Urteil des SozG Aachen vom 30.01.2007

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Sozialgericht Aachen, S 20 AY 20/06
Datum:
30.01.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 20 AY 20/06
Sachgebiet:
Sonstige Angelegenheiten
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides
vom 06.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
19.09.2006 verurteilt, den Klägern ab 01.06.2006 Leistungen gemäß § 2
Asylbewerberleistungsgesetz in entsprechender Anwendung des
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren. Die außergerichtlichen
Kosten der Kläger trägt der Beklagte.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) in entsprechender Anwendung des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB
XII) ab Juni 2006.
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Die Kläger, geborenen 00.00.1994, 28.01.2000 und 25.07.2001, sind drei von fünf
Kinder der kongolesischen Staatsangehörigen T. und C. (CC). CC hielt sich seit Juli
1998 mit der Klägerin zu 1) in Deutschland auf, seit Januar 1999 im
Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Sie erhielten von Januar 1999 - die Kläger zu 2)
und 3) jeweils seit ihrer Geburt - bis November 2003 und wieder ab Januar 2004 laufend
Leistungen nach §§ 3ff. AsylbLG. Nach Angaben des Beklagten hielten sich CC und die
Kläger vom 10.11.2003 bis 29.01.2004 unerlaubt in den Niederlanden auf. CC. gab
hierzu an, dies aus Angst vor Abschiebung und wegen privatem Stress mit dem
Ehemann getan zu haben. Der Vater der Kläger hatte seinerzeit eine
ausländerrechtliche Duldung vom 17.12. bis 17.01.2004 erhalten; danach war sein
Aufenthalt unbekannt; er meldete sich erst wieder im August 2004 bei Sozialamt und im
November 2004 beim Ausländeramt. Er erhält seit Juni 1996 (mit Unterbrechungen)
Leistungen nach § 3 AsylbLG.
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Nach Ablehnung ihrer ersten Asylanträge stellten die Kläger am 12.02.2004
Asylfolgeanträge. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Vorliegen
eines Abschiebeverbots gemäß § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Person
der BB festgestellt hatte, erteilte ihr die Ausländerbehörde des Kreis Düren am
30.03.2006 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Seit 01.04.2006 erhält
BB Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Kläger besitzen
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eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG und erhalten weiter Leistungen
nach § 3 AsylbLG.
Durch Bescheid vom 06.06.2006 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen nach §
3 AsylbLG für Juni 2006.
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Dagegen legten die Kläger am 22.06.2006 Widerspruch ein mit dem Hinweis, sie
erfüllten die zeitlichen Voraussetzungen für Leistungen nach § 2 AsylbLG in
entsprechender Anwendung des SGB XII. Der Umstand, dass ihre Mutter zwar nicht
diese Leistungen, wohl aber solche nach dem SGB II erhalte, begründe für sie - die
Kläger - keinen Leistungsausschluss nach § 2 Abs. 3 AsylbLG.
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Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 19.09.2006
zurück: Die Kläger hätten zwar jeweils insgesamt 36 Monate Leistungen nach § 3
AsylbLG bezogen; aber durch das unerlaubte Verlassen des Aufenthaltsortes vom
10.11.2003 bis 29.01.2004 und durch die Stellung der Asylfolgeanträge vom 12.02.2004
seien zwei Kriterien einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer
gegeben; seit der Wiederbeantragung der Leistungen ab dem 29.01.2004 hätten sie
noch nicht wieder 36 Monate lang Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten. All dies
schließe einen Anspruch nach § 2 AsylbLG aus. Darüberhinaus stehe einem Anspruch
der minderjährigen Kläger auf diese Leistungen die Vorschrift des § 2 Abs. 3 AsylbLG
entgegen, da kein Elternteil Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalte. Der Bezug von
Leistungen nach dem SGB II durch die Mutter BB stünde einem Bezug von Leistungen
nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht gleich.
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Dagegen haben die Kläger am 11.10.2006 Klage erhoben. Sie bestreiten ein
rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG, das einen Bezug
von Leistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII ausschließe. Selbst wenn
ein solches Verhalten bei ihrer Mutter BB in der Zeit vom 10.11.2003 bis 29.01.2004
vorgelegen hätte, könne dies nicht ihnen zugerechnet werden. Sie sind der Auffassung,
dass der Bezug von SGB II-Leistungen den Bezug von Leistungen nach § 2 Abs. 1
AsylbLG i.V.m. dem SGB XII gleichwertig sei, sodass kein Anspruchsauschluss nach §
2 Abs. 3 AsylbLG stattfinde.
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Die Kläger beantragen,
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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Be- scheides vom 06.06.2006 in der
Fassung des Wider- spruchsbescheides vom 19.09.2006 zu verurteilen, ihnen ab
01.06.2006 Leistungen gemäß § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verbleibt bei seiner in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung. Er
verweist ergänzend auf eine Auskunft des Innenministeriums des Landes Nordrhein-
Westfalen vom 10. Oktober 2006. Darin wird die Auffassung vertreten, § 2 Abs. 3
AsylbLG bezwecke eine einheitliche Normierung der Leistungsansprüche innerhalb
einer Familie; zwischen den Eltern oder einem Elternteil und ihren minderjährigen
Kindern werde ein akzessorisches Leistungsverhältnis begründet, sofern diese mit
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jenen in einer Haushalts- gemeinschaft leben, und zwar auf dem gesenkten Niveau des
AsylbLG. Weder dem SGB XII noch dem AsylbLG sei ein allgemeiner Anspruch aller
Familienangehörigen auf familieneinheitliche Leistungsgewährung oder ein Grundsatz
familieneinheitlicher leistungsrechtlicher Besserstellung zu entnehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Kläger betreffenden Verwaltungsakten des
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Kläger werden durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert im
Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie haben
(jedenfalls) seit Juni 2006 Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG in
entsprechender Anwendung des SGB XII.
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Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf
diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von
insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des
Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Kläger erfüllen
diese Voraussetzungen jedenfalls seit Juni 2006. Bis zu diesem Monat hatten die
Klägerin zu 2) fast 7 Jahre, der Kläger zu 3) knapp 6 1/2 Jahre und der die Klägerin zu 4)
fast 5 Jahre Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen. Sie haben die Dauer ihres
Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Die Stellung eines
Asylantrags oder eines Asylfolgeantrags ist ebensowenig rechtsmissbräuchlich im
Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG wie das Nichtwahrnehmen der Möglichkeit "freiwilliger
Ausreise" - Unwort des Jahres 2006 - nach rechtskräftigem Abschluss des
Asylverfahrens. Auch wenn dadurch die Aufenthaltsdauer beeinflusst wird, sind die
Ausnutzung bestehender Rechtspositionen und die Wahrnehmung zulässiger Anträge
kein Rechtsmissbrauch (LSG Hamburg, Beschluss vom 27.04.2006 - L 4 B 84/06 ER
AY; LSG NRW, Beschluss vom 29.03.2006 - L 20 B 6/06 AY ER; LSG Rheinland-Pfalz,
Beschluss vom 27.03.2006 - L 3 ER 37/06 AY; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom
07.03.2006 - L 8 B 13/05 AY ER; LSG NRW, Beschluss vom 23.01.2006 - L 20 B 15/05
AY ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005 - L 7 AY 51/05). Etwas
anderes ergibt sich auch nicht aus der Richtlinie 2003/9/EG vom 27.01.2003. Soweit
nach deren Artikel 16 in bestimmten Fällen Asylbewerbern Vorteile entzogen werden
können, erfüllen die aufgezählten Fallgruppen nicht zwingend den
Rechtsmissbrauchstatbestand im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG. Artikel 16 Abs. 4 der
Richtlinie schreibt im Übrigen vor, dass Entscheidungen über die Einschränkung von
Vorteilen jeweils für den Einzelfall objektiv zu treffen und zu begründen sind.
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Selbst wenn der Aufenthalt der Mutter der Kläger vom 10.11.2003 bis 29.01.2004 in den
Niederlanden den Rechtsmissbrauchstatbestand nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt hätte,
kann dies nicht den minderjährigen Klägern zugerechnet werden. Nach § 2 Abs. 1
AsylbLG steht nämlich einem Anspruch auf die höheren Leistungen entsprechend dem
SGB XII entgegen, dass die Leistungsberechtigten die Dauer des Aufenthalts
rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Dies kann für die Kläger, die um die
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Jahreswende 2003/2004 neun, drei und zwei Jahre alt waren, nicht angenommen
werden.
Im Übrigen geht der Beklagte rechtsirrig davon aus, dass ein rechtsmissbräuchliches
Verhalten dazu führt, dass die 36-Monats-Frist nach dem Ende eines Rechtsmiss-
brauchstatbestands neu zu erfüllen ist. § 2 Abs. 1 AsylbLG fordert als Voraussetzung für
eine Leistungsgewährung entsprechend dem SGB XII den Bezug von Leistungen nach
§ 3 über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, nicht aber einen einen
ununterbrochenen 36-Monats-Bezug. Die in § 2 Abs. 1 AsylbLG normierte Frist von 36
Monaten kann nicht während der Zeit laufen, in der ein Rechtsmissbrauchstatbestand
vorliegt. Zeiten des Leistungsbezugs vor Beginn und nach dem Ende eines
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens sind dagegen in die Berechnung der 36-Monats-
Frist einzubeziehen. Diese Frist muss weder durch zusammenhängende
ununterbrochene 36 Monate, noch durch 36 Monate, die nach dem Ende eines
Missbrauchstatbestands liegen, erfüllt werden (vgl. hierzu auch LSG Thüringen,
Beschluss vom 11.07.2005 - L 8 AY 379/05 ER).
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Der Anspruch der Kläger auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII
steht auch nicht § 2 Abs. 3 AsylbLG entgegen. Nach dieser Vorschrift erhalten
minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer
Haushaltsgemeinschaft leben, Leistungen nach Abs. 1 nur, wenn mindestens ein
Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen nach Satz 1 erhält. Ausweislich des
angefochtenen Bescheides vom 06.06.2006 leben die Kläger mit ihren Eltern T. und
CC. und zwei weiteren Geschwistern in einer Haushaltsgemeinschaft. Der Vater AMS
erhält Leistungen nach § 3 AsylbLG, die Mutter CC. Leistungen nach dem SGB II. Dem
Wortlaut des § 2 Abs. 3 AsylbLG getreu erhält somit kein Elternteil Leistungen nach § 2
Abs. 1 AsylbLG. Die Leistungen nach dem SGB II stehen jedoch nach Art und Höhe im
Wesentlichen denjenigen nach dem SGB XII gleich. Es würde nach Auffassung der
Kammer eine ungerechtfertigte, sachlich nicht begründbare Benachteiligung der Kinder
von SGB II-Leistungsberechtigten gegenüber Kindern von Leistungsberechtigten nach §
2 Abs. 1 AsylbLG/SGB XII darstellen, wenn bei der ersten Gruppe der
Leistungsauschluss nach § 2 Abs. 3 AsylbLG greifen würde, bei der zweiten Gruppe
dagegen nicht. Es handelt sich offenbar um eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte
planwidrige Lücke, die im Wege verfassungskonformer Auslegung dahin zu schließen
ist, dass minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer
Haushaltsgemeinschaft leben, Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalten, wenn
mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Leistungen in entsprechender
Anwendung des SGB XII oder nach dem SGB II erhält. Diese Voraussetzung ist bei den
Klägern (jedenfalls) seit Juni 2006 erfüllt.
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Die hiervon abweichende Auffassung des Beklagten wird auch nicht durch die Auskunft
des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.10.2006 gestützt. Darin
wird einerseits von einem akzessorischen Leistungsverhältnis zwischen den Eltern oder
einem Elternteil und ihren in einer Haushaltsgemeinschaft lebenden minderjährigen
Kindern gesprochen, dann aber die Auffassung vertreten, dass weder dem AsylbLG
noch dem SGB XII ein allgemeiner Anspruch aller Familienangehörigen auf
familieneinheitliche Leistungsgewährung bzw. ein grundsatzfamilieneinheitlicher
leistungsrechtlicher Besserstellung zu entnehmen sei. Auf die im vorliegenden Fall
streiterhebliche Frage, ob Eltern, die SGB II-Leistungen beziehen, Eltern, die Leistungen
nach § 2 AsylbLG/SGB XII beziehen, gleichzustellen sind, geht das Innenministerium in
dieser Auskunft nicht ein. Auch die in der Auskunft zitierten Entscheidungen des VGH
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Baden-Württemberg vom 17.12.1999 (7 S 2505/99) und des OVG Niedersachsen vom
21.06.2000 (12 L 3349/99) stützen die Auffassung des Beklagten nicht bzw. stehen der
hier vertretenen Auslegung der Kammer zu § 2 Abs. 3 AsylbLG nicht entgegen. Die
zitierten Entscheidungen betreffen allein die Frage, ob der Bezug von Leistungen nach
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) auch für den Ehegatten und die Kinder des
Leistungsberechtigten einen originären Anspruch auf Leistungen nach dem BSHG
begründet oder ob sie weiterhin nur Leistungen nach dem AsylbLG beanspruchen
können, nicht aber die - vorliegend streiterhebliche - Frage, ob SGB II-Leistungen den
Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG/SGB XII im Rahmen der Anwendung der
Ausschlussklausel des § 2 Abs. 3 AsylbLG gleichzustellen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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