Urteil des SozG Aachen vom 11.05.2006

SozG Aachen: unfallfolge, luxation, anerkennung, befund, arbeitsunfall, unfallversicherung, operation, kernspintomographie, verrenkung, entschädigung

Sozialgericht Aachen, S 1 U 103/05
Datum:
11.05.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 1 U 103/05
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 24.08.2004 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 23.11.2004 wird abgeändert. Die
Beklagte wird verurteilt, den Riss der Subscapularissehne sowie die
Verrenkung der langen Bizepssehne am linken Arm in Sinne der
wesentlichen Teilursache als Folge des Unfalles vom 09.10.2003
anzuerkennen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob der Riss der Subscapularissehne links als Unfallfolge anzuerkennen ist.
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Der am 00.00.1950 geborene Kläger erlitt am 09.10.2003 einen Arbeitsunfall, als er auf
der ersten Stufe einer neunstufigen Treppe beim Herabgehen ins Straucheln geriet und
nach vorne stürzte. Er hatte hinterher Schmerzen im Handgelenk, im linken
Ellbogengelenk und der linken Schulter, wobei die stärksten Beschwerden im
Handgelenk waren. Der Durchgangsarzt I1 aus I2 diagnostizierte am selben Tag eine
Schwellung und Hämatomverfärbung am linken Handgelenk volar, Schmerzen in der
linken Schulter lateral und bei Abduktion sowie eine schmerzhaft eingeschränkte
Beweglichkeit der linken Schulter. Er diagnostizierte eine Prellung und Distorsion des
linken Handgelenkes sowie eine Prellung der linken Schulter und des linken Oberarms.
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Am 22.10.2003 zeigte sich bei I3 (Städtisches Krankenhaus I2) noch eine diskrete
flächige Hämatomverfärbung über dem Trizeps sowie an der Oberarminnenseite links
etwa in Höhe der Schaftmitte. Der Kläger klagte über Schmerzen im linken Oberarm,
verbunden mit einem Spannungsgefühl, als wenn die Muskeln im Arm verdreht wären.
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Daraufhin wurde am 30.10.2003 eine Kernspintomographie des linken
Schultergelenkes gemacht, die eine traumatische Ruptur der Subscapularissehne sowie
Luxation der langen Bizepssehne ergab (vgl. Bericht von I1 vom 03.11.2003 und MRT-
Bericht von I4, Bl. 5 - 7 der Verwaltungsakte). In der Beurteilung führte der Radiologe an,
es finde sich eine Dislokation der langen Bizepssehne bis in das humero-glenoidale
Gelenk mit Ruptur von Subscapularissehne sowie des Ligamentum transversum mit
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deutlichem Erguss im humero-glenoidalen Gelenk sowie auch Zeichen einer
traumatischen Bursitis. Ansonsten fand er einen altersentsprechenden unauffälligen
Kernspintomographie-Befund des linken Schultergelenkes, insbesondere keine
knöcherne Läsion traumatischen Ursprungs und keinen Labrumabriss.
Am 17.11.2003 wurde ein vollständiger Riss der Subscapularissehne links operativ
behandelt. Im Operationsbericht wird über eine "vollständige degenerative Ruptur" der
Subscapularissehne berichtet. Eine feingewebliche Untersuchung fand nicht statt.
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Der mit der Begutachtung beauftragte Chirurg Q aus E sah keinen Zusammenhang
zwischen dem Riss der Subscapularissehne und Verlagerung der langen Bizepssehne
und dem Unfall vom 09.10.2003, weil sich im Operationsbericht über eine "vollständige
degenerative Ruptur" der Subscapularissehne berichtet wirdund außerdem nach
unfallchirurgischer Erfahrung davon auszugehen sei, dass eine Rotatorenmanschette
weder durch eine direkte Quetschung noch durch einen Stauchungsmechanismus
zerrissen werden könne. Ungeeignete Vorgänge für eine traumatische
Rotatorenmanschettenruptur sei deswegen das direkte Anpralltrauma sowie der Sturz
auf den ausgestreckten Arm und der Sturz auf den elevierten Arm.
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Mit Bescheid vom 24.08.2004 und Widerspruchsbescheid vom 23.11.2004 erkannte die
Beklagte unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit nur bis zum 30.10.2003 an und
lehnte die Anerkennung und Entschädigung des Risses der Subscapularissehne als
Unfallfolge ab. Auf die Begründung wird Bezug genommen.
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Mit der am 21.12.2004 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 24.08.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
23.11.2004 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Zusammenhangs-
durchtrennung der Subscapularissehne im Sinne der wesentlichen Teilursache als
Folge des Unfalls vom 09.10.2003 anzuerkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte schließt sich der Beurteilung des gerichtlichen
Sachverständigengutachten nicht an, da von einem unrichtigen Unfallhergang
ausgegangen werde, dieser Hergang überdies nicht geeignet sei, einen
Rotatorenmanschettenriss zu verursachen und der Operationsbericht den Hinweis auf
eine vollständige degenerative Ruptur der Subscapularissehne enthalte. Das Gericht
hat ein Gutachten nach § 106 SGG von W eingeholt,auf dessen Inhalt Bezug
genommen wird.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert. Die Beklagte hat zu
Unrecht die Anerkennung des Risses der Subscapularissehne als Unfallfolge
abgelehnt.
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Die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
wegen eines Arbeitsunfalles setzt voraus, dass der Zusammenhang zwischen dem
Arbeitsunfall und dem Gesundheitsschaden, dessen Entschädigung begehrt wird, zwar
nicht nachgewiesen, aber hinreichend wahrscheinlich gemacht wird. Die bloße
Möglichkeit eines Zusammenhangs reicht nicht aus. Dieser Zusammenhang ist unter
Zugrundelegung der herrschenden unfallmedizinischen Lehrauffassung, die bei der
Zusammenhangsbeurteilung zu beachten ist, dann gegeben, wenn mehr für als gegen
den Zusammenhang spricht und ernste Zweifel an einer anderen Verursachung
ausscheiden. Die für den Kausalzusammenhang sprechenden Umstände müssen
danach die gegenteiligen deutlich überwiegen (vgl. hierzu u. a. Urteil des LSG NRW
vom 29.09.2004 - L 17 U 220/03 - m. w. N.).
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Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme sieht das Gericht es als
überwiegend wahrscheinlich an, dass der Arbeitsunfall zu dem Riss der
Subscapularissehne links geführt hat. Die Kammer stützt sich insoweit auf das
Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen W. Er führt in seinem Gutachten unter
Würdigung sämtlicher Befunde die für und gegen einen Zusammenhang sprechenden
Erwägungen nachvollziehbar und verständlich an und kommt nach einer sorgfältigen
Abwägung aller Argumente zum Ergebnis, dass es wahrscheinlich ist, dass das
Geschehen vom 09.10.2003 zumindest wesentliche Teilursache für die Entstehung der
Zusammenhangsdurchtrennung der Subscapularissehne und die Verrenkung der
langen Bizepssehne war. Im Einzelnen gründet sich seine Beurteilung auf folgende
Erwägungen:
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Die bei der Operation festgestellten Veränderungen mit Riss der Subscapularissehne
und Luxation der langen Bizepssehne erlauben aus sich selbst heraus keinen
zweifelsfreien Rückschluss auf ihre Ursache, da sie sowohl auf degenerativer
körpereigener Grundlage als auch als Unfallfolge auftreten können. Auch wenn in dem
Operationsbericht von einer vollständigen degenerativen Ruptur der
Subscapularissehne berichtet wird, wird aus dem Bericht nicht erkennbar, aufgrund
welcher morphologischen Befunde der Operateur die Ursache der
Sehnendurchtrennung in der Degeneration sieht. Eine feingewebliche Untersuchung,
die insofern eine mögliche Klärung herbeiführen konnte, wurde nicht durchgeführt.
Allein aufgrund des makroskopischen, dem Operateur unmittelbar zugänglichen
Aspektes erlaubt sich nicht zweifelsfrei die Einordnung einer Ruptur als degenerativen
Ursprungs. Fünf Wochen nach dem Unfallereignis haben bereits umformende
Veränderungen stattgefunden, so dass sich das unmittelbare morphologische Bild
ändert und eine sichere Abgrenzung erschwert. Insbesondere aber wegen der
fehlenden ausführlichen Befundbeschreibung, die eine Qualifizierung als degenerativen
Befund erlaubt, kann der Operationsbericht für sich genommen nicht als ein Aspekt
angeführt werden, der gegen einen Unfallzusammenhang spricht, wenngleich er auch
einen Unfallzusammenhang nicht sicher ausschließt.
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Zu dem Unfallhergang ist zu sagen, dass nicht von einer direkten Gewalteinwirkung auf
die Schulter, die Q als ungeeigneten Unfallhergang angesehen hat, auszugehen ist. Mit
einer direkten Einwirkung einhergehende korrespondierende Befunde wie äußere
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Verletzungszeichen, Hinweise auf eine Prellung sind nämlich weder gesichert , noch
ergibt sich aus der Schilderung des Klägers, dass ausschließlich direkte Kräfte auf die
Schulter eingewirkt haben. Der genaue Hergang ergibt sich weder aus der
Unfallanzeige noch aus dem Durchgangsarztbericht. Während in der Unfallanzeige auf
Bl. 1 der Unfallakte lediglich angegeben wird, der Versicherte sei auf das
darunterliegende Podest gestürzt, ohne dass hieraus weitere Erkenntnisse über den
Geschehensablauf abzuleiten wären, wird in dem Durchgangsarztbericht auf Bl. 2 der
Unfallakte lediglich angegeben, der Versicherte sei drei Stufen heruntergefallen. Auch
hieraus wird nicht erkennbar, welche (ggf. direkten oder indirekten Kräfte) auf die
Schulter einwirkten. Dem Kläger kann nicht angelastet werden, dass weder der
erstbehandelnde Arzt noch der erste Gutachter den Hergang genau ermittelt haben. Erst
bei der ausdrücklichen Befragung durch W, der hierbei auch die Verletzung des
Handgelenkes mit einbezogen hat, wurde deutlich gemacht, dass der Kläger nach vorne
gestürzt ist und zunächst mit der linken Hand aufgeschlagen ist. Danach ist der Arm im
Ellbogengelenk eingeknickt und anschließend ist der Kläger mit der Vorderseite der
linken Schulter auf das Podest aufgeprallt. Unter bestimmten Voraussetzungen ist
hieraus eine unphysiologische Gewalteinwirkung auf die Subscapularissehne ableitbar,
und zwar aus folgenden Gründen:
Die Subscapularissehne stabilisiert den Oberarmkopf nach vorne. Ihre Hauptfunktion
besteht in der Innendrehung des Oberarmes und zum Teil auch in der Abduktion des
Armes. Gefährdend für die Subscapularissehne sind dementsprechend passive
gewaltsame Außenrotationen und Abduktionen, also Abspreizbewegungen des
Oberarmes bei angespannter Muskulatur. Wenn der Kläger mit seitlich vom Rumpf
abgespreiztem Oberarm zunächst mit dem Handgelenk aufgeprallt ist, ist durch die Kraft
des beschleunigten Rumpfes nach vorne eine hierdurch hervorgerufene massive
Außenrotations-Abduktionsbewegung in der Schulter vorstellbar, die grundsätzlich
geeignet ist, die Subscapularissehne bei maximal angespannter Muskulatur zu
zerreißen. Ob es tatsächlich bei dem Sturz zu einem derartigen Geschehensablauf
gekommen ist, kann der Hergangsschilderung des Klägers nicht sicher entnommen
werden; die bisher bekannten Aspekte des Geschehensablaufes sprechen jedoch nicht
hiergegen. Gegen einen Unfallzusammenhang würde nur ein Ablauf sprechen, bei dem
es ausschließlich oder zumindest im Wesentlichen nur zu einer direkten
Gewalteinwirkung von vorne auf die Schulter gekommen wäre. Hierfür ergeben sich
jedoch keine Anhaltspunkte. Der Geschehensablauf spricht damit eher für als gegen
einen Zusammenhang.
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Ein weiteres Argument für einen Zusammenhang ist der Umstand, dass vor dem
Ereignis Beschwerden oder Funktionsstörungen im Bereich der linken Schulter des
Klägers nicht dokumentiert sind. Bei vorbestehender vollständiger
Zusammenhangsdurchtrennung der Subscapularissehne und Luxation der langen
Bizepssehne vor dem in Frage stehenden Ereignis wäre eine deutliche Abschwächung
der Kraft der Innenrotationsmuskulatur und damit der Fähigkeit, die Hand auf den
Rücken zu legen, zu erwarten gewesen. Dieser Gesichtspunkt ist, wenn er auch nicht für
sich alleine einen Unfallzusammenhang belegen kann, in Verbindung mit den anderen
für einen Unfallzusammenhang sprechenden Argumenten jedoch mit zu
berücksichtigen.
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Für einen Unfallzusammenhang spricht weiterhin die Tatsache, dass die
Subscapularissehne anders als die Supra- und die Infraspinatussehne nicht
typischerweise von degenerativen Veränderungen der Rotatorenmanschette betroffen
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ist. Zumindest wäre es äußerst ungewöhnlich, dass bei insofern fehlenden wesentlichen
Degenerationszeichen dieser typischerweise von körpereigenen Veränderungen
bevorzugten Sehnenanteile eine auschließliche degenerative Schädigung der
Subscapularissehne vorliegen würde. Die Lokalisation der Veränderungen
ausschließlich an der Subscapularissehne bei insofern weitgehend unauffälligen
Befunden der übrigen Anteile der Manschette spricht damit ebenfalls für einen
Zusammenhang.
Für einen Unfallzusammenhang spricht auch, dass an den übrigen von körpereigenen
Verschleißerscheinungen betroffenen Abschnitten der Schulter wesentliche
umformende Veränderungen nicht gesichert sind. W kann insoweit derartige auf einen
wesentlichen Verschleiß des Schultergelenks hinweisende morphologische Befunde
weder kernspintomographisch noch nativradiologisch feststellen.
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Schließlich spricht für einen Unfallzusammenhang auch die Tatsache, dass es durch
die Operation gelungen ist, eine gute Wiederherstellung der Funktion der
Subscapularissehne zu erreichen, was bei schwerwiegenden degenerativen
Veränderungen des Sehnenmaterials nicht zu erwarten wäre.
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Bei Abwägung der vorstehend genannten Gesichtspunkte sprechen nach Einschätzung
des gerichtlichen Sachverständigen W deutlich mehr Aspekte für als gegen einen
Unfallzusammenhang. Das Gericht hat sich der Beurteilung von W anschließen können,
weil er äußerst dezidiert und detailliert sämtliche Befund beurteilt und miteinander
vergleicht und sich als erster und einziger Arzt die Mühe gemacht hat, den gesamten
Geschehensablauf auf seine Plausibilität hin zu erforschen und zu hinterfragen. Er hat
bei der Ermittlung des Geschehensablaufes die Verletzung des linken Handgelenkes
und die Hämatomverfärbung an der Innenseite des Oberarmes ebenso mit in seine
Erwägung einbezogen wie auch den Umstand, dass es sich hier nicht um die
Verletzung der Supraspinatussehne oder der Infraspinatussehne, sondern um die
Subscapularissehne handelt, die typischerweise nicht von degenerativen
Veränderungen der Rotatorenmanschette betroffen ist. W ist dem Gericht als äußerst
kompetenter gerichtlicher Sachverständiger auf dem Gebiet der gesetzlichen
Unfallversicherung bekannt und er hat auch in diesem Gutachten sich überzeugend und
nachvollziehbar mit den Erwägungen des Einzelfalles ausführlich auseinander gesetzt.
Kommt er nach reiflicher Überlegung und gründlicher Abwägung zu der Beurteilung,
dass der Subscapularisriss im vorliegenden Fall mit Wahrscheinlichkeit eher als
unfallbedingt einzustufen ist, so hat das Gericht keine Bedenken, ihm zu folgen, zumal
seine Erwägungen für das Gericht nachvollziehbar sind. Das Gutachten von Q
unterscheidet demgegenüber gar nicht zwischen den verschiedenen Sehnen der
Rotatorenmanschette (Subscapularis, Supraspinatus und Infraspinatus), sondern
erschöpft sich in der pauschalen Bewertung, eine Rotatorenmanschette könne weder
durch eine direkte Quetschung noch durch eine Stauchung zerrissen werden. Auch hat
er sich nicht die Mühe gemacht, den Unfallhergang in seinem genauen Ablauf zu
eruieren und zu bewerten, d.h. er ging von einem unzutreffenden Hergang aus ...
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Wenn auch keine Rentengewährung in Betracht kommt, da die Minderung der
Erwerbsfähigkeit über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus nicht um mindestens 20 v.
H. gemindert ist (§ 56 Abs. 1 SGB VII) besteht ein Rechtsschutzbedürfnis an der
Anerkennung der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschäden im Hinblick auf
die sonstigen gesetzlichen Leistungen wie Heilbehandlung etc.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
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