Urteil des SozG Aachen vom 10.10.2006
SozG Aachen: aufnahme einer erwerbstätigkeit, besitz, geschlecht, aufenthalt, hessen, unterliegen, ausländerrecht, nichtigkeit, rechtskraft, integration
Sozialgericht Aachen, S 11 AS 38/06
Datum:
10.10.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AS 38/06
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 9 AS 74/06
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darum, ob den Klägern Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende zustehen.
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Die Kläger (geb. 00.00.1967, 00.00.1974 und 00.00.1993) waren zunächst seit Juni
2005 im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 4 des Gesetzes über den
Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet
(AufenthG) mit dem Zusatz "Erwerbstätigkeit nicht gestattet". Seit Mitte November 2005
sind sie im Besitz von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG (zuletzt erteilt
vom Kreis B am 16., 17. und 18.11.2005 mit Wirkung bis 01.12.2006), die nunmehr mit
dem Hinweis versehen sind, Erwerbstätigkeiten jeder Art seien gestattet.
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Nachdem die Beklagte den Klägern zunächst für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum
31.07.2005 Grundsicherung für Arbeitsuchende gewährt hatte, gewährte die
Beigeladene auf den folgenden Fortzahlungsantrag mit Bescheid vom 18.07.2005
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Die Kläger legten
hiergegen am 23.08.2005 Widerspruch ein und begehrten wie bislang Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid
vom 27.03.2006 mit der Begründung ab, die Kläger hätten Anspruch auf Leistungen
nach dem AsylbLG und seien daher von Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende ausgeschlossen. Den am 30.03.2006 erhobenen Widerspruch wies sie
mit Bescheid vom 05.04.2006 zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 13.04.2006 erhobene Klage.
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Die Kläger führen aus, ihnen stünden jedenfalls gemäß § 101 Abs. 2 AufenthG derartige
Aufenthaltstitel zu, die nicht zu Asylbewerberleistungen berechtigten. Da § 101 Abs. 2
AufenthG die Fortgeltung der zuvor erteilten Titel unmittelbar anordne, käme es auf die
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behördlicherseits erteilten Titel nicht an. Vielmehr handle es sich - wie etwa beim
Geschlecht eines Menschen - um eine natürliche Eigenschaft, die durch behördliche
(Fehl-) Entscheidungen nicht verändert werden könne.
Die Kläger beantragen,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.03.2006 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 05.04.2006 zu verurteilen, ihnen Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende ab dem 01.08.2005 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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ie bleibt bei ihrer Auffassung.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind nicht rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Für die Zeit vor dem Wirksamwerden des aktuell gültigen Aufenthaltstitels scheitert der
geltend gemachte Anspruch bereits an § 8 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch -
Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Hiernach können Ausländer nur
erwerbsfähig i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II sein, wenn ihnen die Aufnahme einer
Beschäftigung erlaubt ist (1. Alt.) oder erlaubt werden könnte (2. Alt.). Ob die Aufnahme
einer Beschäftigung erlaubt i.S.d. § 8 Abs. 2 1. Alt SGB II ist, ergibt sich aus dem im
Einzelfall erteilten Aufenthaltstitel (vgl. nur Blüggel, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 8, Rn.
56). Hieran fehlt es bereits ausweislich der vorgelegten Aufenthaltserlaubnisse, in
denen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ausdrücklich untersagt ist.
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Auch die Voraussetzungen von § 8 Abs. 2 2. Alt SGB II liegen nicht vor. Das Gericht
braucht nicht zu entscheiden, ob die 2. Alternative ("oder erlaubt werden könnte") in der
hiesigen Fallkonstellation, in der die Ausländerbehörde bereits ausdrücklich gegen die
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entschieden hatte, überhaupt zur Anwendung kommen
kann (zweifelnd insbesondere LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.12.2005, L
25 B 1281/05 AS ER; in diesem Sinne wohl auch Brühl, in: LPK-SGB II, § 8, Rn. 35,
wonach Ausländer, denen ausnahmsweise ausländerrechtlich eine Erwerbstätigkeit
untersagt worden ist, von SGB II-Leistungen ausgeschlossen sind). Jedenfalls erfüllt die
grundsätzlich eingeräumte ("abstrakte") rechtliche Möglichkeit zur Erteilung einer
Beschäftigungserlaubnis und Aufhebung der Nebenbestimmung nicht den Tatbestand
des § 8 Abs. 2 2. Alt. SGB II (auch hierzu ausführlich LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.,
juris, Rn. 40 ff.). Die Entscheidung, ob einem Ausländer die Aufnahme einer
Beschäftigung erlaubt werden könnte, beinhaltet in erster Linie eine Prognose der
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Arbeitsmarktlage (Blüggel, a.a.O., Rn. 62), die von der Ausländerbehörde im
Einvernehmen mit der Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen ist. Das Gericht kann sich
über die hierbei eingeräumten Entscheidungsspielräume nicht hinwegsetzen.
Für die Zeit nach Wirksamwerden der aktuell gültigen Aufenthaltstitel scheitern die
geltend gemachten Ansprüche an § 7 Abs. 1 Satz 2 2.HS SGB II. Hiernach haben
Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB
II. Die Kläger sind seither leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG, da sie im
Besitz von Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 5 AufenthG sind.
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§ 1 AsylbLG stellt insoweit auf den Besitz eines der genannten Titel ab, d.h. der Titel
muss erteilt sein. Wenn hierzu die Auffassung vertreten wird, ein bloßer Anspruch auf
Erteilung des Titels genüge nicht (Hohm, in: GK-AsylbLG, § 1, Rn. 44 und 49), so muss
zugleich umgekehrt gelten, dass ein (möglicher) Anspruch auf Abänderung des
tatsächlich erteilten Titels in einen sozialleistungsrechtlich günstigeren nicht genügt, um
von der Ausschlusswirkung des § 1 AsylbLG i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 2 2.HS SGB II
abzuweichen. Vielmehr muss den aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen (vgl. zur
Wirkung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG LSG Hessen,
Beschluss vom 11.07.2006, L 7 SO 19/06 ER) der Ausländerbehörde schon deswegen
Tatbestandswirkung zukommen, weil diese nicht der Jurisdiktion der Sozialgerichte
unterliegen.
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Auch § 101 Abs. 2 AufenthG führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ordnet die
Vorschrift an, dass nach altem Recht erteilte Titel kraft Gesetzes fortgelten (vgl. Ziffer
101.0 der vorläufigen Anwendungshinweise, abgedruckt bei Renner, Ausländerrecht, 8.
Aufl., 2005, § 101 AufenthG), ohne dass es einer eigenen behördlichen Entscheidung
bedarf (Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 101, Rn. 2). Angesichts dessen mag es sein,
dass die ausländerbehördlichen Verwaltungsakte rechtswidrig sind. Sie sind indes - und
nur darauf kann es im Streit um die Anwendung von AsylbLG oder SGB II ankommen -
nicht nichtig. Diese Rechtsfolge ist § 101 AufenthG nicht zu entnehmen, so dass sich die
Nichtigkeit nach allgemeinen Regeln (hier: § 44 des nordrhein-westfälischen
Verwaltungsverfahrensgesetzes) beurteilt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind
jedoch nicht erfüllt. Selbst die Kläger gelangen erst nach ausführlichen rechtlichen
Erwägungen zu § 101 AufenthG zum Ergebnis, ihnen stünde ein anderer Aufenthaltstitel
zu.
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Sofern sie sich in diesem Zusammenhang darauf berufen, auch das Geschlecht eines
Menschen ändere sich nicht durch eine unzutreffende Eintragung in Bescheiden oder
anderen amtlichen Dokumenten, führt dies zu keiner anderen Auslegung von § 101
AufenthG i.V.m. § 1 AsylbLG. Das Geschlecht eines Menschen ist eine natürliche
Tatsache, an die das Recht bestimmten Folgen knüpft. Eine ebenso natürliche Tatsache
ist der Aufenthalt eines Menschen an einem bestimmten Ort, wohingegen die Frage der
Rechtmäßigkeit dieses Aufenthaltes bereits auf rechtlicher Würdigung beruht und somit
keine natürliche Tatsache, sondern eine Rechtsfolge ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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