.11.2004 kommt im Ergebnis
§ 6 Abs. 1 BErzGG a. F. wesentlich näher als § 6 Abs. 1 BErzGG in der nunmehr gültigen Fassung.
Sowohl der Beklagte als Teil der vollziehenden (zweiten) Staatsgewalt als auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
als Teil der (dritten) rechtsprechenden Gewalt sind an die Vorgaben des Gesetzes in der jeweils gültigen Fassung
gebunden. - Die Klage ist daher abzuweisen gewesen. - Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) ist nicht erforderlich gewesen, weil das Gericht § 6 Abs. 1
BErzGG n. F. nicht für verfassungswidrig hält.
Tangiert ist zum einen das in Art. 20 Abs. 1 GG normierte "Sozialstaatsprinzip". Zu unterscheiden ist der politische
Begriff des Sozialstaates und der verfassungsrechtliche Begriff des Sozialstaates (Herzog in Maunz-Dürig, Kapitel
VIII, Randziffer 25 zu Art. 20 GG). Auch unter der Geltung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips ist
Sozialpolitik zunächst und vor allem Sache der politischen (legislativen) Ermessensentscheidung. Von besonderer
Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die insbesondere vom BVerfG und vom Bundessozialgericht (BSG)
entwickelte These, dass das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG keine geeignete Grundlage für die Ableitung
konkreter, einklagbarer Rechtsansprüche darstellt (Herzog aaO mit weiteren Nachweisen).
Als Zwischenergebnis ist daher festzustellen, dass § 6 Abs. 1 BErzGG n. F. und der dort vorgesehene
Pauschalabzug von nunmehr 24 % in Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 GG nicht verfassungswidrig ist.
Berührt ist weiterhin Art. 6 Abs. 1 GG. Danach stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen
Ordnung. - Das "Wächteramt" der staatlichen Gemeinschaft (vgl. Badura in Maunz-Dürig, Randziffer 139 ff zu Art. 6
GG) ordnet die Befugnisse des Gesetzgebers in erster Linie in die Familienrechte- sorge ein. - Weit schwieriger als im
leiblichen und seelischen Bereich des Kindes wird die Verwirklichung des "Gleichwertigkeitsgrundsatzes" für den
Gesetzgeber, wenn es sich um die Beseitigung der sozialen Diskriminierung, also um die Schaffung der gleichen
Bedingungen für die "Stellung in der Gesellschaft" handelt. Hier kann der Gesetzgeber zwar einiges, aber nicht alles
leisten, da es auch auf die nicht normierbaren Auffassungen in der Gesellschaft ankommt (Badura aaO).
In diese Richtung zielen die Ausführungen der Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom
20.04.2005 in Immenstadt, wenn sie rügt, dass sich der Gesetzgeber hier "gegenläufig" verhalten hat. Familien
müssten weiter gefördert, nicht jedoch benachteiligt werden.
Das erkennende Gericht teilt die Auffassung, dass § 6 Abs. 1 BErzGG n. F. unter diesem Gesichtspunkt
verfassungsrechtlich bedenklich ist. Hieraus lässt sich jedoch nicht zwingend eine Verfassungswidrigkeit in Hinblick
auf Art. 6 Abs. 1 GG ableiten.
Die Angelegenheit hat jedoch grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 und § 161 Abs. 2 SGG. Die
Sprungrevision ist daher zuzulassen gewesen. Denn eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hat
ergeben, dass der Wunsch nach Kindern immer schwächer wird. Während 1992 Familien in der Regel noch zwei
Kinder wollten, ist der Durchschnittswert auf 1,74 (Frauen) bzw. 1,57 (Männer) gefallen. Nicht nur Spitzenpolitiker
finden diesen Trend "beunruhigend" (vgl. Friedberger Allgemeine vom 03.05.2005 auf Seite 1). - Die Rügen der
Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 20.04.2005 in Immenstadt betreffen somit ein
gravierendes gesellschaftliches Problem, das aber mit Hilfe der Sozialgerichtsbarkeit als Teil der (dritten)
rechtsprechenden Staatsgewalt nicht lösbar erscheint.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.