Urteil des SozG Aachen vom 16.11.2005
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Sozialgericht Aachen, S 11 AS 70/05
Datum:
16.11.2005
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AS 70/05
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 14.06.2005 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2005 verurteilt,
Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen
Aufwendungen seit dem 01.07.2005 zu erbringen. Der Beklagte hat die
Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung (LdU).
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Die am 00.00.1965 geborene Klägerin bewohnt mit ihren beiden Kindern (geb.
00.00.1991 und 00.00.1994) eine Wohnung mit 86 qm Wohnfläche in K, bestehend aus
4 Zimmern, Küche und Bad in einem am 01.01.1966 bezugsfertigen Haus. Der Mietzins
beläuft sich auf 286,92 Euro monatlich, die Nebenkosten auf 165.- Euro monatlich und
die Heizkosten auf 60.- Euro monatlich (ergibt eine monatliche Gesamtmiete iHv 511,92
Euro). Die Klägerin erzielt Nebeneinkommen als Beschäftigte der Stadt K ("Zweitkraft im
Kindergarten C").
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Auf ihren Antrag vom 13.09.2004 erhielten die Klägerin und ihre Kindern Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen
Alleinerziehung sowie der LdU in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen. Mit Schreiben
vom 22.02.2005 teilte der Beklagte mit, die tatsächlichen Aufwendungen seien
unangemessen. Angemessen sei vielmehr (unter Zugrundelegung der Tabelle nach § 8
des Wohngeldgesetzes - WoGG) nur eine Gesamtmiete iHv 390.- Euro monatlich. Die
Klägerin solle sich intensiv um eine angemessene Ausweichwohnung bemühen und
entsprechende Bemühungen dokumentieren. IÜ sei beabsichtigt, die LdU ab dem
01.07.2005 nur noch in angemessener Höhe zu erbringen.
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Auf den Fortzahlungsantrag vom 07.06.2005 hin erbrachte der Beklagte mit Bescheid
vom 14.06.2005 für die Zeit vom 01.07. bis 31.12.2005 Leistungen unter
Berücksichtigung von LdU nur mehr iHv 450.- Euro (390.- Euro für die Unterkunft; 60.-
Euro Heizkosten). Die Klägerin erhob am 06.07.2005 Widerspruch und führte zur
Begründung aus, es habe keine Anhörung stattgefunden. Auch lasse die Entscheidung
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des Beklagten nicht erkennen, ob dieser die Ausstatttung der Wohnung und die
Entfernung zu Schulen und Kindergärten berücksichtigt habe. Schließlich müssten die
Nebenkosten voll übernommen werden, da der Hilfebedürftige auf deren Höhe keinen
Einfluss habe.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 15.08.2005 mit der Begründung
zurück, die Klägerin habe keine Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eines
Wohnungswechsels dargetan. Insbesondere sei nicht erkennbar, dass sie im gesamten
Gebiet des Landkreises E keine kostengünstigere Unterkunft finden könne, von der
Schulen und Kindergärten nicht ebenso gut erreichbar seien. Die Rüge einer
unterlassenen Anhörung greife angesichts des Schreibens vom 22.02.2005 nicht.
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Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.
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Die Klägerin verweist auf den Mietspiegel für nicht öffentlich geförderte Wohnungen im
Stadtgebiet K (Stand 02.11.2004). Der für ihre Wohnung einschlägige Mietzins von 3,34
Euro/qm liege weit unter dem örtlichen Niveau. Auch könne ihre Wohnung schon
deswegen nicht unangemessen sein, weil sie öffentlich gefördert sei.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 14.06.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.08.2005 zu verurteilen, die Leistungen für Unterkunft
und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen seit dem 01.07.2005 zu
erbringen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verweist auf die Richtwerte für angemessene Wohnungsgrößen auf dem Gebiet des
Wohnungsbindungsrechts, wonach für 3 Personen eine Wohnfläche von 75 qm als
angemessen anzusehen sei. Im Fall der Klägerin sei dieser Richtwert um 11 qm, und
somit nicht nur geringfügig, überschritten. IÜ sei die Tabelle nach § 8 WoGG zur
Ermittlung der Angemessenheit auch der LdU heranzuziehen, da sie nach Anzahl der
Bewohner, Bezugsfertigkeit des Wohnraums und Mietstufe der Gemeinde differenziere.
Schließlich ergebe sich aus einer Stellungnahme des Amtes für Bauordnung und
Wohnwesen über die im Jahr 2005 bisher ausgesprochenen Freistellungen von den
wohnungsbindungsrechtlichen Zweckbestimmungen, dass es im Landkreis E in
hinreichender Zahl freie Wohnungen gebe, deren Kosten angemessen seien.
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Das Gericht hat eine telefonische Auskunft der Stadtverwaltung K eingeholt, wonach der
von der Klägerin vorgelegte Mietspiegel ein qualifizierter Mietspiegel iSd § 558 d des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in derzeit aktueller Fassung ist.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte nebst Sozialhilfeakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da die
Klägerin Anspruch auf LdU in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen hat.
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Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für
Arbeitsuchende (SGB II) werden LdU in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen
erbracht, soweit sie angemessen sind. Die Aufwendungen, die die Klägerin für
Unterkunft und Heizung machen muss, sind angemessen iSd § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
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Solange das zuständige Ministerium von der in § 27 Nr. 1 SGB II enthaltenen
Ermächtigung, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, welche Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung angemessen sind, keinen Gebrauch gemacht hat, ist die
Angemessenheit dieser Aufwendungen nach den in Rechtsprechung und Literatur
entwickelten Kriterien zu bestimmen. Maßgebliches Kriterium für die Angemessenheit
der Unterkunftskosten (ausführlich Putz, info also 2004, 198 ff) ist zunächst die sog.
abstrakte Angemessenheit (ausführlich Grube, in: Grube/Wahrendorff SGB XII, 2005, §
29 Rn 21 ff), für die es auf die Wohnfläche ankommt, wobei die Werte in den
landesrechtlichen Verordnungen zu § 5 Abs 2 des Gesetzes zur Sicherung der
Zweckbestimmungen von Sozialwohnungen (Wohnungsbindungsgesetz - WoBindG)
analog anwendbar sind (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2005, L 19 B
21/05 AS ER; OVG Nordrhein-Westfalen, info also 1998, 135, 136; BVerwG, NVwZ
1995, 1104). Weiter sind Wohnstandard (insbesondere Lage und Ausstattung) und
örtliches Preisniveau von Bedeutung. Auf dieser Grundlage ist die tatsächliche
Preisspanne des unteren Marktsegments am Wohnort des Hilfebedürftigen zu ermitteln
(LSG Nordrhein-Westfalen, aaO).
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Die Wohnfläche der von der Klägerin und ihren Kindern bewohnten Wohnung (86 qm, 4
Zimmer) entspricht den Richtwerten aus dem Wohnungsbindungsrecht.
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Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass das Wohnungsbindungsrecht grundsätzlich für
3 Personen eine Wohnfläche von 75 qm vorsieht (Übersicht bei Lang, in:
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 22, Rn 43). Entsprechend bestimmt Nr. 5.71 Satz 1
Buchstabe c der nordrhein-westfälischen Verwaltungsvorschrift zum
Wohnungsbindungsgesetz (VV-WoBindG NW) in der Fassung des Runderlasses des
Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport vom 08.03.2002
(Ministerialblatt Nordrhein-Westfalen vom 10.05.2002 Nr. 23), dass für einen Haushalt
mit drei haushaltsangehörigen Personen in der Regel von einer Wohnungsgröße von 3
Wohnräumen oder 75 qm Wohnfläche auszugehen ist.
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Jedoch führt die Ankoppelung des Begriffs der Angemessenheit iSd § 22 Abs. 1 Satz 1
SGB II an die im Wohnungsbindungsrecht für angemessen erachteten Wohnflächen
auch dazu, dass der Leistungsträger nicht allein auf die dortigen tabellarischen Werte
zurückzugreifen hat, sondern auch Ausnahmetatbestände dieses Rechtsgebietes zu
berücksichtigten hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Wohnungsbindungsrecht
solchen besonderen sozialen Situationen Rechnung trägt, die auch das Recht der
Grundsicherung für Arbeitsuchende als berücksichtigungsfähig anerkennt. Ein solcher
Fall ist insbesondere der (in § 21 Abs. 3 SGB II dem Grunde nach als
berücksichtigungsfähig anerkannte) Mehrbedarf wegen Alleinerziehung, dem auf dem
Gebiet des Wohnungsbindungsrechts Nr. 5.72 VV-WoBindG NW Rechnung trägt.
Hiernach ist ein zusätzlicher Raum oder eine zusätzliche Wohnfläche von 15 qm wegen
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besonderer persönlicher oder beruflicher Bedürfnisse zB Alleinerziehenden mit Kindern
ab dem vollendetem 6. Lebensjahr zuzubilligen. Dass die Klägerin alleinerziehend ist,
ist zwischen den Beteiligten nicht streitig; der Beklagte hat in seinen
Leistungsberechnungen einen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs. 3
SGB II anerkannt. Die beiden Kinder der Klägerin waren am 01.07.2005 11 und 13
Jahre alt. Dieser Ausnahmetatbestand, der nach dem Wohnungsbindungsrecht ein
Abweichen von der Tabelle in Nr. 5.71 VV-WoBindG NW rechtfertigt, muss nach
Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall deswegen zur Anwendung kommen, weil
sich die Wohnsituation eines alleinerziehenden Erwachsenen mit 2 Kindern anders
darstellt als die eines Ehepaares mit einem Kind: Während letztere die 3 nach der
Tabelle in Nr. 5.71 VV-WoBindG NW vorgesehenen Räume als jeweils ein Wohn-,
Schlaf- und Kinderzimmer nutzen können, müßte ein alleinerziehender Erwachsener mit
2 Kindern entweder beide Kinder in einem Zimmer unterbringen oder aber auf das
Wohnzimmer verzichten.
Es kommt hinzu, dass eine Unterkunft nicht allein schon deswegen unangemessen ist,
weil sie größer ist als der Referenzwert aus dem Wohnungsbindungsrecht. Die Kammer
schließt sich der sog. Produkttheorie (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, aaO mwN; zum
Streitstand auch Berlit, in: LPK-SGB II, 2005, § 22 Rn 32 f) an, wonach es im Ergebnis
für den Hilfsbedürftigen unschädlich ist, wenn sich einzelne Faktoren (wie etwa die
Wohnfläche) isoliert betrachtet als unangemessen darstellen, solange nur das
Endergebnis, dh die Kosten, nicht unangemessen sind. Hierfür spricht die Intention des
SGB II, die Eigenverantwortung des Hilfebedürftigen zu stärken (§ 1 Abs 1 S 1 SGB II).
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Zur Bestimmung des angemessenen Miezinses ist sodann der örtliche Mietspiegel
heranzuziehen.
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Während sich der Beklagte bei der Bestimmung der Angemessenheit ausdrücklich auf
die Werte der Tabelle nach § 8 WoGG bezieht, erachtet die Kammer jedenfalls einen
qualifizierten Mietspiegel iSd § 558 d BGB für grundsätzlich besser geeignet (gegen die
Anwendung der Tabelle nach § 8 WoGG auch BVerwG, NJW 2005, 310 f mwN). Nach §
558 c Abs. 1 Satz 1 BGB ist ein Mietspiegel eine Übersicht über die ortsüblichen
Vergleichsmiete, soweit die Übersicht von der Gemeinde oder von Interessenvertretern
der Vermieter und der Mieter gemeinsam erstellt oder anerkannt worden ist. Ein
Mietspiegel, der nach anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen erstellt und von der
Gemeinde oder von den Interessenvertretern der Vermieter und der Mieter anerkannt
worden ist (qualifizierter Mietspiegel, § 558 d Abs. 1 BGB) enthält nach § 558 Abs. 3
BGB die gesetzliche (widerlegliche, vgl. Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 64. Aufl., 2005, §
558 d, Rn 6) Vermutung der örtsüblichen Vergleichsmiete, wenn er im Abstand von zwei
Jahren der Marktentwicklung angepasst und alle vier Jahre neu erstellt wird, § 558 d
Abs. 2 BGB.
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Jedenfalls ein qualifizierter Mietspiegel wird den Vorgaben von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB
II besser gerecht, da er - im Gegensatz zur Wohngeldtabelle, die pauschal für den
gesamten Geltungsbereich des Gesetzes gilt - die örtlichen Gegebenheiten abbildet.
Anders als insbesondere § 20 SGB II - Regelleistung - pauschaliert § 22 Abs. 1 SGB II
die Kosten für Unterkunft und Heizung nicht, sondern verweist mit dem
Tatbestandsmerkmal der Angemessenheit auf die Umstände des Einzelfalls und somit
auch auf die örtlichen Gegebenheiten.
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Angemessen iSd § 22 Abs. 1 SGB II ist eine Unterkunft nach alledem dann, wenn der
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Mietzins nicht höher ist als Produkt aus der im Wohnungsbindungsrecht anerkannten
qm-Größe und der (aus dem Mietspiegel entnommenen) Miethöhe pro qm für eine
Wohnung der unteren Kategorie (zu letzterem Schmidt, in: Östreicher, SGB XII/SGB II,
2005, § 22 SGB II, Rn 33, 39; OVG Nordrhein-Westfalen, info also 1998, 135, 136).
Aus dem Mietspiegel für die Stadt Jülich ergibt sich für Wohnungen "um 80 qm Größe"
in zwischen 1961 und 1975 bezugsfertig gewordenen Gebäuden in mittlerer Wohnlage
und ohne gehobene Ausstattung eine Mietpreisspanne zwischen 4,30 Euro/qm und 5,35
Euro/qm. Unter Zugrundelegung selbst des unteren Wertes ergibt sich für eine
Wohnungsgröße von 90 qm für die Höhe des Mietzinses eine Obergrenze von 387.-
Euro. Unter Zugrundelegung des unteren Wertes für Wohnungen "um die 100 qm" (4,10
Euro/qm) ergibt sich eine Obergrenze von 369.- Euro. Selbst unter Zugrundelegung der
vom Beklagten als angemessen erachteten Wohnfläche von 75 qm ergibt sich ein
Betrag von 322,50 Euro. Da der von der Klägerin zu entrichtende Mietzins unterhalb
dieser Grenzen liegt, ist die Unterkunft angemessen.
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Auch die von der Klägerin zu tragenden Nebenkosten sind nicht unangemessen iSd §
22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Kosten einer nicht im Eigentum des Hilfebedürftigen stehenden
Unterkunft sind auch derjenigen Nebenkosten, die (wie Abfallgebühren, Kosten der
Treppenhausreinigung etc) für den Hilfebedürftigen unvermeidbar sind bzw von denen
er sich nicht vertraglich freizeichnen kann (BVerwG NJW 2002, 1284). Die Kammer
sieht angesichts der von der Klägerin zu den Akten des Beklagten gereichten
Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2002 keinen Anhalt für vermeidbare
Nebenkosten. Die Nebenkosten sind auch nicht deswegen unangemessen, weil sie im
Vergleich zum ausgesprochen niedrigen Mietzins auffällig hoch sind (ca 36 Prozent der
Gesamtmiete ohne Heizkosten). Dieser Gesichtspunkt wäre nur dann von Bedeutung,
wenn ein Teil des Mietzinses sachwidrig als Nebenkosten ausgewiesen worden ist,
worauf es jedoch keine Hinweise gibt.
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Schließlich sind die Nebenkosten auch unter Zugrundelegung einer angemessenen
Wohnfläche von 75 qm - der sich das Gericht indes (wie oben ausgeführt) gerade nicht
anschließt - nicht etwa insoweit unangemessen, wie sie auf die qm-Zahl entfallen, um
welche die Wohnungsgröße den Richtwert von 75 qm überschreitet. Die Anwendung
der Produkttheorie zwingt den Träger der Grundsicherung zwar nicht dazu, auch alle
Folgelasten zu übernehmen, die durch eine für sich betrachtet unangemessene
Wohnfläche entstehen (vgl. SG Aachen, Urteil vom 09.09.2005, S 11 AS 8/05). Dennoch
wären die praktischen Handlungsmöglichkeiten, die sich für den Hilfebedürftigen aus
der Produkttheorie ergeben, zu einem guten Teil beseitigt, wenn die Angemessenheit
der Unterkunft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise stets unter dem Vorbehalt der
kommenden Nebenkostenabrechnung stünde. Das Gericht betrachtet es als allgemein
bekannt, dass die im Stadium von Wohnungssuche und Vertragsschluss bekannten
vertragliche Nebenkostenvorauszahlungen stets nur eine grobe Orientierung
hinsichtlich der tatsächlichen (nachträglich abgerechneten) Nebenkosten bieten. Es
kommt hinzu, dass Nebenkosten zwar unter Heranziehung der Wohnfläche berechnet
werden (und sich ein auf die unangemessene Fläche entfallender Anteil rechnerisch
ermitteln lässt), es jedoch dem Hilfebedürftigen nicht möglich ist, sich von diesem Anteil
der Nebenkosten vertraglich freizuzeichnen, wie dies bei der Sache nach abtrennbaren
Nebenkosten (etwa in manchen Fällen der Kosten für einen Kabelfernsehanschluss) der
Fall ist.
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Die Höhe der monatlichen Heizkosten (60.- Euro) ist nicht im Streit.
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Das Gericht braucht sich angesichts all dessen nicht mit der Argumentation des
Beklagten auseinanderzusetzen, die Klägerin sei auf andere Wohnungen im gesamten
Gebiet des Landkreises E verweisbar. Es sieht sich jedoch durch die Vehemenz, mit der
der Beklagte diese Auffassung nicht nur im hiesigen Verfahren vertritt, zu folgendem
Hinweis veranlasst: Ein Eingriff in das Grundrecht der Freizügigkeit nach Art. 11
Grundgesetz (GG) - dh in das Recht, im gesamten Bundesgebiet Aufenthalt und
Wohnung zu nehmen (BVerfGE 2, 266, 273) - liegt auch dann vor, wenn eine Regelung
im Recht der Sozialfürsorge für die Bezieher von Sozialleistungen wirtschaftlich
nachteilige Folgen an die Ausübung des Grundrechts knüpft (BVerfG, Urteil vom
17.03.2004, 1 BvR 1266/00 = BverfGE 110, 177 ff = NVwZ 2005, 797 ff, zur Zuweisung
von Spätaussiedlern). Auch wenn Art. 11 Abs. 2 GG eine Einschränkung des
Grundrechts in solchen Fällen zulässt, in denen eine aureichende Lebensgrundlage
nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit durch die Grundrechtsausübung daher
besondere Lasten entstehen würden, steht diese Einschränkung ihrerseits unter einem
strengen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt (auch hierzu BVerfG, aaO). Dies führt im
Einzelfall dazu, dass der Beklagte - auch wenn seine Schreiben zur Frage der
Angemessenheit der Unterkunft unbeantwortet bleiben - jedenfalls diejenigen
Tatsachen in seine Prüfung miteinzustellen hat, die ihm nach Aktenlage bekannt sind
und gegen einen Umzug sprechen können. Im vorliegenden Fall musste der Beklagte
davon ausgehen, dass die beiden Kinder der Klägerin schulpflichtig sind; auch ist ihm
bekannt, dass die Klägerin einer Beschäftigung im Kindergarten C nachgeht. Der
Beklagte hat jedoch nicht geprüft, wie sich ein Umzug auf die Fortführung dieser (nach
der Intention des SGB II sehr wünschenswerten) Tätigkeit und den weiteren
Schulbesuch auswirken würde. Er hätte hierbei berücksichtigen müssen, dass
jedenfalls die Beschäftigung möglicherweise hätte aufgegeben werden müssen, wenn
die Klägerin nicht mehr in der Nähe des Beschäftigungsorts wohnt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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