Urteil des SozG Aachen vom 10.06.2008

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Sozialgericht Aachen, S 13 KR 52/07
Datum:
10.06.2008
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 KR 52/07
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die
Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über einen Anspruch über Versorgung mit einem Rollstuhl-
Hand-Bike (Speedy-Bike) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung.
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Der am 00.00.1963 geborene Kläger lebt seit 1992 in Deutschland und hat seit 1998 die
deutsche Staatsangehörigkeit. Er ist aufgrund einer 1987 erlittenen Schussverletzung
ab dem Segment Th 4 querschnittsgelähmt. Er ist u.a. mit einem Greifreifenrollstuhl
(Aktivrollstuhl Sopur Easy 300 der Firma MEYRA) versorgt. Er ist als Schwerbehinderter
anerkannt nach einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen G, aG, H,
B. Bis 30.04.2004 war er Mitglied der Deutschen Angestellenkrankenkasse (DAK); seit
01.05.2004 ist er Mitglied der Beklagten. Einen ersten Antrag auf Versorgung mit einem
Speedy-Bike hatte die DAK 2003/2004 abgelehnt. In einem dagegen angestrengten
sozialgerichtlichen Verfahren (SG Aachen - S 6 KR 46/04) hatte der Kläger am
28.04.2006 die Klage zurückgenommen.
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Am 17.07.2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit einem
Speedy-Bike. Er legte hierzu eine entsprechende Hilfsmittelverordnung der Internisten
T. vom 22.06.2006 und einen Kostenvoranschlag des Sanitätshaus K. vom 13.07.2006
über 3.047,96 EUR vor. In einer weiteren Bescheinigung vom 19.09.2006 teilte der
Internist L. mit, der Kläger sei immobil und auf einen Rollstuhl angewiesen; die oberen
Extremitäten könnten bewegt werden; zur Erhaltung und Förderung der Restmobilität
und zur Vorbeugung von Folgeerkrankungen sei das Speedy-Bike verordnet worden.
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Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 19.10.2006 den
Hilfsmittelantrag unter Hinweis auf die fehlende medizinische Notwendigkeit für eine
Versorgung mit dem Speedy-Bike ab.
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Dagegen legte der Kläger am 14.11.2006 Widerspruch ein. Er machte geltend, das
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Speedy-Bike würde es ihm ermöglichen, sich im außerhäuslichen Nahbereich
selbstständig fortzubewegen; Dinge des alltäglichen Lebens wie Einkäufe, Arzt- und
Apothekenbesuche, Behördengänge sowie die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
und die Pflege sozialer Kontakte würden ihm damit ermöglicht.
In einer weiteren von der Beklagten eingeholten MDK-Stellungnahme stellte Dr. K. fest,
die Mobilität des Klägers sei mit dem vorhandenen Rollstuhl ausreichend gesichert;
eine sozialmedizinische Indikation für das Speedy-Bike bestehe nicht. Gestützt hierauf
wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20.06.2007
zurück. Ergänzend wies sie darauf hin, dass das Bundessozialgericht (BSG) in 2
Urteilen (B 3 KR 8/98 R und B 3 KR 29/99 R) festgestellt habe, dass ein Speedy-Bike
bei Erwachsenen keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei.
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Dagegen hat der Kläger am 02.07.2007 Klage erhoben. Er vertritt die Auffassung, das
Speedy-Bike sei als Hilfsmittel zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich. Soweit
die Beklagte ihre ablehnende Auffassung auf die Rechtsprechung des BSG stütze,
lasse ihre Entscheidung die auch vom BSG geforderte Einzelfallprüfung vermissen.
Durch den Aufbau und die Funktionsweise des Speedy-Bikes sei für den Rollstuhlfahrer
80 % weniger Kraftaufwendung erforderlich um sich fortzubewegen.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.10.2006 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 20.06.2007 zu verurteilen, ihn mit einem Rollstuhl-Hand-
Bike (Speedy-Bike) zu versorgen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung.
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Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts eine Auskunft des
Sanitätshaus K. und einen Befundbericht des Hausarztes L. eingeholt. Wegen des
Ergebnisses wird auf die Auskunft vom 15.11.2007 und den Befundbericht vom
23.12.2007 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten und die
Gerichtsakte S 6 KR 46/04 (SG Aachen), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat
zurecht die Versorgung des Klägers mit einem Speedy-Bike als Hilfsmittel der
gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt.
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Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen,
Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall
erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel
nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder
nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Zwar ist ein Rollstuhl-Hand-Bike (auch:
Rollstuhl-Bike, "Rolli-Bike" oder "Handy-Bike" oder "Speedy-Bike" genannt), wie es der
Kläger begehrt, kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil es
speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert und nur von ihnen
eingesetzt wird (BSG, Urteile vom 16.09.1999 - B 3 KR 13/98 R und B 3 KR 2/99 R;
Urteil vom 10.10.2000 - B 3 KR 29/99 R). Ein solches Hilfsmittel ist auch nicht durch die
zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der
gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen. Dem Anspruch des Klägers auf ein
Speedy-Bike steht jedoch entgegen, dass dieses nicht "erforderlich" ist, um den Erfolg
der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen.
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Bei dem Rollstuhl-Bike handelt es sich um eine Handkurbel in Brusthöhe mit Kette oder
Kupplungsgestänge zur Kraftübertragung auf die Räder, wodurch ein effektiverer Antrieb
als mit den Greifreifen möglich ist. Die Kammer verkennt nicht, dass ein Speedy-Bike
der Förderung der Mobilisation und Motivation dient, einen Trainingseffekt hat und
dadurch u.a. der Besserung einer reaktiven Depression dienen kann, wie der Hausarzt
L. dies zuletzt im Befundbericht vom 23.12.2007 mitgeteilt hat. "Um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern" (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1, Erste Alternative SGB V), ist
das Speedy-Bike jedoch nicht erforderlich, weil hierzu weniger aufwändigere
wirtschaftlichere (vgl. § 12 Abs. 1 SGB V) Therapiemaßnahmen zur Verfügung stehen.
In diesem Zusammenhang hat das BSG jedoch mehrfach festgestellt, dass regelmäßige
Krankengymnastik nicht nur ausreicht, sondern sogar gezielter und vielseitiger die
angestrebten Verbesserungen der körperlichen Verfassung erreichen könne,
einschließlich der Stärkung von Muskulatur, Herz-Kreislauf-System-, Lungenfunktion,
Körperkoordination und Balancegefühl (vgl. BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02
R; Beschluss vom 27.07.2006 - B 3 KR 11/06 B).
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf das Speedy-Bike, um "einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen". Dieser Zweck eines
von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht,
dass nicht nur die Behinderung selbst, sondern auch sämtliche direkten und indirekten
Folgen einer Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen
Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst
weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich
der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die
Anforderung des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche
oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen
kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (BSG, Urteil vom
16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 32). Bei einem unmittelbar auf den
Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmittel, z.B. einem
künstlichen Körperglied, ist ohne Weiteres anzunehmen, dass eine medizinische
Rehabilitation vorliegt. Hingegen werden nur mittelbar oder teilweise die
Organfunktionen ersetzende Mittel lediglich dann als Hilfsmittel im Sinne der
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Krankenver-sicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht
nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im
gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigen oder mildern und damit ein
"Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen (BSG a.a.O. mit weiteren
Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu derartigen
Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen,
Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare
Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen
körperlichen und geistigen Freiraums, die auf die Aufnahme von Informationen, die
Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen
Grundwissens (Schulwissens) umfassen. Auch das Grundbedürfnis der Erschließung
eines "gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines
Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen
Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden
verstanden (BSG, a.a.O.). Soweit der Kläger das Speedy-Bike zum Zurücklegen
längerer Wegstrecken an der frischen Luft, vergleichbar einem Radfahrer, nutzen will,
gehört dies nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens und führt daher
ebenfalls nicht zu einem Anspruch eines Behinderten auf ein Hilfsmittel. Das Rollstuhl-
Bike beschränkt sich dann auf eine bloße Freizeitbetätigung, die nicht zu den
Grundbedürfnissen gehört (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R).
Soweit die erkennende Kammer im Urteil vom 24.10.2006 einem erwachsenen
behinderten Menschen ein Rollstuhl-Hand-Bike zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung zugesprochen hat, steht dies nicht in Widerspruch zu der
vorliegenden Entscheidung. Die Kammer hat sich auch in dieser Entscheidung der
dargelegten Rechtsprechung des BSG grundsätzlich angeschlossen. Sie hat jedoch
betont, dass die Leistungspflicht der Krankenkasse nur dann ausgeschlossen ist, wenn
das Hilfsmittel nicht erforderlich ist. Die Erforderlichkeit ist jeweils im Einzelfall zu
prüfen. An dieser Auffassung hält die Kammer fest. Während die Erforderlichkeit im Fall
des Klägers, über den im Urteil vom 24.10.2006 entschieden worden ist, zu bejahen
war, ist sie im vorliegenden Fall zu verneinen. Anders nämlich als in jenem Verfahren ist
der Kläger hier in der Lage, sich den Nahbereich seiner Wohnung selbständig mittels
seines Greifreifenrollstuhls zu erschließen. Der Internist Kusiek hat im Befundbericht
vom 23.12.2007 ausdrücklich die Frage, ob der Kläger in der Lage ist, sich mittels eines
Greifreifen-Rollstuhls selbstständig fortzubewegen, bejaht. In einer ergänzenden
Stellungnahme vom 16.04.2008 hat der Arzt ausgeführt, der Kläger sei in der Lage, sich
durchaus mit einem normalen Greifreifenrollstuhl im Alltag zu bewegen und seinen
Alltag zu gestalten; er sei sicherlich in der Lage, sich in der Wohnung zurecht zu finden
und die Erledigungen des täglichen Lebens zu bewältigen. Von der Richtigkeit dieser
Angaben konnte sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung vom 10.06.2008
überzeugen. Dort war der Kläger mit seinem Greifreifenrollstuhl anwesend und hat
dabei zum Ausdruck gebracht, dass er sich damit im Nahbereich seiner Wohnung
selbstständig bewegen kann. Darauf, dass ihm dies in Einzelsituationen, z.B. bei
Steigungen, nicht oder nur schwer möglich ist, kommt es nicht an. Denn Besonderheiten
des Wohnortes können für die Hilfsmitteleigenschaft bzw. die Erforderlichkeit des
Hilfsmittels nicht maßgeblich sein (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R).
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Schließlich begründet auch die vertragsärztliche Verordnung des Internisten L. vom
22.06.2006 keinen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Speedy-Bike. Eine
solche Verordnung allein bewirkt keinen Leistungsanspruch; sie ist dafür nur eine
"formale" Voraussetzung. Denn gem. §§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V dürfen die
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Krankenkassen unwirtschaftliche Leistungen nicht bewilligen. Nach § 275 Abs. 3 Nr. 1
SGB V können sie nach der Verordnung eines Hilfsmittels durch einen Vertragsarzt eine
Prüfung durch den MDK zu der Frage herbeiführen, ob die Hilfsmittelversorgung
erforderlich ist. Nach § 30 Abs. 8 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte sowie § 16 Abs. 8
Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen, die die Verordnungstätigkeit regeln,
hängt die Abgabe von Hilfsmitteln von der Genehmigung durch die Krankenkasse ab.
Daraus folgt, dass eine Verordnung eines Vertragsarztes noch keine verbindliche
Aussage über den Versorgungsanspruch des Versicherten darstellt, sondern dass der
Anspruch der Entscheidung der Krankenkasse vorbehalten ist (Schleswig-
Holsteinisches LSG, Urteil vom 03.04.2001 - L 1 KR 35/00 - unter Hinweis auf BSG,
Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 27).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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