Urteil des SozG Augsburg vom 22.08.2006

SozG Augsburg: vergleichbare leistung, rehabilitation, sozialhilfe, vertreter, regierung, form, geeignetheit, gesellschaft, heilmittel, ergotherapie

Sozialgericht Augsburg
Urteil vom 22.08.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Augsburg S 15 SO 99/05
Bayerisches Landessozialgericht L 8 SO 81/06
I. Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von
Schwaben vom 28. September 2005 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger durch Übernahme der
Kosten für die konduktive Förderung nach Petö in den Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August
2005 Sozialhilfe zu gewähren. II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu
erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Sozialhilfe in Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem
Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuches - Zwölftes Buch (SGB XII).
Der am 1998 geborene Kläger, der seit dem Schuljahr 2004/2005 eine Montessori-Schule besucht, beantragte am 9.
Mai 2005 durch seine gesetzlichen Vertreter bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Petö-Therapie, die
er im Zeitraum vom 16. bis 27. Mai sowie vom 1. bis 19. August 2005 im konduktiven Förderzentrum FortSchritt in N.
in Anspruch genommen hat. Er leidet an einer durch spastische Tetraparese verursachten allgemeinen
Entwicklungsverzögerung. Er hat deswegen schon in früheren Zeiträumen von dem Beklagten Sozialhilfeleistungen
bezogen und gehört unstrittig zu den körperlich wesentlich behinderten Menschen im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1
SGB XII und § 1 Nr. 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung.
Mit Bescheid vom 10. Mai 2005 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen
ausgeführt, durch die Rechtsprechung sei geklärt, dass die konduktive Förderung nach Petö zu den Heilmitteln im
Sinne von § 32 des Sozialgesetzbuches - Fünftes Buch (SGB V) zähle (BSG vom 03.09.2003 - B 1 KR 34/01 R -
SozR 4-2500 § 18 Nr. 1 = RegNr 26463 (BSG-Intern) = Breith 2004, 407) und deshalb dem Grunde nach zum
Leistungsumfang der Krankenkassen gehöre (BayVGH vom 25.11.2004 - 12 CE 04.2263 - ZFSH/SGB 2005, 168 =
FEVS 56, 282). Damit scheide die Therapie jedoch als Leistung der Eingliederungshilfe, namentlich der medizinischen
Rehabilitation im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 26 SGB IX aus. Da es sich um eine Leistung nach dem
Vierten Kapitel des SGB IX handle, sei es zugleich ausgeschlossen, sie alternativ als Leistung zur Teilhabe am
Leben in der Gemeinschaft nach dem im Siebten Kapitel des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) stehenden
§ 55 anzusehen.
Hiergegen legte der Kläger durch seine gesetzlichen Vertreter am 2. Juni 2005 Widerspruch ein. Zur Begründung
wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger habe während des Therapieabschnitts vom 16. bis 27. Mai 2005
erhebliche Entwicklungsfortschritte wie jeweils selbständiges Auf-dem-Stuhl-Sitzen, An- und Ausziehen, Stehen an
einer Haltemöglichkeit usw. gemacht. Hierbei handle es sich zweifellos um Fähigkeiten, die zur Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft unbedingt notwendig seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. September 2005 wies die Regierung von Schwaben den Widerspruch zurück. Zur
Begründung wurde in Ergänzung der Begründung des Beklagten im Wesentlichen ausgeführt, an der vom Beklagten
dargestellten Rechtslage ändere sich auch dadurch nichts, dass Kassenärzte die Petö-Therapie nicht verordnen
könnten, nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss ihren therapeutischen Nutzen nicht anerkannt und nicht in den
Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 des Sozialgesetzbuches - Fünftes Buch (SGB V) Empfehlungen für die
Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben habe. Denn die Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprächen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).
Am 12. Oktober 2005 erhob der Kläger durch seine gesetzlichen Vertreter bei dem Sozialgericht Augsburg Klage mit
dem Antrag,
den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von
Schwaben vom 28. September 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verur teilen, ihm durch Übernahme der Kosten
für die konduktive Förderung nach Petö in den Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August 2005
Sozialhilfe zu gewähren.
Zur Begründung wurde auf das Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen.
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug
genommen (§ 136 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. August 2006 entschieden werden, obwohl außer
einem Vertreter des Beklagten keiner der Beteiligten erschienen ist. Denn in der form- und fristgerecht erfolgten
Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass sogar nach Lage der Akten entschieden werden
kann, wenn in einem Termin keiner der Beteiligten erscheint oder beim Ausbleiben von Beteiligten die erschienenen
Beteiligten es beantragen (§ 110 Abs. 1 Satz 2, § 126 SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von
Schwaben vom 28. September 2005 ist rechtswidrig. Dem Kläger steht für die konduktive Förderung nach Petö in den
Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August 2005 Sozialhilfe durch Übernahme der Kosten für diesen
Eingliederungsbedarf zu.
Nach § 54 Abs. 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe u.a. die Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55
des SGB IX. Nach § 55 Abs. 1 SGB IX werden als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die
Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder
sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 (Leistungen zur
medizinischen Rehabilitation) bis 6 (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und andere
ergänzende Leistungen) nicht erbracht werden. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55
Abs. 1 SGB IX sind daher grundsätzlich gegenüber den Leistungen nach den Kapiteln 4 bis 6 nachrangig (Schütze in
Hauck/Noftz, SGB IX, K 55, Rdnr. 20). Indem die Vorrangregelung daran anknüpft, dass die vergleichbare Leistung
nach den Kapiteln 4 bis 6 "erbracht" wird, werden Ansprüche nach § 55 SGB IX aber nicht schon dann verdrängt,
wenn vergleichbare Leistungen von einem anderen Träger beansprucht werden können. Auf den Nachrang kann sich
ein nach § 55 SGB IX verpflichteter Rehabilitationsträger vielmehr nur dann berufen, wenn der Anspruchsteller die
begehrte Leistung von einem anderen, nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB IX vorrangig leistungsverpflichteten Träger
tatsächlich erhält. Ob der andere Träger die Leistung mit Grund oder rechtsgrundlos verweigert, ist ohne Bedeutung
(Schütze, a.a.O., Rdnr. 21). Da im vorliegenden Fall Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 26
SGB IX nach der bereits zitierten Rechtsprechung des BSG und des BayVGH nicht zu erbringen sind, folgt daraus,
dass nach § 55 SGB IX ein Anspruch auf eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in Betracht
kommt.
Der gegenteiligen Auffassung des BayVGH in der Entscheidung vom 25. November 2004 (a.a.O.), wonach die
begehrte Therapie auch nicht als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8
BSHG, § 55 SGB IX oder als im Leistungskatalog des § 40 Abs. 1 BSHG nicht benannte, ergänzende Hilfe gewährt
werden könne, weil andernfalls die gesetzliche Begrenzung medizinischer Leistungen in § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG
(jetzt: § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) umgangen würde, kann nicht gefolgt werden. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bezieht
sich nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich auf die in § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Fälle des § 26
SGB IX (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach Kapitel 4) und des § 33 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe
am Arbeitsleben nach Kapitel 5), lässt aber den Fall des § 55 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft nach Kapitel 7) unerwähnt. Daraus folgt, dass dann, wenn eine Leistung nach dem Kapitel 7 in Betracht
kommt, die nach dem Kapitel 4 ausscheidet, weil es sich bei ihr um keine Kassenleistung handelt, keine Umgehung
der gesetzlichen Begrenzung medizinischer Leistungen stattfindet.
Da der Kläger bereits seit September 2004 eingeschult ist, kann er nicht nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX Leistungen
im Sinne von § 55 Abs. 1 SGB IX erhalten. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX kommen als Leistungen jedoch Hilfen
zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten in Betracht, die erforderlich und geeignet sind, behinderten
Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Von dieser auf § 15
EingliederungshilfeVO F. 1975 zurückgehenden Katalogleistung sind alle Unterrichtungen und Unterweisungen erfasst,
die dem Behinderten im Rahmen des für ihn Möglichen Selbständigkeit in Verrichtungen und Begegnungen des
täglichen Lebens erlauben. Die Leistungen sind daher auf eine Milderung von Pflegebedürftigkeit ausgerichtet und
beschränken sich nach der das Leben in der Gesellschaft übergreifenden Aufgabenstellung des Lebens in der
"Gemeinschaft" nicht auf das für gesellschaftliche Begegnungen Erforderliche, sondern erstrecken sich auch auf die
personale Seite der mit § 55 SGB IX verfolgten Ziele im Sinne von § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Fall 2 SGB IX (Schütze,
a.a.O., § 55, Rdnr. 25). Diese Voraussetzungen sieht die Kammer im vorliegenden Fall als erfüllt an.
Die Erforderlichkeit ergibt sich aus dem Vorbringen der Eltern des Klägers, dass dessen Teilnahme an zwei oder
mehreren mehrwöchigen Intensivkursen, in denen bei ihm die Petö-Methode angewandt worden sei, zu jeweils
selbständigem Auf-dem-Stuhl-Sitzen, An- und Ausziehen, Stehen an einer Haltemöglichkeit usw. geführt hätten. Der
Kläger wies daher offenbar noch im Sommer 2005 Entwicklungsdefizite gegenüber Gleichaltrigen auf, die der
Behebung bedurften.
Auch die Geeignetheit sieht die Kammer als nachgewiesen an. Die Beschlussbegründung über eine Änderung der
Richtlinien über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinien) vom 21.
Dezember 2004 (www.g-ba.de/ cms/upload/pdf/abs5/beschluesse/2004-12-21-Petoe-Begruendung. pdf) führt insoweit
aus, die Konduktive Förderung nach Petö sei ein multimodaler Interventionsansatz mit Elementen der Pädagogik,
Physikalischen Therapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, Ergotherapie und sozialer Anleitung. Sie diene der
Behandlung von Personen mit cerebralen Bewegungsstörungen, insbesondere der infantilen Zerebralparese. Aus den
wissenschaftlichen Unterlagen ergäben sich zwar Hinweise auf positive Wirkungen einer Konduktiven Förderung nach
Petö bei Kindern mit einer infantilen Zerebralparese. Mangels methodisch sauberer Vergleichsuntersuchungen sei
jedoch kein valider Nachweis des therapeutischen Nutzens hinsichtlich medizinisch relevanter Parameter der
konduktiven Förderung nach Petö im Vergleich zu anderen bereits etablierten medizinischen Behandlungsmethoden
(u.a. Heilmittel aus dem Bereich der physikalischen Therapie, der Ergotherapie und der Stimm-, Sprech- und
Sprachtherapie) möglich. Die Intervention Konduktive Förderung nach Petö habe, unabhängig davon, in welcher Form
(Art und Umfang) sie erfolgte, in den Studien für die Indikation Infantile Zerebralparese (Tetraparese-, Di- oder
Hemiplegie) keine Überlegenheit gegenüber den jeweiligen Vergleichsinterventionen gezeigt.
Nach Auffassung des Gerichts reichen die bescheinigten "Hinweise auf positive Wirkungen einer Konduktiven
Förderung nach Petö bei Kindern mit einer infantilen Zerebralparese" aus, um die Geeignetheit im Sinne des § 55 Abs.
2 Nr. 3 SGB IX zu begründen. Eine Überlegenheit gegenüber den anderen bereits etablierten medizinischen
Behandlungsmethoden, wie sie für die Anerkennung als Kassenleistung Voraussetzung zu sein scheint, ist hier nicht
erforderlich. Das entspricht auch der früheren - und durch die Entscheidung des BSG vom 3. September 2003
keineswegs überholten - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Danach ist die Beurteilung der Eignung
heilpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG
i.V.m. § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO F. 1975) nicht - wie die Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen für Kinder
im Vorschulalter (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG i.V.m. § 11 Satz 1 EingliederungshilfeVO F. 1975) - an den Maßstab der
allgemeinen ärztlichen oder sonstigen fachlichen Erkenntnis gebunden gewesen (BVerwG vom 30.05.2002 - 5 C 36.01
- NDV-RD 2002, 79 = FEVS 53, 499 = Buchholz 436.01 § 12 EingliederungshilfeVO Nr. 1 = NVwZ-RR 2003, 43 =
DVBl 2003, 148). Dieser Maßstab der allgemeinen ärztlichen oder sonstigen fachlichen Erkenntnis gilt nicht mehr.
Nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX genügt ebenfalls die Geeignetheit und Erforderlichkeit, die hier gewährleistet ist.
Der Klage war daher mit der nach § 193 Abs. 1 SGG auszusprechenden Kostenfolge, dass es nach dem
Verfahrensergebnis geboten ist, dem Beklagten die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers
aufzuerlegen, stattzugeben.