Urteil des SozG Aachen vom 23.08.2007

SozG Aachen: degenerative veränderung, einwirkung, merkblatt, kausalität, berufskrankheit, belastung, bwk, mrt, unfallversicherung, bekanntmachung

Sozialgericht Aachen, S 9 (14) U 123/05
Datum:
23.08.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 9 (14) U 123/05
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
1
Streitig ist, ob beim Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Ziffer 2108 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BKV) vorliegt.
2
Der 0000 geborene Kläger stand seit April 0000 im Berufsleben und war bei
verschiedenen Arbeitgebern u.a. als Gleiswerker im Schienenbau, als LKW-Fahrer und
als Radladerfahrer beschäftigt, zuletzt vom 17.03.1987 bis 28.02.1999 bei der Firma I.-
Tiefbau GmbH. Mit Ausnahme einer nicht gefährdenden 6-wöchigen Beschäftigung im
Jahre 2000 und einer versicherungsfreien Tätigkeit in der zweiten Jahreshälfte 2003 war
der Kläger danach arbeitslos.
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Orthopäde Dr. L. erstattete eine BK-Verdachtsanzeige am 22.05.2003 wegen
Lendenwirbelsäulenbeschwerden mit Ausstrahlung in das linke Bein nach einer
Tätigkeit als Gleiswerker mit Tragen von Schwellen und Schienen, sowie als LKW- und
(sinngemäß) Radladerfahrer.
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Der behandelnde Orthopäde Dr. S. berichtete über Wirbelsäulenbeschwerden, die nach
Angabe des Klägers 1997 schon seit Jahren bestanden hätten. Hausarzt W. führte
gehäufte Rücken- und Nackenschmerzen an. Beratungsarzt Dr. M. wertete die
vorhandenen medizinischen Unterlagen aus und fand hierin keinen Beleg für eine
bandscheibenbedingte Lendenwirbelsäulenerkrankung, die aber Voraussetzung der
Anerkennung einer BK 2108 wäre. Der technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten
nahm von einer arbeitstechnischen Überprüfung Abstand, da diese wegen der
inhomogenen Beschäftigungen des Klägers "sehr aufwändig" sei.
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Die Beklagte verneinte das Vorliegen einer BK 2108 und einer (im vorliegenden
Verfahren nicht mehr streitigen) BK 2110 (Bescheid vom 08.03.2005,
Widerspruchsbescheid vom 11.10.2005).
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Hiergegen richtet sich die Klage, mit der der Kläger auf ein Attest von Orthopäde Dr. G.
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Bezug nimmt, der den Kläger einmalig am 29.12.2005 untersuchte und eine
altersuntypische, erhebliche degenerative Veränderung insbesondere der
Bandscheiben und Facettenregionen der gesamten Wirbelsäule verbunden mit einem
anhaltenden Schmerzsyndrom attestierte. Die beruflichen Belastungen des Klägers
seien geeignet, diese Symptome nach jahrelanger Einwirkung zu bewirken.
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.03.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 11.10.2005 zu verurteilen, bei dem Kläger das Vorliegen
einer Berufskrankheit nach der Ziff. 2108 der Anlage zur BKV in rentenberechtigendem
Maße festzustellen und entsprechende Leistungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte veranlasste im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens eine MRT-
Untersuchung des Klägers durch Prof. O. (Gutachten vom 07.12.2006). Ihr technischer
Arbeitsdienst nahm nach erneuter Überprüfung für die Zeit von 1955 bis 1987 eine
Lebensbelastungsdosis von 22,37 x 106 Nh an. Damit sei der Richtwert für ein erhöhtes
Erkrankungsrisiko von 25 x 106 Nh verfehlt. Hinsichtlich einer BK 2110 seien die
arbeitstechnischen Voraussetzungen ebenfalls nicht gegeben, da die
Gesamtrichtwertdosis von 1963 bis 1999 statt erforderlicher 1450 (m/s²)² nur 1132
(m/s²)² betrage. Bezogen auf März 1979 lägen die Dosiswerte noch darunter.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von
Dr. O. (Gutachten vom 25.05.2006) mit ergänzenden Stellungnahmen vom 12.04.2007
und 07.06.2007. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die vorstehend
genannten Gutachten und Stellungnahmen verwiesen. Auf das Gutachten von Prof. O.
wird Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Bescheide vom 08.03.2005 und 11.10.2005
sind im Ergebnis rechtmäßig. Beim Kläger fehlt es an den medizinischen
Voraussetzungen einer BK 2108.
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Nach § 56 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Rente, wenn ihre
Erwerbsfähigkeit infolge einer BK (§ 7 Abs. 1 SGB VII) über die 26. Woche nach dem
Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Berufskrankheiten
(BKen) sind nach § 9 Abs. 1 SGB VII solche Krankheiten, welche die Bundesregierung
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet hat und die
Versicherte infolge einer Tätigkeit erleiden, die Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6
SGB VII begründet.
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Die Feststellung einer BK setzt voraus, dass der Versicherte im Rahmen der
versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen im Sinne der BK ausgesetzt
gewesen ist, die geeignet sind, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu
bewirken. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie
bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich ihrer Art und ihres Ausmaßes
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(sog. arbeitstechnische Voraussetzungen) mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit bewiesen sein (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 84; BSG SozR 3 - 5670
Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung [Handkommentar], §
9 SGB VII Rdnr. 3; Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheiten-Verordnung
[Kommentar], E § 9 SGB VII Rdnr. 14). Der ursächliche Zusammenhang zwischen
versicherter Tätigkeit und Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie
zwischen Einwirkung und Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) beurteilt sich
nach der unfallrechtlichen Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung. Danach
sind nur die Bedingungen (mit-)ursächlich die wegen ihrer besonderen Bedeutung für
den Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSG, a.a.O.). Die
haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität müssen nicht nur möglich,
sondern hinreichend wahrscheinlich sein (BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38; BSG, Urteil
vom 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R - = HVBG INFO 2000, 2811 f.; Mehrtens/Perlebach,
a.a.O., Rdnr. 26). Das ist dann der Fall, wenn unter Zugrundelegung der herrschenden
arbeitsmedizinischen Lehrauffassung mehr für als gegen den Zusammenhang spricht
und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (BSGE 32,
203, 209; 43, 110, 113; BSG SozR 3 - 1300 § 48 Nr. 67).
Die arbeitstechnischen Voraussetzungen hält die Kammer für erfüllt. Gegenstand der
BK 2108 sind "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch
langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben,
die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit
ursächlich waren oder sein können".
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"Langjährig" sind Belastungszeiten ab etwa 10 Berufsjahren (Merkblatt zur BK 2108
gemäß Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom
01.09.2006), eine Voraussetzung, die beim Kläger unproblematisch erfüllt ist. Für die
Feststellung, ob eine arbeitsbedingte Belastung eine besondere Einwirkung im Sinne
der BK 2108 darstellt, ist im Einzelfall die soweit wie möglich standardisierte und
detaillierte Erfassung der Tätigkeitsmerkmale aller Belastungsabschnitte in einer
Arbeitsanamnese und die einheitliche Bewertung der belastenden Faktoren in ihrer
Kombination erforderlich. Zur zusammenfassenden Bewertung der
Wirbelsäulenbelastung können - wie im vorliegenden Falle geschehen - ergänzend
kumulative Dosismodelle unter Beachtung der jeweiligen Verfahrensvoraussetzungen
genutzt werden. Allerdings ist zu beachten, dass die in derartigen Modellen genannten
Werte grundsätzlich keine Grenzwerte sind (Merkblatt, a.a.O.), so dass eine
Unterschreitung des Richtwertes (beim Mainz-Dortmunder-Dosismodell eine
Lebensbelastungsdosis von 25 x 106 Nh) um - wie hier - nur wenig mehr als 10 % kein
Ausschlusskriterium darstellt. Insbesondere ist im vorliegenden Falle zu beachten, dass
neben der BK-2108-typischen Wirbelsäulenbelastung auch Ganzkörperschwingungen
erschwerend einwirken können und dann als zusätzlicher Belastungsfaktor zu
berücksichtigen sind (Merkblatt a.a.O.). Da im vorliegenden Fall auch die
arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2110 (bandscheibenbedingte
Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikaler
Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen) nach den Feststellungen des TAD
der Beklagten zu über 78 % erfüllt sind, ist die Kammer der festen Überzeugung, dass
diese erhebliche zusätzliche Belastung in der Gesamtschau zur Erfüllung der
arbeitstechnischen Voraussetzungen ausreicht. Die Kammer fühlt sich hierin bestätigt
durch das insoweit überzeugende Gutachten von Dr. O., der ebenfalls hinsichtlich der
BK 2108 eine ausreichende Belastung als gegeben ansieht.
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Hingegen vermag die Kammer Dr. O. nicht darin zu folgen, dass auch die medizinischen
Voraussetzungen gegeben seien. Dr. O. diagnostiziert beim Kläger eine Adipositas per
magna (Körpergröße 170 cm, Gewicht 93 kg), eine Osteopenie unklarer Genese,
wiederkehrende Nackenschmerzen ohne radikuläre Symptomatik mit schmerzhafter
Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bei Osteochondrose und begleitender
Unc- und Facettengelenksarthrose HWK 6/7, eine weitgehend fixierte
Brustwirbelsäulenkyphose bei Chondrose mittelgradiger Ausprägung der gesamten
Brustwirbelsäule, sowie wiederkehrende Lendenschmerzen mit schmerzhafter
Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule bei pseudoradikulärer Symptomatik
und Chondrose Grad I LWK 4/5, Grad III LWK 5/S1 sowie spondylotischen
Ausziehungen BWK 12 bis LWK 4.
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Dr. O. nimmt dieses Ergebnis zum Anlass, die Voraussetzungen einer BK 2108 zu
bejahen, weil nach den sog. "Konsensempfehlungen" (Bolm/Audorf, Trauma- und
Berufskrankheit, 2005, 320 ff.) bei dem Kläger eine BK-typische Befundkonstellation
bestehe (B1), denn der Kläger leide an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der
unteren Bandscheibensegmente mit einer Ausprägung im Sinne einer Chondrose Grad
II oder höher und einer sogenannten Begleitspondylose, da nachweislich eine
Brückenbildung im Sinne einer Spondylosis deformans an den Vorderkanten der
Segmente BWK 12 bis LWK 4 bestehe. Es fehle ein Hinweis auf konkurrierende
Faktoren, zumal das Übergewicht des Klägers als solcher nicht anerkannt sei.
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Hierin ist Dr. O. nicht zu folgen, denn nach den von ihm zitierten Konsensempfehlungen
hat die Begleitspondylose keine Indizwirkung im Sinne einer BK 2108, wenn für sie
konkurrierende Ursachen in Frage kommen. Dies ist aber hier der Fall, denn nach dem
radiologischen Gutachten von Prof. O. besteht beim Kläger eine sog. ideopatische
Skeletthyperostose (M.Forestier; gehäuft vergesellschaftet mit Diabetes Erkrankungen).
Nach dem radiologischen Bild ist nach den die Kammer überzeugenden,
urkundsbeweislich verwerteten Ausführungen von Prof. O. in seinem durch die Beklagte
eingeholten Gutachten die Bogenbildung an der unteren Brust- und oberen
Lendenwirbelsäule durch diese Erkrankung verursacht. Dann liegt aber entsprechend
den von Dr. O. zitierten Konsensempfehlungen eine monosegmentale Chondrose (da
nur in einem Segment Grad II oder höher) ohne Begleitspondylose vor, die als Indiz
gegen das Vorliegen einer BK 2108 gewertet wird. Gegen einen solchen
Zusammenhang spricht insoweit auch der parallel vorhandene, jedenfalls nicht
schwächer als im Bereich der Lendenwirbelsäule ausgeprägte
Halswirbelsäulenschaden, der ohne typische halswirbelschädigende Belastungen
entstanden ist (Bolm/Audorf u.a. a.a.O.).
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Dr. O. hat diese stichhaltigen Einwände in seinen ergänzenden Stellungnahmen nicht
zu entkräften vermocht, da er auf die Konkurrenzursache überhaupt nicht eingegangen
ist. Da schon aus diesem Grunde eine BK 2108 nicht angenommen werden kann, kann
offen bleiben, ob mit Prof. O. davon auszugehen ist, dass Dr. O. bei der Bestimmung der
Bandscheibenhöhe eine - von diesem bestrittene - Fehlmessung unterlaufen ist, die in
dem Sinne zu interpretieren wäre, als dass beim Kläger eine Chondrose der unteren
Lendenwirbelsäule überhaupt nicht vorliegt. Da das MRT insoweit die besseren
Erkenntnismöglichkeiten bietet, neigt die Kammer allerdings dazu, auch insoweit dem
radiologischen Gutachten zu folgen.
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