Urteil des SozG Aachen vom 04.09.2009

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Sozialgericht Aachen, S 6 R 200/08
Datum:
04.09.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 6 R 200/08
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 13 R 168/09
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten zu ihrer
Altersrente für Frauen.
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Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist in Rumänien aufgewachsen und am
00.00.0000 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Sie ist als Vertriebene
anerkannt. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 00.00.0000 bewilligte ihr die ehemalige
Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (LVA) ab 00.00.0000 Altersrente für Frauen
in Höhe von anfänglich 000,00 DM monatlich. Dieser Bescheid enthielt auf Seite 3 den
Zusatz, dass zu 5/6 gekennzeichnete Beitrags- oder Beschäftigungszeiten bei der
Ermittlung der Entgeltpunkte nicht in vollem Umfang berücksichtigt wurden, weil sie
nicht nachgewiesen, sondern nur glaubhaft gemacht sind. In Anlage 10 dieses
Bescheides sind zahlreiche in Rumänien zurückgelegte Beitragszeiten aufgelistet, die
glaubhaft gemacht sind. Weiter enthält der Bescheid dort den Zusatz, dass die nach
dem FRG anerkannten Zeiten bei der Ermittlung der maßgebenden Entgeltpunkte nur
zu 60% berücksichtigt werden können. Unter dem 00.00.0000 übersandte die Klägerin
der LVA Unterlagen zu den in Rumänien ausgeübten Tätigkeiten und bat um
Überprüfung ihrer Rente. Ihr Schreiben hat folgenden Wortlaut:
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"Sehr geehrte Damen und Herren!
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Ich erhalte von der LVA seit dem 00.00.0000 Altersrente. Rumänische Zeiten wurden
demnach zu 5/6 angerechnet.
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Ich darf Sie bitten, anhand der beigefügten Unterlagen zu prüfen, ob aufgrund dieser
Listen eine höhere Anrechnung möglich ist.
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Landsleute von mir haben den selben Antrag vor einiger Zeit gestellt und daraufhin
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einen positiven Bescheid erhalten. ( ...)"
Daraufhin führte die Beklagte eine Rentenberechnung durch, kam zu einem
Rentenzahlbetrag in Höhe von monatlich 000,00 Euro und fertigte den Entwurf eines
Einfrierungsbescheides vom 00.00.0000. Danach wird die mit 000,00 Euro zu hoch
festgestellt Rente eingefroren. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dieser Bescheid
abgeschickt und der Klägerin zugestellt worden ist. Nachdem das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13.06.2006 (Az.: 1 BvL 9/00 u.a.) das
Fehlen einer Vertrauensschutzregelung in § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes (FRG)
a.F. für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber zu einer Neuregelung
aufgefordert hatte und der Gesetzgeber daraufhin mit Art. 6 § 4c des Fremdrenten- und
Auslandsrentengesetzes idF des Fremdrenten- und
Auslandsrentenneuregelungsgesetzes vom 20.04.2007 (BGBl. I 554) eine
entsprechende Neuregelung getroffen hatte, wandte sich die Klägerin am 00.00.0000 an
die mittlerweile kontoführende DRV Unterfranken und bat um Neufeststellung ihrer
Rente unter Berücksichtigung der gesetzlichen Neuregelung. Mit Bescheid vom
00.00.0000 lehnte die DRV Unterfranken den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus,
Voraussetzung für eine Anwendung der Neuregelung sei, dass über einen
Rentenantrag oder über einen bis zum 00.00.0000 gestellten Antrag auf Rücknahme
des Rentenbescheides am 30.06.2006 noch nicht rechtskräftig entschieden gewesen
sei. Der Antrag der Klägerin sei jedoch erst am 00.00.0000 und damit nach dem
00.00.0000 gestellt worden. Die Klägerin legte am 00.00.0000 Widerspruch ein und
führte aus, bereits das Schreiben vom 00.00.0000 sei als entsprechender Antrag zu
werten, da dieses Schreiben als ein allgemeiner Überprüfungsantrag gewesen sei. Die
Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 zurück und
führte aus, der am 00.00.0000 gestellte Antrag sei sachlich auf die Überprüfung
hinsichtlich der 5/6 Anerkennung der Beitragszeiten beschränkt gewesen. Zudem sei
dem Überprüfungsantrag mit Bescheid vom 00.00.0000 teilweise entsprochen worden.
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Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.
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Die Klägerin ist der Ansicht, wenn nicht bereits der Antrag vom 00.00.0000 als Antrag im
Sinne der gesetzlichen Neuregelung in Art. 6 § 4c FANG zu werten sei, so hätte die LVA
sie jedenfalls seinerzeit darauf hinweisen müssen, einen solchen Antrag zu stellen. Da
dies unterblieben sei, müsse die Klägerin so gestellt werden, als ob sie seinerzeit einen
entsprechenden Antrag gestellt hätte.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 00.00.0000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 zu verpflichten, den Bescheid vom
00.00.0000 abzuändern und die Altersrente der Klägerin unter Berücksichtigung eines
Zuschlags an persönlichen Entgeltpunkten nach Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 FANG neu zu
berechnen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin wird durch die
angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Sie hat keinen Anspruch auf
Abänderung des bestandskräftigen Bescheides vom 00.00.0000 sowie auf
Neufeststellung ihrer Altersrente unter Berücksichtigung eines Zuschlags an
persönlichen Entgeltpunkten nach Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 FANG.
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Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) ist ein Verwaltungsakt,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes
das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist,
der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht
erbracht worden sind. Hierbei kann es dahin stehen, ob die Beklagte im vorliegenden
Fall überhaupt zu einer inhaltlichen Prüfung des bestandskräftigen Bescheides vom
00.00.0000 verpflichtet war. Denn wie die angefochtenen Bescheide zeigen, hat sie sich
jedenfalls auf eine Sachprüfung eingelassen und sich nicht auf die Bindungswirkung (§
77 SGG) des Bescheides vom 00.00.0000 berufen. Die Voraussetzungen des § 44 Abs.
1 Satz 1 SGB X liegen jedoch nicht vor, weil der bestandskräftige Bescheid vom
03.02.1997 mit der materiellen Rechtslage in Einklang steht. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten, weil sie die
Voraussetzungen des Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 FANG nicht erfüllt.
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Zwar erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2
FANG, weil sie vor dem 00.00.0000 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland genommen hat und ihre Rente nach dem 30.09.1996
begonnen hat. Sie hat jedoch bis zum 00.00.0000 keinen Antrag auf Rücknahme des
Rentenbescheides vom 00.00.0000 gestellt, über den am 00.00.0000 noch nicht
rechtskräftig entschieden war, Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 Nr.3 FANG. Denn ihr Antrag auf
Überprüfung im Hinblick auf die gesetzliche Neuregelung ist erst am 00.00.0000 gestellt
worden.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin ist auch nicht ihr Schreiben vom 00.00.0000 als
Überprüfungsantrag im Sinne von Art. 6 § 4c Abs. 2 Satz 1 Nr.3 FANG zu werten. Dies
folgt für die Kammer bereits daraus, dass die Klägerin in diesem Schreiben
unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass sie lediglich die Berücksichtigung
bestimmter Zeiten zu 5/6 zur Überprüfung stellen möchte, nicht aber, dass sie die
Berücksichtigung bestimmter Entgeltpunkte lediglich zu 60% überprüfen lassen wollte.
Hinzu kommt, dass die Klägerin mit dem Schreiben vom 21.11.2001 zahlreiche
Unterlagen übersandt hat. Auch dies spricht dafür, dass es ihr Ziel war, anhand dieser
Unterlagen bestimmte bislang lediglich als glaubhaft gemacht anerkannte Zeiten
nachzuweisen. Ist dem Schreiben vom 00.00.0000 damit eine sachliche Beschränkung
des Überprüfungsantrags zu entnehmen, so scheidet es selbst unter Berücksichtigung
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allgemeiner Grundsätze zur Auslegung von Anträgen Rechtsunkundiger aus, diesen
Antrag umfassend zu interpretieren.
Die Klägerin hat weiter keinen Anspruch, so gestellt zu werden, als ob sie rechtzeitig,
d.h. bis 00.00.0000, einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Insbesondere findet das
richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs (im Folgenden:
SHA) keine Anwendung.
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Da der SHA von der Rechtsprechung aus allgemeinen Grundsätzen entwickelt worden
ist, muss er gegenüber gesetzlichen Vorschriften zurücktreten, die einen Sachverhalt
bereits geregelt haben. Der SHA findet deshalb z.B. keine Anwendung zur Korrektur von
bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen (siehe BSG, Urteil vom 23.07.1986, 1
RA 31/85, BSGE 60, 158, 164; Kreikebohm/von Koch, in: von Maydell/Ruland/Becker
(Hrsg.): Sozialrechtshandbuch, 4. Auflage 2008, § 6 Rdnr. 101 m.w.N.). Im vorliegenden
Fall gewährt die Regelung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X die Möglichkeit,
bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen zur Überprüfung zu stellen. Dies jedoch
hat die Klägerin - jedenfalls im Hinblick auf die Berücksichtigung bestimmter
Entgeltpunkte zu lediglich 60% - nicht getan. Dann aber kann nicht auf den subsidiären
SHA zurückgegriffen werden, um einen entsprechenden Antrag zu fingieren. Denn § 44
Abs. 1 Satz 1 SGB X enthält eine positivrechtliche Regelung für diese Sachverhalte, es
fehlt an einer Regelungslücke, die durch den SHA ausgefüllt werden könnte.
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Doch selbst wenn man davon ausginge, dass der SHA im vorliegenden Fall
grundsätzlich anwendbar ist, so liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses
Instituts nicht vor. Der SHA setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger durch die
Verletzung einer ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis obliegenden Haupt- oder
Nebenpflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, nachteilige Folgen für die
Rechtsposition des Betroffenen herbeigeführt hat und diese Rechtsfolgen durch ein
rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können. Ausreichend ist ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung und dem Nachteil für den
Betroffenen, auf ein Verschulden kommt es nicht an (BSG, Urteil vom 05.04.2000, B 5
RJ 50/98 = juris m.w.N.; BSG, Urteil vom 14.11.2002, B 13 RJ 39/01 R = juris).
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Eine Pflichtverletzung der LVA Rheinprovinz, die sich die Beklagte ggf. zurechnen
lassen müsste, ist jedoch entgegen den Ausführungen der Klägerin nicht ersichtlich.
Dabei kann es dahin stehen, ob die Beklagte den als Entwurf in der Verwaltungsakte
enthaltenen Bescheid vom 25.01.2002 tatsächlich versandt hat und es kann auch dahin
stehen, ob die Klägerin diesen Bescheid erhalten hat. Denn selbst wenn dies nicht der
Fall sein sollte, fehlt es an einer Pflichtverletzung.
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Die Verletzung einer Beratungspflicht liegt nicht vor. Die Beratungspflicht des
Rentenversicherungsträgers nach § 14 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner
Teil (SGB I) wird grundsätzlich durch ein konkretes Beratungsbegehren begründet.
Selbst wenn man das Schreiben vom 00.00.0000 als ein solches Begehren ansehen
wollte, so fehlte es an einer Pflichtverletzung der damaligen LVA. Denn diese musste
zum Zeitpunkt des Schreibens vom 00.00.0000 noch nicht von der
Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 22 Abs. 4 FRG a.F. ausgehen. Zwar hatte der
4. Senat des Bundessozialgerichts bereits mit mehreren Beschlüssen vom 16.12.1999
(u.a. Az.: B 4 RA 49/98 R = juris) dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur
Entscheidung vorgelegt, ob § 22 Abs. 4 FRG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Wollte
man daraus jedoch eine Pflicht der Versicherungsträger dahingehend herleiten, die
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Versicherten auf diese Entscheidung hinzuweisen, so würde dies den Grundsatz der
Gesetzesbindung der Verwaltung, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG), unterlaufen. Denn
solange nicht das Bundesverfassungsgericht eine Norm für unvereinbar mit dem
Grundgesetz bzw. für verfassungswidrig erklärt hat, sind Verwaltungsträger wie die LVA
an diese Vorschrift gebunden. Besteht aber eine Bindung an diese Vorschrift ist diese
Vorschrift uneingeschränkt anzuwenden, mag selbst das BSG bereits erklärt haben,
dass es von der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift überzeugt ist. Mit einer
uneingeschränkten Anwendung unvereinbar aber wäre eine Pflicht der vollziehenden
Gewalt zum Hinweis auf die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Eine solche Pflicht
begegnete auch aus anderen Gründen Bedenken. Stellte sich nämlich später die (allein
vom Bundesverfassungsgericht festzustellende) Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift
heraus, hätte die vollziehende Gewalt einen falschen Hinweis erteilt, der
möglicherweise ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt hätte.
Die Kammer sieht sich in ihrer Auffassung durch die Rechtsprechung des BSG bestätigt.
Ist nämlich die Auslegung maßgeblicher Rechtsvorschriften zweifelhaft und sind die
damit verbundenen Rechtsfragen bisher nicht höchstrichterlich entschieden, so scheidet
die Verletzung einer Pflicht zur (Spontan)beratung aus (BSG, Urteil vom 13.12.2000, B
14 EG 10/99 R). Muss also für die Auslegung einfachgesetzlichen Rechts zunächst eine
höchstrichterliche Rechtsprechung existieren, bevor überhaupt eine Pflicht der
Leistungsträger zum Hinweis entstehen kann, so kann für die Erklärung der
Unvereinbarkeit von Rechtsvorschriften mit dem Grundgesetz, die allein dem
Bundesverfassungsgericht zusteht (Verwerfungsmonopol, Art. 100 Abs. 1 GG) eine
Pflicht zum Hinweis frühestens bestehen, wenn eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts existiert. Dies aber war zum maßgeblichen Zeitpunkt am
00.00.0000 nicht der Fall, sondern erst mit dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 13.06.2006.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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