Urteil des SozG Aachen vom 06.07.2000

SozG Aachen: wohnsitz im ausland, pflegebedürftigkeit, freizügigkeit der arbeitnehmer, verordnung, versicherungspflicht, soziale vergünstigungen, betroffene person, belgien, eugh

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Aachen, S 8 (9) RJ 2/00
06.07.2000
Sozialgericht Aachen
8. Kammer
Beschluss
S 8 (9) RJ 2/00
Rentenversicherung
rechtskräftig
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Gründe:
Dem EuGH werden gemäß Art. 234 EGV fogende Fragen zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
1) Sind die Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971
über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und
Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern, auch auf das deutsche Pflegeversicherungssystem anwendbar, wenn die
Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit gemäß §§ 23 i.V.m. 110
Sozialgesetzbuch - soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) (ggf. teilweise) auf dem
Abschluss eines privaten Pflegerversicherungsvertrages beruht?
2) Handelt es sich bei dem gemäß § 44 SGB XI i.V.m. §§ 3 S. 1 Nr. 1 a i.V.m. 166 Abs. 2
Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) von den Trägern der
Pflegeversicherung für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen zur gesetzlichen
Rentenversicherung zu entrichtenden Beiträgen um eine "Leistung bei Krankheit" im Sinne
des Art. 4 Abs. 1 a der Verordnung (EWG) Nr 1408/71? Falls ja: Kann eine derartige
Leistung auch für Pflegepersonen erbracht werden, die im Land des zuständigen Trägers
pflegen, jedoch in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen?
3) Sind Pflegepersonen im Sinne des § 19 SGB XI Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39
EGV? Falls ja: Ist es deshalb untersagt, ihnen die Leistung "Beitragszahlung zur
Rentenversicherung" zu versagen, weil sie nicht im Gebiet des zuständigen Staates
wohnen oder dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben?
I.
Streitig ist, ob die Klägerin wegen einer in Deutschland ausgeübten Pflegetätigkeit einen
Anspruch auf Zahlung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung zu ihren
Gunsten durch die Beigeladenen hat. Maßgeblich hierfür ist, ob sie als Pflegeperson der
Rentenversicherungspflicht gemäß § 3 S. 1 Nr. 1 a SGB VI unterliegt. Die Beklagte und die
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Beigeladenen verneinen dies, weil die Klägerin nicht in Deutschland, sondern in Belgien
ihren Wohnsitz hat.
Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie wohnt in der grenznahen Gemeinde L in
Belgien. Seit Juni 1998 pflegt sie einen in B wohnenden pensionierten Studiendirektor (im
folgenden: Pflegebedürftiger). Der Pflegebedürftige ist als pensionierter Beamter
gegenüber dem Beigeladenen zu 2) beihilfeberechtigt und bei der Beigeladenen zu 1) -
soweit die Aufwendungen für seine Pflege durch den Beigeladenen zu 2) nicht gedeckt
werden - bei der Beigeladenen zu 1) privat gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit
versichert. Der Pflegebedürftige ist in Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne
des § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI) eingestuft. Die Klägerin erhält vom Pflegebedürftigen 800,00
DM monatlich für die Pflegetätigkeit. Sie pflegt den Pflegebedürftigen 18 Stunden
wöchentlich, ansonsten übt sie keine weiteren Pflegetätigkeiten aus. Sie steht in keinem
sonstigen Beschäftigungsverhältnis.
Nachdem die Beigeladenen zunächst Rentenversicherungsbeiträge zu Gunsten der
Klägerin entrichtet hatten, stellte die Beklagte mit jetzt angefochtenem Bescheid vom
13.06.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2000 sinngemäß fest,
dass die Klägerin als Pflegeperson nicht versicherungspflichtig zur gesetzlichen
Rentenversicherung sei, weshalb die Beigeladenen bereits zum 31.08.1999 die Zahlung
von Rentenversicherungsbeiträgen eingestellt hatten.
Die Beklagte führte aus, Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung
bestehe für eine Pflegeperson im Sinne des SGB XI dann, wenn diese einen
Pflegebedürftigen nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner
häuslichen Umgebung pflege und der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der
sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung habe. Dies gelte gemäß § 3 Nr. 2 des
Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV)
jedoch nur, wenn die Pflegeperson ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im
Geltungsbereich des SGB IV habe. Denn bei der nicht erwerbsmäßigen Pflege handele es
sich nicht um eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit im Sinne des § 3 Nr. 1 SGB
IV, so dass der Wohnsitz im Ausland der Bejahung einer Versicherungspflicht
entgegenstehe. Ein anderes Ergebnis folge auch nicht aus den Regelungen des
überstaatlichen Rechts. Die nicht erwerbsmäßige Pflege eines Pflegebedürftigen falle nicht
unter die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bzw. Verordnung (EWG) Nr. 1612/68, weil weder
die Arbeitnehmereigenschaft erfüllt sei noch eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt werde.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 13.06.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2000
aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin ab 01.06.1998 als nicht erwerbsmäßig
tätige Pflegeperson der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung
unterliegt, ohne dass der Wohnsitz in Belgien dem entgegensteht.
Die Beklagte und die Beigeladenen beantragen,
die Klage abzuweisen.
II.
Die dem Gerichtshof gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft (EGV) zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtsfragen zur Anwendung
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des Gemeinschaftsrechts sind zweifelhaft und entscheidungserheblich. Allein nach den
Regelungen des deutschen Sozialversicherungsrechts steht der Klägerin der geltend
gemachte Anspruch nicht zu. Er scheitert daran, dass die Klägerin weder über einen
Wohnsitz noch über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB verfügt,
sondern in Belgien wohnt.
Vorauszuschicken ist, dass Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens zwar
grundsätzlich die Frage der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung
gemäß § 3 S. 1 Nr. 1 a SGB VI ist. Diese Vorschrift unterwirft Personen in der Zeit, in der
sie einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 SGB XI nicht erwerbsmäßig wenigstens 14
Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen (nicht erwerbsmäßig tätige
Pflegepersonen) der Rentenversicherungspflicht, wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf
Leistungen aus der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung hat. Bei dieser
Vorschrift handelt es sich jedoch um eine die Pflegeperson ausschließlich begünstigende
Vorschrift, mithin letztlich um eine Leistung der Pflegeversicherung. Pflegepersonen
werden im zweiten Kapitel des SGB XI unter der Überschrift "Leistungsberechtigter
Personenkreis" durch § 19 SGB XI definiert. Hiernach sind Pflegepersonen Personen, die
nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 in seiner häuslichen
Umgebung pflegen. Die Rentenversicherung dieser Personen wird in § 28 Abs. 1 Nr. 10
SGB XI zu den Leistungsarten der Pflegeversicherung gezählt. Die Entrichtung von
Beiträgen richtet sich nach § 44 SGB XI. Hiernach entrichten die Pflegekassen und die
privaten Versicherungsunternehmen, bei denen eine private Pflege-Pflichtversicherung
durchgeführt wird sowie die sonstigen in § 170 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI genannten Stellen zur
Verbesserung der sozialen Sicherung der Pflegepersonen im Sinne des § 19 Beiträge an
den zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, wenn die Pflegeperson
regelmäßig nicht mehr als 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Näheres regeln gemäß
§ 44 Abs. 1 S. 2 SGB XI die §§ 13, 141, 166 und 170 SGB VI. Die Beitragszahlung zu
Gunsten der Pflegeperson eines auch privat gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit
versicherten Beamten erfolgt in der Weise, dass gemäß § 170 Abs. 1 Nr. 6 c SGB VI die
Beiträge von der Festsetzungsstelle für die Beihilfe oder vom Dienstherrn und dem privaten
Versicherungsunternehmen anteilig gezahlt werden. Die der Beitragsbemessung
zugrundeliegenden beitragspflichtigen Einnahmen richten sich gemäß § 166 Abs. 2 SGB
VI nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit und einem Prozentsatz der Bezugsgröße (vgl.
hierzu § 18 SGB IV).
Die Klägerin erfüllt ohne Berücksichtigung ihres Wohnsitzes alle Voraussetzungen dieser
Vorschriften. Der von ihr gepflegte Pflegebedürftige ist pflegebedürftig im Sinne des § 14
SGB XI. Die Klägerin pflegt den Pflegebedürftigen wenigstens 14 Stunden (hier: 18
Stunden) wöchentlich. Der Pflegebedürftige erhält Leistungen aus einer privaten
Pflegeversicherung, denn die Beigeladene zu 1) zahlt für ihn Leistungen wegen seiner
Pflegebedürftigkeit. Die Klägerin ist auch nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson. Sie
erhält für ihre Tätigkeit 800,00 DM monatlich aus dem dem Pflegebedürftigen zur
Verfügung gestellten Pflegegeld. Dieses bleibt gemäß § 3 S. 2 SGB VI bei der Prüfung, ob
eine Pflegeperson als erwerbsmäßig oder nicht erwerbsmäßig tätig wird, unberücksichtigt.
Nicht einschlägig ist auch der Ausschlusstatbestand des § 3 S. 3 SGB VI. Hiernach sind
Pflegepersonen dann nicht nach S. 1 Nr. 1 a versicherungspflichtig, wenn sie daneben
regelmäßig mehr als 30 Stunden wöchentlich beschäftigt oder selbstständig tätig sind. Dies
ist bei der Klägerin nicht der Fall.
Diese grundsätzlichen Voraussetzungen für die Bejahung eines Versicherungsanspruches
zu Gunsten der Klägerin sind zwischen den Beteiligten unstreitig.
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Nach den Regeln des deutschen Sozialversicherungsrechts sind die Beklagte und die
Beigeladene zu Recht der Meinung, dass der Wohnsitz der Klägerin in Belgien der
Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen zu ihren Gunsten entgegensteht. Nach § 3
SGB VI gelten die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die
Versicherungsberechtigung, - nur soweit sie eine Beschäftigung oder selbständige
Tätigkeit voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich des SGB IV beschäftigt
oder selbstständig tätig sind (Nr. 1), - andernfalls, also soweit sie eine Beschäftigung oder
selbstständige Tätigkeit nicht voraussetzen, nur für die Personen, die ihren Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB IV haben (Nr.2).
Die Tätigkeit als Pflegeperson gilt nach deutschem Sozialversicherungsrecht nicht als
Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit, so dass die Beklagte die Vorschriften des
deutschen Sozialversicherungsrechts zutreffend angewandt hat.
Nach Auffassung der Kammer bestehen jedoch Zweifel, ob diese Rechtslage mit
Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Wenn die im Tenor des Beschlusses genannten Fragen
bejaht werden müssten, wäre dies nicht der Fall.
Zu Frage 1):
Der Kläger unterliegt als pensionierter Beamter nicht der Versicherungspflicht in der
sozialen Pflegeversicherung gemäß §§ 20, 21 SGB XI. Er unterliegt vielmehr der Regelung
des § 23 SGB XI. Hiernach sind Personen, die gegen das Risiko Krankheit bei einem
privaten Krankenversicherungsunternehmen mit Anspruch auf allgemeine
Krankenhausleistungen versichert sind, verpflichtet, zur Absicherung des Risikos der
Pflegebedürftigkeit einen Versicherungsvertrag abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Der
Vertrag muss ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht für sie selbst und ihre
Angehörigen oder Lebenspartner, für die in der sozialen Pflegeversicherung nach § 25 eine
Familienversicherung bestünde, Vertragsleistungen vorsehen, die nach Art und Umfang
den Leistungen des 4. Kapitels des SGB XI gleichwertig sind. Dabei tritt an die Stelle der
Sachleistungen eine der Höhe nach gleiche Kostenerstattung.
Nähere Regelungen für die private Pflegeversicherung finden sich in § 110 SGB XI. Zu
erwähnen ist insbesondere, dass die privaten Krankenversicherungsunternehmen durch
diese Vorschrift verpflichtet werden, mit allen in § 23 Abs. 1 genannten
versicherungspflichtigen Personen auf Antrag einen Versicherungsvertrag abzuschließen,
der einen Versicherungsschutz im gesetzlich festgelegten Umfang vorsieht
(Kontrahierungszwang). Diese Verträge dürfen keinen Ausschluss von Vorerkrankungen
der Versicherten, keinen Ausschluss bereits pflegebedürftiger Personen sowie keine
längeren Wartezeiten als in der sozialen Pflegeversicherung vorsehen. Die Prämien dürfen
nicht nach Geschlecht und Gesundheitszustand der Versicherten gestaffelt werden, die
Prämienhöhe darf den Höchstbeitrag der sozialen Pflegeversicherung nicht übersteigen.
Die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder muss unter denselben Voraussetzungen wie
in der sozialen Pflegeversicherung festgelegt werden. Für Ehegatten oder Lebenspartner
gilt eine Prämienhöchstgrenze in Höhe von 150 % des Höchstbeitrages der sozialen
Pflegeversicherung.
Gemäß § 23 Abs. 6 SGB VI ist das private Versicherungsunternehmen verpflichtet, für die
Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie für die Zuordnung einer Pflegestufe dieselben
Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen.
Da im vorliegenden Fall der Pflegebedürftige nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder
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Grundsätzen bei Pflegebedürftigkeit auch Anspruch auf Beihilfe hat, ist er gemäß § 23 Abs.
3 SGB VI lediglich zum Abschluss einer entsprechenden anteiligen beihilfekonformen
Versicherung im Sinne des § 23 Abs. 1 verpflichtet. Diese beihilfekonforme Versicherung
ist gemäß § 23 Abs. 3 S. 2 SGB XI so auszugestalten, dass ihre Vertragsleistungen
zusammen mit den Beihilfeleistungen den gesetzlich vorgeschriebenen
Versicherungsschutz gewährleisten.
Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 05.03.1998 - Rs C - 160/96 - Molenaar - (Slg. 1998, I 880
f) entschieden, dass das System der deutschen Pflegeversicherung dem
Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unterfällt. Nach dem dieser
Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt waren die dortigen Kläger gegen das
Risiko der Pflegebedürftigkeit gesetzlich in der sozialen Pflegeversicherung versichert.
Nach Auffassung der Kammer dürfte sich aus der genannten Entscheidung des
Gerichtshofs ergeben, dass auch das hier betroffene private Pflegeversicherungssystem
dem Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unterfällt. Denn wie aus den
genannten Vorschriften ersichtlich ist, hat der deutsche Gesetzgeber das private
Pflegeversicherungssystem im Ergebnis der gesetzlichen sozialen Pflegeversicherung
annähernd gleichgestellt. Zu erwähnen sind hierbei insbesondere der
Kontrahierungszwang, die fehlende Befugnis zum Ausschluss von Vorerkrankungen oder
bereits pflegebedürftiger Personen, die Verpflichtung, den Versicherungsvertrag
leistungsrechtlich den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gleichzustellen sowie
die Verpflichtung, zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit dieselben Maßstäbe wie in der
sozialen Pflegeversicherung anzulegen. Damit erfüllt auch die private Pflegeversicherung
die Voraussetzungen, die der Gerichtshof in der genannten Entscheidung für die
Einbeziehung eines Versicherungssystems in den Geltungsbereich der Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 aufgestellt hat. Der rein rechtstechnische Unterschied dahingehend, dass
Grundlage des Versicherungsschutzes nicht das Gesetz, sondern ein Versicherungsvertrag
ist, dürfte unbeachtlich sein.
Zu Frage 2):
Der Gerichtshof hat in der genannten Entscheidung festgestellt, dass die Leistungen der
Pflegeversicherung im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der
Krankenversicherung darstellen, um den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen
der Pflegedürftigen zu verbessern und diese daher ungeachtet gewisser Besonderheiten
"Leistungen bei Krankheit" im Sinne von Art. 4 I lit. a Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 sind.
Für das Pflegegeld hat der Gerichtshof entschieden, dass dieses sich als eine finanzielle
Unterstützung darstellt, die es ermöglicht, den Lebensstandard der Pflegebedürftigen
insgesamt durch einen Ausgleich der durch ihren Zustand verursachten Mehrkosten zu
verbessern und daher eine solche Leistung zu den in den Art. 19 I lit. b, 25 I lit. b und 28 I lit.
b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 genannten Geldleistungen der Krankenversicherung
zählt. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Vorlagefragen hat der Gerichtshof
dahingehend beantwortet, dass es gegen diese Vorschriften verstößt, den Anspruch auf
eine Leistung wie das Pflegegeld davon abhängig zu machen, dass der Versicherte in dem
Staat wohnt, in dem er der Versicherung angeschlossen ist.
Nach Auffassung der Kammer könnten die hier aufgestellten Grundsätze jedenfalls analog
auf die vorliegende Fallgestaltung übertragen werden:
Die Leistung "Rentenversicherung der Pflegeperson" hat eine Doppelnatur. Sie kommt
einerseits der Pflegeperson zugute, die - ohne eigene Beitragsleistung -
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Pflichtbeitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet erhält. Diese
Pflichtbeitragszeiten wirken sich nicht nur bei der Alterssicherung günstig aus, sondern
führen zu einer Berücksichtigung bei allen Rentenarten, also auch bei Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit und wegen Todes und darüber hinaus auch beim Anspruch
auf Reha-Maßnahmen. Die Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung ist
unabhängig davon, ob ein Versicherungsverhältnis bereits begründet war.
Pflichtbeitragszeiten aus der Pflegetätigkeit können für sich allein bereits Ansprüche aus
der gesetzlichen Rentenversicherung begründen.
Andererseits handelt es sich auch um eine Leistung, die dem Pflegebedürftigen zugute
kommt. Denn dieser wird regelmäßig leichter eine qualifizierte Pflegekraft finden, wenn er
dieser eine gesetzliche Rentenversicherung aufgrund der Pflegetätigkeit garantieren kann.
Zudem entbindet die Rentenversicherung auf Kosten der Pflegekassen sowie privaten
Versicherungsunternehmen und gegebenenfalls des Trägers der Beihilfe den
Pflegebedürftigen davon, seinerseits - eventuell aus den ihm gezahlten Pflegegeld - für die
Altersversorgung der Pflegeperson aufzukommen oder gar die Stellung als Arbeitgeber der
Pflegeperson einzunehmen, was bei einer entsprechenden Vertragsgestaltung möglich
wäre.
Sinn und Zweck der Pflegeversicherung ist gemäß § 1 Abs. 1 SGB XI die soziale
Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Sie hat gemäß § 1 Abs. 4 SGB XI die
Aufgabe, Pflegebedürftigen Hilfe zu leisten, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit
auf solidarische Unterstützung angewiesen sind. Gemäß § 3 SGB XI soll die
Pflegeversicherung mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche und die Pflegebereitschaft
der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange
in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Auch hieraus ergibt sich, dass die Leistung
"soziale Sicherung der Pflegeperson" letztlich eine Leistung zu Gunsten des
Pflegebedürftigen ist.
Diese Leistung ist zwar - anders als das Pflegegeld - keine direkte Geldleistung an den
Pflegebedürftigen, sondern sie wird gemäß § 44 SGB XI in Form der Beitragszahlung an
die gesetzliche Rentenversicherung der Pflegeperson erbracht. Dies dürfte aber nach
Auffassung der Kammer nicht die analoge Anwendung der für das Pflegegeld in der
genannten Entscheidung aufgestellten Grundsätze hindern. Letztlich ist es nur eine
technische Frage, ob das Pflegegeld um einen zweckgebundenen Zuschlag für die soziale
Absicherung der Pflegeperson erhöht wird oder ob die Träger der Pflegeversicherung eine
direkte Beitragszahlung zu Gunsten der gesetzlichen Rentenversicherung der
Pflegeperson vornehmen. In diesem Zusammenhang verweist die Kammer auf das Urteil
des Gerichtshofs vom 06.07.2000 in der Rechtssache C - 73/99 - Movrin - (Slg. 2000, I
5638), in der der Gerichtshof festgestellt hat, dass der Umstand, dass der Zuschuss zur
Krankenversicherung der Rentner unmittelbar an den Krankenversicherungsträger und
nicht an den in der fraglichen Krankenversicherung pflichtversicherten Rentenempfänger
geleistet wird, nichts an der entscheidenden Feststellung ändert, dass diese Zahlungen zu
Gunsten des Rentenempfängers geleistet werden und als Zuschlag zu seiner Rente
wirken. Hieraus ergibt sich nach Auffassung der Kammer, dass auch der Gerichtshof
Leistungen an Dritte zu Gunsten des Berechtigten als möglich ansieht.
Schließlich dürfte auch die Tatsache, dass vorliegend die Zahlung von
Versicherungsbeiträgen streitig ist, nichts daran ändern, dass die in der genannten
Entscheidung für das Pflegegeld aufgestellten Grundsätze anwendbar sind. Denn nach
Auffassung der Kammer ist es, wenn eine Geldleistung direkt in den Staat des Wohnortes
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gezahlt werden kann, erst Recht geboten, eine Zahlung von Versicherungsbeiträgen an
einen Rentenversicherungsträger im Geltungsbereich des zuständigen Staates
zuzulassen, wenn lediglich die Pflegeperson im Ausland wohnt.
Zu Frage 3):
Die Kammer hat nicht nur Zweifel, ob die Ablehnung der Versicherungspflicht aufgrund des
Wohnortes der Klägerin in Belgien aus Sicht des Pflegebedürftigen mit dem
Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, sondern auch, ob dies aus Sicht der Pflegeperson der
Fall ist.
Vorauszuschicken ist, dass nach Auffassung der Kammer einer Entscheidung des
Gerichtshofes nicht entgegenstehen dürfte, dass es nach der Judikatur des Gerichtshofs
(Rs 110/79 - Coonan -, Slg. 1980, 1445 ff) Sache jedes Mitgliedstaates ist, durch den Erlass
von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem
System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems
beitreten kann oder muss. Denn vorliegend geht es nur rechtstechnisch um eine Frage der
Versicherungspflicht, während es sich - wie dargelegt - der Sache nach um die Zubilligung
eines Leistungsanspruchs zugunsten der Pflegeperson handelt.
Die nach dem Wohnort der Klägerin vorgenommene Differenzierung könnte gegen Art. 39
Abs. 2 EGV verstoßen. Hiernach umfasst die durch Art. 39 Abs. 1 EGV gewährleistete
Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit
beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedsstaaten in
Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
Zu den Arbeitsbedingungen im Sinne dieser Vorschrift gehören auch soziale
Vergünstigungen: Insgesamt wird der Kreis der sozialen Vergünstigungen durch die
Rechtsprechung des Gerichtshofes sehr weit gezogen. Die Definition der sozialen
Vergünstigung ist eine Leistung "die den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen
ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnsitzes im Inland
gewährt wird und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines
anderen Mitgliedstaates sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der
Gemeinschaft zu erleichtern (ständige Rechtssprechung des Gerichtshofs, vergl. EuGH Rs
207/78 - Even -, Slg. 1979, 2019; Rs c -85/96 - Sala -, Slg. 1998, I 2691 f). Wie dargelegt,
handelt es sich bei der Versicherung von Pflegepersonen in der gesetzlichen
Rentenversicherung um eine Leistung zur sozialen Sicherung der Pflegeperson (§§ 28
Abs. 1 Nr. 10, 44 Abs. 1 S. 1 SGB XI).
Artikel 39 EGV verbietet nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur
offensichtliche Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle
verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer
Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. Diskriminierend
ist daher die Anwendung scheinbar neutraler Kriterien, Regelungen oder Praktiken, die
sich tatsächlich auf ausländische Arbeitnehmer nachteilig auswirken. Eine typische
Anknüpfung, die zu versteckten Diskriminierungen führt, ist daher das Abstellen auf den
Wohnsitz, was sich insbesondere bei Grenzgängern nachteilig auswirken kann (vgl. hierzu
insbesondere: EuGH Rs C - 57/96 - Meints -, Slg. 1997, I - 6689).
Allerdings ist - wie bereits dargelegt - festzuhalten, dass die Klägerin nach den Vorschriften
des deutschen Sozialgesetzbuches nicht als Arbeitnehmerin anzusehen ist. Dies ist gerade
Grund für deren Anspruch auf soziale Sicherung. Pflegepersonen sind nämlich in der
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Regel Familienangehörige, aber auch Nachbarn, Freunde und sonstige Helfer, deren
Pflegebereitschaft im häuslichen Bereich gefördert und anerkannt werden soll und deren
oftmals ganzer oder teilweiser Verzicht auf eine eigene Berufstätigkeit sozial abgesichert
werden soll (Bundestagsdrucksache 12/5262 S. 82, 100 ff.). Dies dürfte indes für die
Anwendung von Art. 39 EGV unbeachtlich sein. Denn in den persönlichen
Anwendungsbereich dieser Vorschrift fallen Arbeitnehmer im Sinne des
Gemeinschaftsrechts (EuGH, Rs 75/63 - Unger -, Slg. 1964, 379 f). Dieser Begriff wird vom
Gerichtshof weit ausgelegt. Maßgeblich ist zwar eine tatsächliche und echte
Erwerbstätigkeit, jedoch darf kein Mindestumfang festgelegt werden, so dass selbst eine
nicht existenzsichernde Teilzeitbeschäftigung ausreicht (vergl. EuGH, Rs 53/81 - Levin -,
Slg. 1982, 1035 und Rs 139/85 - Kempf -, Slg. 1986, 1741).
Die Klägerin könnte unter diesen weiten gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff
fallen. Denn es ist nicht zu verkennen, dass ihre Pflegetätigkeit auch wesentliche
Gemeinsamkeiten mit der Tätigkeit von Arbeitnehmern aufweist. Die Klägerin erhält für ihre
Tätigkeit einen Betrag von etwa 400,00 EUR monatlich, was einen nicht unerheblichen
Beitrag zu ihrem Familieneinkommen darstellen dürfte und in wirtschaftlicher Hinsicht einer
nicht existenzsichernden Teilzeitbeschäftigung gleichkommt. Auch arbeitet die Klägerin
lediglich für einen Auftraggeber - den Pflegebedürftigen - und übt daneben keine weiteren
Pflegetätigkeiten oder sonstige Beschäftigungen aus. Auch nach deutschem
Sozialversicherungsrecht führt die Tatsache allein, dass die betroffene Person einer
Pflegetätigkeit nachgeht, nicht zur Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft. Vielmehr ist
die Abgrenzung zwischen erwerbsmäßiger Pflegetätigkeit im Rahmen eines
Beschäftigungsverhältnisses oder einer selbstständigen Tätigkeit einerseits und ihren
amtlichen Pflegetätigkeiten mit finanzieller Anerkennung andererseits unter
Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. Diese vom nationalen
Versicherungsrecht geprägte Abgrenzung könnte nach Auffassung der Kammer
gemeinschaftsrechtlich unbeachtlich sein.
Sofern die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin im Sinne des Art. 39 EGV bejaht würde,
könnte sie auch als eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaates im Lohn- oder
Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, im Sinne des Art. 13 Abs. 2 a Verordnung (EWG) 1408/71
anzusehen sein, mit der Folge, dass auch aus diesem Gesichtspunkt der ausländische
Wohnsitz einem Anspruch auf Rentenversicherung nicht entgegensteht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.