Urteil des SozG Aachen vom 11.01.2007

SozG Aachen: baustelle, bauherr, unternehmer, rücknahme, nachbar, gefälligkeit, dach, beratung, rohbau, unternehmen

Sozialgericht Aachen, S 9 (14) U 99/05
Datum:
11.01.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 9 (14) U 99/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 17 U 52/07
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob der Kläger bei seinem Unfall am 19.07.2000 "wie ein Arbeitnehmer"
gesetz-lich unfallversichert war.
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Die Krankenkasse des Klägers meldete am 22.09.2000 einen Unfall vom 19.07.2000,
20:00 Uhr. Der Kläger sei im Rohbau des Nachbarn ca. 5 Meter tief auf einen
Betonboden gestürzt. Der Kläger zog sich hierbei einen Schädelbasis- und
Schlüsselbeinbruch zu. Zu den Unfallfolgen gehört ein Schädelhirntrauma III. Grades
mit schweren Kommunikationsstörungen, komplettem Hörverlust und Sehstörungen.
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Die Lebensgefährtin des Klägers, Frau I., gab an, der Kläger könne sich selbst an den
Unfallhergang nicht erinnern. Zeugen des Unfalls gebe es nicht. Der Kläger habe nicht
auf der Baustelle gearbeitet, sondern sich den Rohbau angesehen, weil ihn der Bauherr
(Nachbar T. ) um einige Ratschläge gebeten habe.
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Der erstbehandelnde Chirurg Dr. T. teilte auf Nachfrage mit, es sei seinerzeit kein D-
Bericht gefertigt worden, da der Unfall im Rahmen privater Nachbarschaftshilfe geschah.
Der Verletzte habe auf freiwilliger Basis einem Freund bei Dacharbeiten geholfen; dies
hätten die Verwandten und der Freund am Unfalltag angegeben.
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Der Nachbar des Klägers, K. T., teilte der Beklagten mit, er sei bei ihr als Unternehmer
gemeldet und habe das Haus, in dem der Unfall geschah, in eigener Regie gebaut. Der
Kläger sei nicht für ihn auf der Baustelle tätig gewesen. Er habe erst hinterher erfahren,
dass der Kläger zufällig an der Baustelle vorbei kam, an der ein Freund des Klägers
arbeitete. Der Kläger habe diesem aus eigenem Entschluss geholfen. Er selbst habe
hiervon keine Kenntnis gehabt.
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Bei einem Gesprächstermin mit der Beklagten am 06.03.2001 gab Bauherr T. an, er
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habe Herrn B. M. als Fachmann für Dacharbeiten zu einer kurzen Beratung gebeten,
weil er ein technisches Problem der Dacheindeckung nicht selbst habe lösen können.
Herr M. sei nicht bei ihm angestellt gewesen, bei der Tätigkeit habe es sich um eine
Gefälligkeit gehandelt, die später durch eine Gegenleistung habe abgegolten werden
sollen. Der Kläger sei weder zu Arbeitsleistungen gebeten, noch hierfür vergütet
worden. Den Kläger habe er auch vor dem Unfalltag nicht gekannt, auch nicht aus der
Nachbarschaft.
Auch der Dachdecker Lang wurde von der Beklagten befragt und gab an, bis zum
Unfalltag auf der Baustelle keine Arbeiten verrichtet zu haben. Er habe lediglich dem
Herrn T. zwei oder drei Mal Ratschläge im Zusammenhang mit Dacharbeiten erteilt,
wozu er fachlich in der Lage sei, da er seit über 20 Jahren Dachdecker sei. Im konkreten
Fall habe ihn Herr T. ohne konkrete zeitliche Absprache gebeten, sich gelegentlich den
Stand der Dacharbeiten anzusehen und ihn bei der Lösung eines konkreten
technischen Problems zu beraten. Am Unfalltag habe er den ihm bekannten Kläger
angerufen und ihn gefragt, ob er sich die problematische Stelle am Dach mit ihm
gemeinsam ansehen könne. Der Kläger sei eine zeitlang Dachdecker gewesen und
deshalb fachkundig. Der Kläger habe auch einen kompetenten Lösungsvorschlag
gemacht, der letztlich auch umgesetzt worden sei. Der Aufenthalt auf dem Dach habe
weniger als 20 Minuten gedauert. Der Kläger habe nicht bei Dacharbeiten helfen sollen,
sondern sei ausschließlich zu dem kurzen Beratungsgespräch gekommen.
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Die Beklagte verneinte einen Versicherungsfall (Bescheid vom 29.06.2001), da der
Kläger nicht wie ein Arbeitnehmer, sondern wie ein Unternehmer tätig geworden sei.
Denn er habe über die entsprechenden Fachkenntnisse verfügt und nicht der
Weisungsbefugnis des Bauherren unterlegen. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
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Am 02.04.2004 beantragte der Kläger nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB X), den ablehnenden Bescheid aufzuheben und ihm Leistungen ab dem Unfalltag
zu bewilligen. Er sei wie ein Arbeitnehmer tätig geworden. Seine Tätigkeit sei nicht
unternehmerähnlich gewesen, da er die zum Unfall führenden Arbeiten nicht regelmäßig
ausgeführt habe, sondern nur einmalig seine Meinung zu einem Bauproblem geäußert
habe. Der Kläger sei Maschinenbauingenieur und habe einmal drei Monate als
Dachdeckergehilfe gearbeitet. Seine Fachkenntnisse stünden einer
beschäftigungsähnlichen Tätigkeit nicht entgegen, wenn die Arbeit den Interessen des
Unternehmens diene.
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Die Beklagte lehnte eine Rücknahme des Bescheides vom 29.06.2001 ab (Bescheid
vom 18.10.2004), da sie den Sachverhalt vollständig und richtig ermittelt und rechtlich
zutreffend gewürdigt habe.
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Mit dem Widerspruch trug der Kläger vor, er sei nicht wie ein Unternehmer tätig
geworden, habe aber selbst dann Anspruch nach § 105 Abs. 2 S. 2 SGB VII.
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Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 28.07.2005). Auch nach
nochmaliger Überprüfung werde die Tätigkeit des Klägers als unternehmerähnlich
angesehen.
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Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger gibt an, er habe keineswegs nur für den
Dachdecker M. tätig werden wollen; der Bauherr T. sei sein direkter Nachbar, dem er
ebenfalls habe helfen wollen. Als Helfer des Dachdeckers M. sei der Kläger aber auch
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für diesen arbeitnehmerähnlich tätig geworden. Der Kläger habe derartige Beratungen
nicht regelmäßig durchgeführt, sondern sich nur einmalig zu einer Problemlösung
geäußert. Er habe also nicht unternehmerisch gehandelt. Er sei dem Dachdecker M. mit
seinen Fachkenntnissen auch nicht überlegen gewesen.
Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 18.10.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
28.07.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger vom 19.07.2000 an
Verletztenrente in Höhe der Vollrente zu zahlen und die zu gewährenden Leistungen mit
4 % zu verzinsen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte wiederholt ihren Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 29.06.2001, da er
bei dem Unfall am 19.07.2000 nicht wie ein Arbeitnehmer versichert war.
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Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 29.06.2001 liegen nicht
vor. Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb
Sozialleistungen zu unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu unrecht erhoben worden
sind.
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Der Kläger trägt selbst nicht vor, dass die Beklagte den Sachverhalt unzutreffend
ermittelt habe. Hierfür haben sich auch aus der Sicht der Kammer keine Anhaltspunkte
ergeben. Streitig ist vielmehr die rechtliche Bewertung des Sachverhaltes.
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Dabei ist die Beklagte im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger bei
seinem Unfall am 19.07.2000 nicht gesetzlich unfallversichert war. Der Kläger war nicht
als Beschäftigter versichert (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII), denn er war weder beim
Bauherren, noch beim Dachdecker M. angestellt. Andere Versicherungstatbestände des
§ 2 Abs. 1 SGB VII kommen nicht in Betracht.
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Der Kläger war aber auch nicht nach § 2 Abs. 2 S. 1 SGB VII versichert; nach dieser
Vorschrift sind Personen versichert, die wie Beschäftigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 tätig
werden. Diese Voraussetzung erfüllte der Kläger am Unfalltag nicht (zu den
Voraussetzungen vgl. z.B. LSG NRW, Urteil vom 24.06.1998, L 17 U 48/98; LSG
Rheinland-Pfalz; Urteil vom 03.04.2000, L 7 U 379/99; Kasseler Kommentar/Ricke,
Rdnr. 103 bis 112 a zu § 2 SGB VII):
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Wie ein Beschäftigter ist tätig, wer eine ernstliche, dem Unternehmen dienende Tätigkeit
verrichtet, die dem wirtschaftlichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers
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entspricht und ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden könnte, die in einem
dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen,
wobei die Betätigung nach ihren konkreten Umständen einer Tätigkeit im Rahmen eines
abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ähnlich sein muss (BSG, Urteil vom
27.10.1987, 2 RU 9/87, Die Leistungen, 1989, 46 bis 50).
Jedenfalls an der letztgenannten Voraussetzung fehlt es hier. Zwar konnte die Tätigkeit
des Klägers auf der Baustelle ihrer Art nach grundsätzlich auch von Arbeitnehmern
verrichtet werden. Die konkrete Arbeitnehmerähnlichkeit im Einzelfall ist jedoch nicht
gegeben. Hierzu ist es zwar nicht notwendig, dass der Kläger Entgelt erhielt oder
weisungsabhängig tätig war (BSG, a.a.O.). Wesentlich ist aber, dass die Tätigkeit nach
Handlungstendenz und Beziehung der Beteiligten untereinander dem tatsächlichen
Erscheinungsbild einer Arbeitnehmertätigkeit entspricht (Kasseler Kommentar/Ricke,
Rdnr. 108 zu § 2 SGB VII). Dabei ist zwar der Versicherungsschutz nicht schon
ausgeschlossen, weil es sich um eine Gefälligkeit handelte (LSG NRW a.a.O.). Jedoch
war nach dem Gesamtbild der Tätigkeit vom Kläger eine fachlich qualifizierte Beratung
erbeten, wie sie ein Bauherr typischer Weise an einen selbständigen Handwerker oder
einen Freiberufler (Architekt, Bausachverständiger) herantragen würde. Dies gilt sowohl
im Verhältnis zum Bauherren T. als auch in dem zum Dachdecker M. , denn nach dem
ermittelten Sachverhalt war es offenbar der Kläger, der über die im speziellen Fall
notwendigen Fachkenntnisse verfügte und schließlich auch den vom Bauherren
umgesetzten Lösungsvorschlag machte. Hieraus wird deutlich, dass der Kläger auch
dem Dachdecker M. von seiner Funktion und Qualifikation her zumindest auf gleicher
Augenhöhe begegnete. Zudem unterlag er keinerlei Vorgaben hinsichtlich der
Ausführung seiner Tätigkeit.
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Die demnach vom Gesamtbild her unternehmerisch/freiberuflich ausgestaltete
Beratungstätigkeit wird entgegen der Auffassung des Klägers nicht dadurch zu einer
arbeitnehmerähnlichen, dass nicht festgestellt wurde, dass der Kläger mit einer
gewissen Regelmäßigkeit und Planmäßigkeit eine Art Geschäftsbetrieb betreibt. Hierauf
kommt es nicht an, wenn die zum Unfall führende Tätigkeit eher einem anderen
Vertragstyp, als einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis vergleichbar ist (vgl. LSG
Rheinland-Pfalz, a.a.O. mit zahlreichen Nachweisen; LSG NRW, a.a.O.).
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Mangels Fremdverschulden kommt entgegen der Ansicht des Klägers ein Anspruch aus
§ 105 Abs. 2 S. 2 SGB VII nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
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